Da bekomme ich zum ersten Mal eine Anfrage aus der Roten Fabrik für einen Text. Und dann ist das Thema: Adel. Adel? Für die Fabrikzeitung. Seriously? Gleichzeitig stelle ich fest, dass ich mich durch einen Text in der Fabrikzeitung geadelt fühlen würde. Klingt verdächtig nach einem begrabenen Hund. Und eigentlich schreibe ich doch meistens wegen begrabener Hunde, vorwiegend wegen der eigenen. 

Ich erzähle nur selten, dass ich einmal als 17-Jährige auf einem Ball der Österreichischen Gesellschaft Quadrille und Walzer in Formation getanzt habe, quasi in Weiss debütiert, wenn auch als einzige im kurzen Kleid. Ich erzähle oft, dass ich in den 80ern mit den Toten Hosen Billard gespielt habe. Und dass Kuddel auf meiner Schule war, wobei mir gerade einfällt, dass er doch Andreas von Holst heisst. Und tatsächlich: Er ist adlig.

Nichtadlige sprechen fast nie mit Nichtadligen über etwas anderes als über Adlige. 

Ich weiss wirklich sehr wenig über Adel. Jedenfalls über den heutigen Adel, den Adel aus meinem Herkunftsland Deutschland. Womit ich mich auskenne: mit dem britischen Adel während der Regency-Zeit. Diesem knappen Jahrzehnt zu Anfang des 19. Jahrhunderts, das so heisst, weil der britische König aufgrund einer Krankheit die Regierungsgeschäfte an seinen Sohn, den (weniger beliebten) Prinzregenten, abtreten musste. Es ist die Zeit, in der alle Bücher von Jane Austen erschienen sind. Und von der die meisten Bücher von Georgette Heyer handeln. 

Neulich hatte ich immerhin einen Anfangssatz, den ich mochte: «Ich habe die Klasse gewechselt:  Für 5 Franken». Ich habe ihn auf dem Schiff von Luzern nach Weggis geschrieben, auf dem oberen Deck, zu dem mir eine Frau erklärt hat, natürlich sei hier die erste Klasse, das sei ja auch der erste Stock. Unten sei die zweite Klasse.

Austen habe ich vor fünf Jahren zum ersten Mal gelesen. Mit Georgette Heyer hingegen bin ich quasi aufgewachsen. Ich habe ihre Bücher mit 12 oder 13 im Regal meiner Mutter gefunden, aus dem sie schon meine älteren Schwestern herausgezogen hatten. Bücher für Erwachsene. Mit abenteuerlichen Plots, romantischen Liebesgeschichten, starken Frauenfiguren und Humor. Ich habe sie verschlungen. Mehrmals.

Dass ich nicht sicher bin, ob es eine gute Idee ist, (in der Fabrikzeitung of all places) davon zu erzählen, wie ich als fast 50-jährige Frau die Liebes- und Abenteuerromane von Georgette Heyer wiederentdeckt habe und in welche Schwierigkeiten ich dadurch kam, hat wahrscheinlich mit einem begrabenen Hund aus dem Hause von und zu Dünkel zu tun. 

Georgette Heyer, 1902 in Wimbledon geboren, hat zwischen 1921 und 1972 56 Bücher veröffentlicht, davon 26 Regency Romances, sie hat das Genre quasi erfunden und war enorm erfolgreich damit. Hunderttausende von Büchern hat sie verkauft, von ihren Vorschüssen und Tantiemen lebten zeitweise fünf Personen, bis heute waren ihre Bücher nie «out of print». Ihre riesige englischsprachige Fangemeinde nennt sie «the next best thing» nach Jane Austen, die zu den wenigen Autorinnen gehört, die kanonisiert und populär sind. Überhaupt zu den wenigen kanonisierten Autorinnen.  

Und offenbar habe ich andauernd das Bedürfnis Heyer (und meine Lektüre) zu legitimieren. Möchte von der blauen English-Heritage-Plakette schreiben, die sie dann noch bekommen hat. Und während ich das tue, denke ich, dass es sehr viel damit zu tun hat, dass Heyer eine Frau ist (und dass ich eine Frau bin). Diese ganze Kanonleserei, dieses von Professoren und Autoren geprägte Studium, diese gelernte (und immer wieder misogyne) Unterhaltungsabwertung, das ist doch ein Scheiss. 

Heyer war davon auch betroffen. Sie war einerseits sehr selbstbewusst, sie war sich ihrer Sprache, ihres Stils sicher, aber trotzdem hat sie sich (und damit auch ihre Leser:innen) immer wieder auf ihre selbstironische Weise abgewertet. In einem Brief an ihren Agenten hat sie 1943 geschrieben: «I think myself I ought to be shot for writing such nonsense. … But it’s unquestionably good escapist literature and I think I should rather like it if I were sitting in an air-raid shelter or recovering from flu.»  

Und ich will drum raus aus der Selbstabwertung. I want to own my reading of Heyer. Diesen englischen Ausdruck mag ich sehr: to own something. Im Sinne von anerkennen. Aber das erscheint mir nicht gleich stark. Überhaupt hat meine Begeisterung für Heyer sehr viel mit der Sprache zu tun, damit, dass ich sie auf Englisch wiedergelesen habe, nachdem ich mir einen E-Reader zugelegt hab. Und mit ihrem intelligenten Humor. Was für ein Buch das sei, das ich da lese, hat mich mein Freund einmal gefragt, weil ich immer wieder während des Lesens laut auflachte. Später dann: Liest du Heyer?

Aber bei Heyer, und drum schreibe ich wohl über sie, liegen eben noch mehr begrabene Hunde. «To own Heyer» ist dann doch nicht so einfach. Aus feministischer Sicht. Und wegen des Klassismus. Und ich frage mich, welchen Fokus ich nehmen soll: Klasse oder Geschlecht? Geschlecht als Klasse? Muss ich mich entscheiden?

Während sich ganz unterschiedliche Kräfte schon seit langem für die grundsätzliche Abschaffung des House of Lords einsetzen, kämpfen fünf britische Aristokratinnen mit der «Daughter’s Rights Campaign» seit 2018 dafür, dass endlich auch adlige Frauen Titel erben und so einen der vererbbaren Sitze im House of Lords einnehmen können.

«… the new feminism is not just the revival of a serious political movement for social equality. It is the second wave of the most important revolution in history. Its aim: the overthrow of the oldest, most rigid class/caste system in existence, the class system based on sex», schreibt Shulamith Firestone 1970 in: The Dialectic of Sex. Ich habe das Buch vor ein paar Wochen im Regal meines Freundes gefunden, ein Buch seiner Mutter, ein radikal-feministisches Manifest, intelligent, originell und immer noch hochbrisant. Auf Deutsch ist es lange vergriffen. 

Wer wäre ich, frage ich mich, wenn ich als Teenager nicht Heyer und ihre Regency-Romane im Regal meiner Mutter gefunden hätte, sondern Shulamith Firestone? Was hat es mit diesen Regalen der Mütter auf sich? Und liegt darin implizit ein Vorwurf an meine Mutter? Was ja ein dicker Hund wäre. 

Aber erstmal wieder zurück zu Heyer, die auch deshalb «The Queen of Regency» genannt wird, weil sie die Zeit so genau recherchiert hat. Ob Schnupftabak oder Verlagsverträge, Kanalüberquerung oder Mitgift, Tanzschritte, Debütantinnenkleidung, Halstuchfaltungen, Slang oder Rasertum im Kutschenzeitalter: anhand ihrer über 1000 Quellen hat sie die Gepflogenheiten und Regeln der Zeit genauer dargestellt als Austen, die ihren Zeitgenoss:innen nicht alles erklären musste. Anders als Austen konnte sie auch über die Männer schreiben. «Heyers Waterloo» in «The Infamous Army» gilt als eine der genausten Darstellungen der Schlacht überhaupt.

Die Regency ist die Zeit der Napoleonischen Kriege; in England steht an ihrem Beginn der Slave Trade Felony Act 1811, der den Sklav:innenhandel für strafbar erklärt, wenn auch noch lang nicht abschafft; auf dem Wiener Kongress 1814/15 ordnet die versammelte europäische Noblesse (Männer) den Kontinent neu – und bereitet die Rückkehr zu alter Ordnung vor, auf dass es keine weiteren Revolutionen gebe. 

In meinem Lieblingsroman «The Talisman Ring» wundert sich ein Bow Street Runner (Polizist) darüber, dass eine junge Adlige ihn freundlich anspricht, bis sie erwähnt, dass sie aus Frankreich kommt. Dann wird ihm alles klar: «The French, what with their guillotines and one thing and another, were the worst kind of foreigners, (…) and the silly habit that they had of holding that everyone was equal accounted for this young lady speaking so friendly to a mere Bow Street Runner.»

Und da liegt ja auch ein Hund begraben. Darin, dass sich für den Britischen Adel seit der Regency wenig geändert hat, weil auf der Insel eben keine Revolution stattgefunden hat. Dass Titel, (Grund-)Besitz, Erbe und Kategorien wie «of low birth» (von niedriger Geburt) und «highbred» (vornehm, kommt von Breed: Zucht) nach wie vor die Gesellschaft prägen. Die «Social Mobility» in der britischen Klassengesellschaft ist noch heute verschwindend gering.  

Heyer nimmt zwar die Klassengesellschaft immer wieder kritisch aufs Korn, aber ihre blinden Flecken und ihren eigenen Klassismus wird sie nicht los. Während ihre Bücher, wie auch die von Austen, alle den Bechdel-Test bestehen, würden die meisten durch den entsprechenden Text für Klasse fallen. Nichtadlige sprechen fast nie mit Nichtadligen über etwas anderes als über Adlige. 

Ich habe immer wieder das Bedürfnis Aufkleber zu verteilen: Achtung, diese Bücher können Ihren Widerstandsgeist schwächen. Ihren Feminismus gefährden. Diese Bücher können Sie davon ablenken, was eigentlich zu tun und wofür zu kämpfen ist. Shulamith Firestone schreibt: «Romanticism is a cultural tool of male power to keep women from knowing their conditions.» Und «So when we talk about romantic love we mean love corrupted by its power context – the sex class system – into a diseased form of love that then in turn reinforces this sex class system.»

Die Serie «Bridgerton», deren erste beide Staffeln «The Duke and I» und «The Viscount who loved me» auf den Plätzen 2 und 3 der meistgeschauten Netflix-Serien stehen, beruht auf den Millionen-Bestsellern von Julia Quinn, einer aktuellen Autorin von Regency Romances und erklärten Heyer-Nachfolgerin. Vermutlich gäbe es «Bridgerton» nicht ohne Heyer. So wie es Heyers Bücher nicht ohne Austen gäbe. 

Shonda Rhymes hat «Bridgerton» – abweichend von Quinns Romanen – mit einem diversen Cast verfilmt, die Königin mit einer guayanisch-britischen Schauspielerin und den Duke mit einem simbabwisch-britischen Schauspieler besetzt, das ist grossartig, das macht einen Unterschied. Auch wenn am Ende trotzdem immer Männer mit Macht Frauen ohne Macht heiraten.

Was wäre, wenn die Literatur die romantische Liebe gar nicht erst erfunden hätte? 

Die dritte Fassung dieses Texts hatte den Titel «Don’t marry, be happy». Und tatsächlich ist der Marriage Mart (Heiratsmarkt) der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Regency Romance, es geht in dieser Polite Society fast immer um Geld, um Eheschliessung als Transaktion, um Besitzerhalt oder -Vermehrung, Grundstückzusammenführung. Die Liebesheirat ist die Ausnahme. Darum heisst sie ja so.

Shulamith Firestone forderte in ihrem Manifest von 1970 die Abschaffung der Ehe, der Kleinfamilie als Kernzelle patriarchaler Strukturen, und hoffte auf einen Ersatz für die biologische Schwangerschaft – als wichtige Voraussetzung für Gleichberechtigung, für glückliche und freie Menschen und Liebesbeziehungen. 

Heyer schreibt komplexe und intelligente Frauenfiguren, aber selbst meine Lieblingsfigur aus «The Talisman Ring», Miss Thane, die Abenteuer liebt, und das Absurde weit mehr als Romantik, die überhaupt niemanden braucht, um glücklich zu sein, bekommt am Schluss einen Antrag und antwortet darauf mit: «To be honest with you (…) I have been meaning to marry you these ten days and more.»

Und natürlich müssen bei Heyer alle heiraten. Es gab ja in dieser Zeit kaum Alternativen für Frauen. Alleinleben war nicht mal dann eine Möglichkeit in der Polite Society, wenn das Geld dafür da war. Einzig Witwen durften ohne Anstandsdame leben. Unverheiratete Frauen hiessen «Spinster», was Spinnerin heisst.

Bei Schullesungen werde ich immer noch ganz mitleidig angeschaut, wenn ich – auf die Frage der Schüler:innen hin – sage, dass ich keine Kinder habe, dass ich nicht verheiratet bin. Letzteres sage ich jeweils mit grosser Überzeugung, aber meistens schiebe ich dann doch noch nach, dass ich einen Freund habe, als müsse ich sie beruhigen, als könne ich ihnen eine über 50-jährige berufstätige Frau ohne Mann als Role Model noch nicht zumuten.

Was ich glaub ich – neben der Sprache – am meisten mag an Heyer, ist ihr genauer Blick auf ihre Figuren, deren Psychologie. Und auch darauf, wie die Menschen und ihre Beziehungen durch die Macht- und Besitzverhältnisse einer ungerechten Gesellschaft korrumpiert und beschädigt werden. Wie auch diejenigen, die zu den Profiteuren gehören, davon beschädigt werden. 

Den letzten Satz bekommt aber Shulamith Firestone: «Feminism, when it truly achieves its goals, will crack through the most basic structures of our society.»

Literatur:
Aiken Hodge, Jane, The Private World of Georgette Heyer1984

Firestone, Shulamith, The Dialectic of Sex: The Case for Feminist Revolution, 1970

Heyer, Georgette: The Talisman Ring, 1936

Ulrike Ulrich lebt und schreibt in Zürich. Ihr letzter Roman «Während wir feiern» war 2021 das «Zürich liest ein Buch-Buch». Sie liest fast ausschliesslich Autorinnen* und arbeitet neben ihrem neuen Roman an einem Autorinnen*-Alphabet.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert