Was bisher geschah: Tom putzt den Kanal, Abschnitt für Abschnitt, gründlich und säuberlich. Er arbeitet im Boot und schläft im Bus. Nur in der Nähe des Dorfes macht er Halt und übernachtet in einer verlassenen Villa, die er von früher kennt. Er ist allein, nur in der Hosentasche sein himmlischer Fund: Eine Flügellizenz.

Tom dachte viel an die Villa, für ein paar Tage. So wurde er schweigsam, still. Er schlief mit farbigen Erinnerungen ein, die ihn am Tag darauf begleiteten, sich je nach Wetter anreicherten, verdichteten, entwickelten, entschwanden. Vermehrt schaute er in den Himmel, auch nachts durch ein Busfenster. Erstmalig betrachtete er eingehend den Mond.

Die Wiederholung nun auch der einmal besonderen Aktivitäten: erneutes Auffüllen des Trinkwassertanks, des Vorrats an Essen. Ein zweites Loch im Pullover zu nähen, im Kanal noch ein gebrochener Fahrradrahmen. Weitere Schleusen. Weitere Pausen, die er damit verbrachte, die Putzgeräte zu flicken und zu putzen. Er knotete Schnüre in die Netze, wo die Maschen gerissen waren, umwickelte Griffe neu mit Baumwollband, wachste die Stiefel, wischte das Boot, schüttete den Sand aus den Müllkisten, prüfte die Seile und rieb den Schmutz von den Sonden.

Der Mond nahm zu und ab und kreiste, er bestimmte inzwischen das Zeitgefühl. Tom hatte den Einfluss auf seine Rhythmen nicht sogleich bemerkt. Allmählich begann er, auf den Mond zu achten, nach ihm Ausschau zu halten, sich auf ihn zu verlassen, ein ferner Begleiter. Regelmässig spiegelte der Mond sich im Dunkel des Wassers. Die Spiegelung durchschwamm den Kanal und entfernte sich. Tom schaute dem Mond am Himmel nach.

Erst spät bemerkte Tom die Mauer, erst am Nachmittag. Er liess den Kescher, den er gerade hatte aus dem Wasser heben wollen, treiben. Da war sie. Es fehlten nun noch wenige, vier, fünf Tage bis ins Innere der Hauptstadt. Tom freute sich – er arbeitete weiter mit Adrenalin. Zuerst vergab er nur wenige Seitenblicke an die Mauer am linken Ufer, später, schon in der sich ankündigenden Dämmerung, blieb er im Boot stehen und musterte sie, schaute an ihr entlang vor und zurück. Der Beton schien wilder als zuletzt mit Efeu bewachsen. Stadtwärts konnte er die Umrisse der Industrie erahnen, zurückschauend liefen der Kanal und die Sträucher ausser Sichtweite. Tom wagte noch kein tatsächliches Lächeln, doch er dachte bereits an das Quartiercafé und an die Auswahl von Getränken, an die sonnige und windige Terasse. Hatte er bei der Müllprüfstelle die Anzahl Müllhaufen gemeldet, und war jemand losgeschickt, sie einzusammeln, würde er ins Café gehen können. Die Stelle, wo der Kanal so unspektakulär in den Fluss kroch, wo Toms Zuständigkeit endete, steigerte ihre Bedeutung jetzt mit jeder Stunde.

Bei einem kurzen Steg, der von der Mauerseite her ins Wasser gebaut war, befestigte Tom das Boot. Er trug das Durcheinander von Scherben, Tüten, Schnipseln, Dosen und all den Dingen, die er auf einen Blick nicht identifizieren konnte, an die er sich mittlerweile kaum erinnern konnte, heraus und lagerte alles auf dem Grasstreifen zwischen Strasse und Mauer. Kurz setzte er sich auf die Planken des Stegs, setzte die Wasserflasche an die Lippen. Er betrachtete die Brechungen des Wassers am Boot und an den gewellten Stahlplatten, die gegen die Uferkante geschraubt waren. Die feinen Linien im dunklen Wasser, die zurückweichende Bewegungen im ansonsten stillen Kanal verrieten.

Nicht weit war er in Richtung des Busses gegangen, als Tom am anderen Ufer, hier grenzte es an einen Wald, jemand ein Zelt aufstellen sah. Es könnte neuen Müll bedeuten, war sein erster mechanisch ausgelöster Gedanke, darauf folgte ein Interesse für die ungewöhnliche Form des Zelts. Er ging etwas langsamer und verfolgte die Fortschritte im Zeltbau, der junge Mann wirkte unerfahren, spannte eine Schnur nicht auf Anhieb im passenden Winkel und lief einige Male rund um das Zelt, in wechselnder Richtung. Tom blieb nun stehen, allenfalls konnte er Hilfe anbieten. Das Zelt behielt seine organische Form, es erinnerte an eine geschlossene Blume oder an einen Kokon und leuchtete hell. Der junge Mann verschwand zwischen den Bäumen, er suchte vielleicht Zweige für ein Feuer. Auch der Zeltstoff fing nun Toms Aufmerksamkeit, er glänzte im faden Licht. Tom dachte an die silberne Kühle des Mondes.

Gerade hatte er sich zum Weitergehen entschieden, als der junge Mann ein Stück kanalaufwärts aus dem Wald heraustrat und, abrupt stehen bleibend, ihn anblickte.Tom wartete. Dann hob er einen Arm und winkte grosszügig. «Wohlan denn, mein Lieber, grüss dich, ich Angler grüsse, wer bist?» Das alles rief er möglichst deutlich hinüber, seine Stimme hatte das Laute lange nicht erprobt.
«Name? Verveine», rief der andere zurück, die Arme hinter den Rücken legend.
Tom lachte. Er erwiderte: «Schön. Ich bewunderte dein Zelt. Guten Abend, gute Nacht.»
Auch die Haare des Mannes glänzten, Tom sah es jetzt. Sie waren im Nacken zusammengebunden und an einer Schläfe rasiert.
«Ich glänze nicht», Tom sagte es leise.

Der Wald verdunkelte sich zusehends, darüber hing gelb und grau der Himmel. Bald würde der andere ihn nicht mehr erkennen können, während er und sein Zelt am Ufer sichtbar schimmerten.
«Grüss dich, auf Wiedersehen», rief Tom.
«Schönes Licht», rief der andere, holte steif die Arme hinter dem Rücken hervor. Tom winkte noch einmal. Der Mann ging auf das Zelt zu.
Im Bus fragte sich Tom, ob er ihm auf dem Weg in die Stadt noch weitere Male begegnen würde.

Längs der Mauer spazierten vereinzelt Menschen, Tom arbeitete nun gesehen. Er hörte sie vorbeigehen, ihre Schritte sich entfernen. Manche grüssten, dann grüsste Tom zurück, schaute knapp aus den Augenwinkeln. Das Mauerufer war sauber, wenngleich vor Trockenheit staubig, sodass er sich auf den Kanal und den anderen Uferstreifen konzentrieren konnte. Hier wechselten Felder und niedrige Wiesen einander ab. Regelmässig standen die Telegraphenmasten, Tom kam zügig voran. Einmal spielte jemand Flöte, sass am Ufer, die Füsse auf die oberste Sprosse einer Leiter gesetzt, die im Kanal versank. Tom summte hinein. Jemand fotografierte am nächsten Tag die Mauer. Alte Leute schwiegen in Gruppen. Neben einer Brücke lagen zwei Mädchen in der Sonne und lasen Comics. Sie beachteten ihn nicht, ihre Haarspangen funkelten. Hinter der Brücke war die Mauer ein langes Stück bemalt in blassen Farben. Manches von dem, was Tom entlang des Kanals begegnet war, sah er hier wieder in allen Jahreszeiten. Dickicht von Bäumen und Sträuchern, kantige Berge und flache Hügel. Wuchtige Wolken. Alleinstehend eine Kiefer und Pappeln in Reihen, gebogen im Wind. Anderes war neu, musste von fernab des Kanals stammen, ein aufgewühlter See, eine Weide mit Pferden, eine ausladende Magnolie in Blüte.
Am Abend fuhr Tom den Bus über die Brücke und parkte unweit am Feldrand, er wollte nicht länger dicht neben der Mauer übernachten, sie konnte in seinen Schlaf hineinragen. Tom holte die letzte Kiste mit Schraubgläsern aus dem Bus und trug sie zum Beifahrersitz. Er ass mit dem Teelöffel. Im Himmel schwebte hellgelb die beleuchtete Etage eines Turms der Stadt.

Im letzten Kanalabschnitt verliess Tom der Ehrgeiz. Er wurde ungenau, müde. Mehr und mehr beobachtete er die Leute zwischen den Häusern und auf den Balkonen, ihre bunten Kleider. Er summte lange Melodien, fischte weniger Müll, es gab auch weniger. Er glaubte, den Fluss schon riechen zu können, ein warmer Geruch, der ihm sehr nah und vertraut war. Zu putzen, wo es recht sauber war, wo eines Tages wohl alles in den Fluss gespült wurde, je nach Wetter, dagegen konnte er nicht anders als sich zu verweigern. Auch der Giftmüll, Tom fürchtete das Gift aus dem Gewerbe, er misstraute den Sonden, die noch nicht alarmierten.

So trieb er spät abends, im Dunkeln, das letzte Stück durch die Stadt, fischte nichts mehr, stand stumm und aufrecht im Boot, er spürte den Wind, der vom Fluss kam, und hörte die Wellen am Boot und an den Ufern, dunkel zeigte sich der abgelegene Stadtteil jenseits des Flusses, und gerade ging schief der Mond auf, orange und halb, und Tom suchte nach dem schimmernden Zelt, nun schnell und mit Wind im Fluss gleitend.

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