Via Prenestina 963, eine Festung in der römischen Peripherie. Am Tor eine undisziplinierte Herde schräger Briefkästen, daneben ein Schild: «Planet Space Metropoliz – Ethische Stadt 2018». Hebt man den Blick, erscheint ein Schriftzug aus weissen Hollywoodlettern: F ART. Und ein Turm, darauf ein aus Tonnen geschweisstes Teleskop, darunter eine Sonnenuhr, statt Zahlen eine Zeit bilden Buchstaben REVOLUTION.

Hinter den Mauern verbirgt sich eine verlassene Salamifabrik, heute ein weitläufiges Museum für zeitgenössische Kunst. Das Maam – Museo dell‘ Altro e dell‘ Altrove – ist jedoch nur samstags geöffnet, denn inmitten der unzähligen Skulpturen, Malereien, Sprayereien und Installationen befinden sich die Wohnungen von über 250 Menschen. Alle haben sie Odysseen hinter sich – über Meere, durch Wüsten, durch Camps, auf der Strasse – aber eine haben sie alle gemein: Vor ein paar Jahren reisten sie zusammen auf den Mond.

Und das kam so: 2009 besetzte eine zusammengewürfelte Gruppe von knapp 500 Leuten das Gelände der alten Fio-rucci-Fabrik im Industriequartier am äusseren Rande Roms. Familien ohne Wohnung aus allen Teilen der Welt versuchten, sich in den ungastlichen Gemäuern der zerfallenen Schlachterei und Wurstfabrik ein neues Zuhause aufzubauen – unter der ständigen Bedrohung einer jederzeit möglichen Räumung. Als dann auf dem Gelände zwei auftauchten, die verkündeten, hier eine riesige Rakete zu bauen, um mit allen, die mitwollen, zum Mond zu fliegen, schien das etwa gleich wahrscheinlich.

Und die Idee, entgegen aller Verrücktheit, klang verlockend: Der Mond ist allen bekannt, er gehört allen, der Mond ist frei. Es gebe dort kein Recht auf Eigentum und keine Waffen, er sei auch nicht so belebt. Auf dem Mond könne noch ein besseres Leben aufgebaut werden, von Grund auf neu. Man könnte dort multiethnisch friedlich zusammenleben: «Sinti, Roma, Afrikaner, Italiener, Chinesen, Südamerikaner, alle.»

Der italienische Künstler Carlo Gori kam zu Beginn der Besetzung als kultureller Vermittler des Quartiers in die Fab-rik. Seit eineinhalb Jahren lebt er selbst in Space Metropoliz, direkt unter dem Turm mit dem Teleskop. Er dreht immerzu Zigaretten und raucht, und wie kann man so schlecht Zigaretten drehen, wenn man so viel raucht. Da fällt schon der Filter.

«Wir sind auf den Mond, dort ist es billig», lacht er neben einer Mauer, auf der eine cartooneske Rakete durch den Weltraum zischt. «Dann waren wir dort und hatten Heimwen. Wir kamen zurück in die Fabrik und machten das Museum: Wir riefen die angesehensten, teuersten Künstler an, die wir kannten. Nun schützt ihre Kunst, die auf dem Markt einen hohen Wert hat, die Menschen und die Räume, in denen sie hier leben.»
Im Museum ist die Reise auf den Mond allgegenwärtig: Das All, Ausserirdische, Spaceships und Planeten ziehen sich als roter Faden durch die überwältigende Masse an Werken; das Narrativ der Rakete fliegt – zusammen mit aufgeschlitzten Schweinen – durch die Schlachthallen und Fabrikhöfe.

«Es war eine fantastische Lösung», meint Gori später bei einem Teller Pasta in seinem Atelier. «Hier möchte uns niemand haben, also gehen wir auf den Mond. Alles andere haben wir schon probiert: Molotoffs, Occupy, Sit in – am Ende werfen sie dich immer raus. Was hier geschah, war etwas Neues, ein Experiment: Wir setzten die Fantasie ein als Kampfinstrument.»

Der Kampf läuft – und nicht erst seit Innenminister Salvini keine Flüchtlingsschiffe mehr nach Italien lässt und eine Offensive nach der andern gegen Sinti und Roma startet – auf breiter Front: Gegen Wohnungsnot und steigende Obdachlosenraten, gegen Verarmung, Vertreibung und Diskriminierung. «MigrantInnen, Homosexuelle, Verrückte, Künstlerinnen, Wissenschaftler… Italien, ja der ganze Planet, wie es scheint, ist nicht bereit, diese anderen zu akzeptieren und teilhaben zu lassen.» Und so sei die Flucht auf den Mond gar nicht so fantastisch wie sie klinge, sondern vielmehr politisch und stellvertretend für alle Marginalisierten geworden. «Italien gibt immer weniger Geld für Kultur und Wissenschaft aus und immer mehr fürs Militär. Die Politik von heute sagt: Ziehen wir Mauern hoch und verschanzen uns gegen die andern, als wären die andern eine Gefahr, als wären die, die ankommen auf Rettungsbooten der Feind.»

Dieses Narrativ werde auch in vielen Science Fiction Filmen bedient, wo Aliens für nichts anderes stünden als Migranten: «Mit der Fantasie kreierst du Metaphern, Symbole, aber sie haben Sinn in der Realität.»

Dabei sollte man meinen, die ItalienerInnen würden sich mit Geflüchteten solidarisch zeigen; viele hätten deren Prob-leme am eigenen Leibe erfahren: «Ökonomische Probleme, Diktaturen – wir sind zu Millionen aus dem Land gegangen», meint Gori, «und gehen, wenn man den Süden Italiens anschaut, immer noch.» Stattdessen setze die Politik alle in Konkurrenz zueinander und heize so den Krieg an zwischen den Armen.

Die Reise auf den Mond gab den an den Rande der Gesellschaft Gedrängten eine Ausdrucksmöglichkeit für einen Hilferuf: «Wir sind menschlich, es geht uns schlecht, wir müssen woanders hin.» Der Ruf wurde aufgenommen von Künstlern, Wissenschaftlerinnen, Musikern, Architektinnen, ja sogar richtigen Astronauten, die in die Salamifabrik kamen, um beim «autonomen Raumprojekt» dabeizusein. Dieses sollte den BewohnerInnen vor allem auch eine neue Perspektive ermöglichen. Durch den Fokus auf den Mond und das All wurde die Erde auf einmal von aussen betrachtet, als Objekt. Und eine hoffnungslos heruntergekommene besetzte Wurstfabrik verwandelte sich in einen eigenen Planeten: Space Metropoliz! Dessen BewohnerInnen machten ihn mit ausgiebigen Putz- und Renovierungsarbeiten zu einem bewohnbaren – und wurden dabei nicht selten selbst zu Raketenbauerinnen und Astronauten. Nebenbei erarbeiteten sie sich dazu die gemeinsamen Voraussetzungen für ihre ideale Mondwelt, indem sie sich der Frage widmeten: Wie möchten wir, dass es dort ist? Ideen und Wünsche wurden auf alle Sprachen in gewundenen Linien auf den Boden gepinselt; sie weisen noch heute den Weg zum damaligen Raketenstartplatz.

Space Metropoliz war ein kollaboratives Projekt. «Wer etwas weiss über Astronomie, kam, um davon zu erzählen. Oft auf spielerische Weise, wir sind ja keine Experten, und schliesslich müssen wir zusammen ans Ziel kommen.» So haben Künstler mit Kindern zusammen Raketen angemalt und Designer beim Raketenbauen überlegt: Wie würde es ein Kind machen? Das Spiel sei sowieso ein gutes Instrument, meint Gori: «Wenn ein Kind nicht lernt und nicht spielt, geht es ihm schlecht.» Der erste Raum, den er zu Beginn in Beschlag nahm und künstlerisch gestalten liess, war deshalb die Ludothek, ein Spielraum für die Kinder, wo auch zweimal die Woche betreute Aufgabenstunde abgehalten wird. Und es funktioniert: «Die Dropout-Rate in der Schule von unseren Kindern ist quasi bei null.»

Nicht nur die Kinder hätten in den vergangenen Jahren erfahren, dass sie selbst in prekären Situationen etwas nehmen und daraus etwas kreieren können. «Träume und Imagination gehören allen», Nachhinein Gori, während ein anderer Künstler in seinem Workshop ein flammendes Plädoyer hielt, dass es Zeit wäre, die Denkschiene zu ändern. Schliesslich gebe es deren zwei: Die normale, also funktionierende, produzierende, fordistische, welche in einer alten Fabrik natürlich der herrschende Spirit sei. Es gebe aber auch das Gegenteil: nämlich das künstlerische Denken, das von all dem losgelöst sein sollte.

«Auch diese Idee von Kollaboration – ich gebe dir und du gibst mir – ist nur auf Nutzen aus», meint Gori. «Der wahre Austausch ist «unnütz», aber dort wachsen wir als Personen. Ein Bier trinken, Fussball spielen, auf einen Schwatz stehen bleiben.» Natürlich passiere ein Austausch in Space Metropoliz auch indirekt über die Kunst, dafür müsse man nicht studiert haben. Bewusst oder unbewusst sei sie «nährend», vor allem für Kinder, die offener seien und den Raum frei nutzten. «Sie rennen herum und sehen und erzählen dir davon, und du bist erstaunt, was sie alles verstanden haben.»

Für Gori ist klar: «Was wir hier machen, ist nötig für Rom. Die Institutionen schaffen es nicht, einen Raum zu schaffen für Aggregation, für Kultur. Die Veränderung kommt nicht aus der Politik, sie kommt aus gemischten Graswurzelbewegungen mit Kunst, Kreativität, Intellekt.»
Und verändert hat sich einiges seit der Besetzung der alten Fabrik vor neun Jahren: Die Ausrufung des Planeten Space Metropoliz, der Mondflug und schliesslich die Entstehung des mittlerweile weitbekannten Museums Maam. Dieses hat seine Dienste als Beschützerin der Besetzung bis heute gut geleistet. Doch das Damoklesschwert der Räumung und Vertreibung hängt seit der Bildung der neuen rechtspopulistischen Regierung noch einmal bedrohlich tiefer über dem Teleskopturm von Space Metropoliz. Freiwillig ausziehen würde hier wohl trotzdem niemand – die wenigen Angebote für einzelne Familien für Wohnungem in einem Sozialbau, einer sogenannten Casa popolare, wurden bisher alle abgelehnt. «Was soll ich in einem seelenlosen Bau, abgeschieden, draussen auf dem Land? Hier habe ich meine eigene Wohnung, das habe ich mir alles selber gebaut, mit meinen eigenen Händen!», meint ein Bewohner. Ein anderer sagt stolz: «Ich war der erste hier drin, ich hab damals das Tor aufgemacht.»

«Schau runter», sagt Gori später auf der Terrasse, «die Kinder spielen sicher im Hof. Alle kennen alle, bleiben stehen, reden miteinander. Wir sind wie eine Familie in einem riesigen Haus.»

Eine andere Familie ist die Besitzerin des Areals: Die Salinis haben das grösste Immobilienimperium Italiens, ja eines der grössten der Welt. Schon vor Jahren haben sie verlauten lassen, das Museum in Zukunft behalten zu wollen – aber ohne seine Bewohner. Die Antwort aus Space Metropoliz ist heute dieselbe wie damals: Gerne renovieren, aber nur für und mit den BewohnerInnen!

«Das werden sie natürlich nicht machen», meint Gori, «es wäre ein Zeichen für alle anderen Besetzungen. Die Fantasie ist unendlich – wir könnten noch viel mehr solche Sachen erfinden. Das wäre ihr Ende.»

Auf Unterstützung von staatlicher Seite können die Bewohnerinnen von Space Metropoliz nicht hoffen: Die finanzielle Unterstützung für die Wahlkampagnen der amtierenden Politik kommt umgekehrt von Bauriesen wie der Familie Salini.

Trotz allem bleibt Goris Fazit positiv: «Wir haben bewiesen: Kunst kann etwas verändern. Und alles kann ein Symbol werden für Veränderung. Alles ist möglich. Auch Neuanfangen.»

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.
Die Reise auf den Mond wurde im Film «Space Metropoliz» von Fabrizio Boni und Giorgio de Finis dokumentiert.

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