wie viele Lücken
kann eine Geschichte haben
bevor sie aufhört
eine Geschichte zu sein?

wo beginnt
Erinnern
wo wechselt
das Heute
in die Farbe
von Gestern?

welche Farbe
tragen die Stunden
des letzten Jahrhunderts?
Sind sie schwarz
wie mondlose Nächte
wie Stempel in Pässen
wie Tinte auf Papier
oder sind sie braun
wie der Dreck
der an Stiefeln
und Uniformen klebt
oder sind sie rot
wie der Feind
wie die Flagge
mit dem Kreuz in der Mitte
deren Nation
im Jahr 1969
ein kleines Buch
an alle Haushalte
der Eidgenossenschaft verschickt
mit dem Titel
Zivilverteidigung
in dem
auf der ersten Seite geschrieben steht:

wir wollen unser Leben, unser Zusammenleben auf unserem Raum so einrichten, wie es uns passt, in einem Land, das auch unseren Kindern Heimat sein wird.

wann wird ein Land
zur Heimat
der Kinder?
Im Kindergarten
während der Lehre
oder erst
wenn sie selbst
Kinder haben könnten?
Sind alle Kinder dieser Welt
heimatlos?

welche Heimat
ist dir die Schweiz gewesen?
welches Kind
dieser Heimat
bist du?

bist du das Kind
des Krieges
oder des Friedens?

bist du das Kind
einer Zeit
die sich verrechnet hat
in der man glaubte
je mehr Bomben
desto mehr Frieden gibt es
das Kind einer Zeit
in der Plus
und Plus
auf einmal Minus ergab
das Kind einer Zeit
deren Rechenweg
für alle
die ihn später zu verstehen versuchen
keinen Sinn mehr ergibt.

bist du das Kind
dem man befahl
zu spielen
sich zu verkleiden
in Uniform
und mit korrektem Haarschnitt
spieltest du
das Bombenspiel
riefst
Atom! Atom!
so laut es ging
um dir dann
helles Pulver
in Gesicht
Nacken
auf Hände
und Arme
zu streuen
um dann
in die Maske
und unter den Helm zu schlüpfen
und weiterzumachen
mit dem Spiel
bis sie dir endlich sagten
du dürftest damit aufhören
ohne zu wissen
ob aus Spiel
jemals Wirklichkeit werden würde.

bist du das Kind
für das Rot
nur eine Farbe
im Regenbogen ist
vor der es sich nicht fürchtet
weil Rot
ist nicht mehr die Farbe
von diesem Feind
von dem dir andere erzählen
nein
Rot
sind heute nur noch
Herzen
Kirschen
und Kaugummis.

bist du das Kind
das durch eine Turnhalle rennt
Brennball spielt
sich duckt
getroffen wird
einen kleinen Heldentod stirbt
bis der Klang der Pausenglocke
es wieder zum Leben erweckt
und es nach draussen rennt
auf den asphaltierten Hof
wo du
mit bunter Kreide
auf Asphalt malst
mit ein paarmal Hüpfen
von der Hölle
in den Himmel kommst
wo du dich ausruhen darfst
weil ein dünner Strich
mit Kreide gemalt
reicht zum Schutz
während
unter deinen Füssen
unter dem Asphalt
ein Raum liegt
dessen Wände
dicker als Kreidestriche
Schutz bieten sollten
vor Brennbällen
ein Himmel
unter Erden
wenn die Welt darüber
zur Hölle wird.

bist du das Kind
das sich abends
wenn es dunkel ist
mit seinen Freund*innen
zum Kiffen bei der Sitzbank trifft
die sich von ihrem gelben Lack
zu häuten beginnt
oben, am Hang
wo du über die Stadt siehst
wo du Rauchzeichen in die Luft pustest
die Zeichen
dass du im Krieg bist
mit deinen Eltern
dieser Welt
auf die du hinabsiehst
von der blätternden Sitzbank
die auf einem Stück Beton steht
wo in anderen Zeiten
in anderen Welten
andere Kinder
durch schmale Gucklöcher
Ausschau hielten
weil man von hier aus
nicht nur die Stadt
die Alpen
und den See sieht
sondern auch
Feinde
und Rauchzeichen
die ihrerseits
von einem Krieg erzählen würden.
Und diese Kinder
hätten auf ihre Funkgeräte getippt
und eine Sirene hätte losgeheult
und die Menschen in der Stadt
wären in Kellereingängen verschwunden
hätten ihren Kopf
unter ihren Armen begraben
und hätten gewartet
auf irgendwas
das beginnen
oder enden würde.
Doch weder das eine
noch das andere
ist jemals eingetroffen
es ist einfach immer weiter gegangen
weil Geschichte
hat keine Anfänge
und keine Enden
hinterlässt nur Spuren
in Beton gegossen
von Efeu bewachsen
mit Sitzbänken verziert
auf denen heute Kinder sitzen
als Deko
deren Spuren in der Luft verschwinden
wie es alle Kinderspuren
früher oder später tun.

bist du das Kind
das seinen Namen
auf der Suche nach Pflastern
im Badezimmerschrank
auf einer weissen Schachtel findet
eine Schachtel
voller Tabletten
die für zehn Jahre
zwischen Nagelscheren
und Halsschmerzensprays herumliegt
um dann
ungeöffnet
weggeschmissen
und durch eine neue Packung
ersetzt zu werden
weil du sie noch nie schlucken musstest
diese Tabletten
die schützen sollen
vor Strahlen
vor Krebs
vor dem
was du nicht verstehst
weil das niemand erklärt
weil da keine Anleitung rumliegt
und so legst du
die Packung zurück in den Schrank
und rennst zurück nach draussen
zum Spielen
zu dem
was Kinder deiner Zeit
eben so machen.

bist du das Kind
das in der Schule sitzt
und mit bunten Stiften
über die Wörter in Büchern streicht
bis das
was wichtig ist
für den Aufsatz
für die Prüfung
zu leuchten beginnt
leuchtet
auch noch Jahrzehnte später
wenn dieses Buch
schon lange niemand mehr aufklappt
leuchtet
mit einer Halbwertszeit
die dein Leben überdauert
leuchtet
bis du
und alles dazwischen verschwindet
leuchtet
weil irgendwer mal entschieden hat
welche Worte
welche Schicksale
Farbe verdienen.

bist du das Kind
das Krieg
nur aus Filmen
Nachrichten
und der Schule kennt?
Bist du das Kind
das nicht weiss
wie das geht
Krieg
und es doch versucht
mit Playmobilfiguren
Plastikrevolvern
oder Videospielen
weil Kinder
egal welcher Zeit
anscheinend
von irgendwo lernen
das muss doch Spass machen
das Töten und Sterben
warum sonst
würden es denn
alle immer wieder tun?

bist du das Kind
dem man versprach
hier werde alles anders
in diesem Land
das zur neuen Heimat werden sollte
könnte
wenn du dich nur bemühst
wenn du’s so machst
wie man das hier eben so macht
so
dieses So
als bestehe Heimat
nur aus diesen beiden Buchstaben
zwischen denen es
keinen Platz gibt
für all die anderen Vokabeln
und Konsonanten
diese Heimat
die sich rühmt
mit Worten
und doch im Grunde
Analphabetin ist.

hat dieses Heimat-Ding
noch immer
dieselbe Farbe
wie früher
oder blättert sie
wie alter Lack
langsam ab
wenn Kinderhände
daran kratzen
verwischt sie
wie Kreide bei Regen auf Asphalt
rieselt sie
wie Pulver von dieser Haut
unter der
noch eine zweite liegt?

diese Heimat
trägt eine zweite Haut
unter der
Bunker
Geheimgänge
Atomlager
und Archive
sich wie Falten
durch den Untergrund ziehen
Spuren einer Zeit
einer Geschichte
die sich erst erzählen lässt
wenn die obere Hautschicht
nach und nach
zerfällt.
Diese Heimat
trägt eine zweite Haut
so wie alle anderen auch
Heimat
dieses Wort
das nicht in der Mehrzahl existiert
und von dem es doch
auf dieser Welt
so viele verschiedene gibt
die überall anders
und doch überall gleich aussehen
Heimatwesen
mit buckliger Haut
auf der Menschen herumstolpern
Pfähle in das weiche Fleisch rammen
es mit Säure verätzen
mit Farbe bepinseln.
Heimatwesen
manche dick und schwer
andere dünn und schmal
manche alt
und andere noch sehr jung.
Heimatwesen
die auf dieser Welt leben
mit eckigen
und geschwungenen Rändern
mit riesigen Mäulern
die sich ineinander verbeissen
aneinander zerren
sich zur Seite schubsen
sich mit erhobener Brust aufblähen
und andere unter sich begraben
verschlingen
was auch immer sie finden
bis sie dicker und dicker werden
wie klebriger Schleim
in jede freie Ecke sickern
und dort erstarren
damit sie niemand
mehr dort fort bringt.
Heimatwesen
übersät mit Wunden und Narben
aus denen
teilweise bis heute
noch Blut fliesst.

wie viele Lücken
hat deine Geschichte?
Wie viel weisst du
über deine Jahre
deine Heimat
wie viel hast behalten
und wie viel vergessen
worüber erzählst
und worüber schweigst du
wenn dich deine Kinder fragen
welche Farbe haben sie
deine Jahre
wo wechselt
die Farbe deiner Kindheit
in die Farbe
der Kinder von heute?

du bist das Kind
einer Geschichte
die du nicht geschrieben hast
weil es nie die Kinder sind
die Geschichte machen
sondern später
nur damit leben müssen.
Die Erwachsenen sind es
die Geschichte schreiben
obwohl es doch nicht die ihre ist
obwohl es doch ihre Kinder sind
zu denen diese Geschichte gehören wird
weil Erwachsene
nie in der Geschichte
sondern immer nur
in der Gegenwart leben
die erst zu Geschichte wird
wenn sie fort sind
wenn sie vollbracht haben
was sie meinten
tun zu müssen
eine Welt zurücklassen
mit Farbe besudelt
und es an den Kindern bleibt
diese Schweinerei
sauber zu machen.

Fabienne Lehmann wurde 1996 in Biel geboren und wuchs in Oberwil bei Büren auf. Sie hat Geschichte und Religionswissenschaft an der Universität Basel studiert und befindet sich nun im zweiten Studienjahr am Literaturinstitut in Biel.

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