Endzeitstimmung: Das ist, was uns heute mit der Zeit um 1980 verbindet. Nun, da diese – gefühlt und medial getriggert – näher rückt, verkrieche ich mich ins leere Kino. Prophylaktisch, bevor auch dieses bald geschlossen wird. «Letzte Tage» wirbt das Plakat an der Hausfassade für «Moskau einfach» – unfreiwillig poetisch.

Wenn die Unsicherheit umgeht, braucht es sichere Werte. Etwa den Deutschschweizer Spielfilm. Fast nichts ist wohltuender als sich über ihn zu enervieren: Holprige Dialoge, schlechte Drehbücher, gekünstelte Authentizität und allgemeine Ideenlosigkeit. «Moskau einfach» hält alle Befürchtungen. Was haben die sich dabei gedacht? «Was wird 2020 aktuell sein? Ah, genau, 30 Jahren Fichen-Skandal, bäumig!» Und das Bundesamt für Kultur und die Zürcher Filmstiftung finden das ebenfalls grossartig und bieten Hand und Mittel für einen weiteren heiteren Kulissenfilm.

Vor dem Hintergrund biederer Polizeibüros mit Telefonbüchern, Schreibmaschinen, Aschenbechern und Aktenbergen werden zuverlässig Klischees abgearbeitet: Der hörige Normalo-Polizist; der machtgierige Regisseur mit Vorliebe für Nacktszenen; die naive Schauspielerin; der exaltierte, pseudointellektuelle Schauspieler usw. Grundstruktur: «Die Schweizermacher» von 1978. Plot: Der Bünzli-Bulle verliebt sich bei einem Insider-Einsatz in die Schauspielerin und Tochter eines Polizeivorstehers, durchläuft einen Gesinnungswandel, die Sache fliegt auf; sie trennen sich, er kündigt seinen Job als Polizist, weil sie ihn gelehrt hat, was «wirklich leben» bedeutet, sie finden wieder zueinander, Happy End.

Dazwischen schreiben Polizisten mit, wenn ein unbeholfener Hippie aus Radio Lora sendet und der Insider notiert in seinen Akten zu verdächtigen Personen: «Trinkt abends gerne einmal ein Bier.» Wir finden das dann herzig bis lustig.

«Trinkt abends gerne einmal ein Bier» ist denn auch der Standardsatz, der überall zitiert wird, wenn es um den Fichen-Skandal geht. Allgemeines Belächeln und «Das wäre heute absolut undenkbar» sind die Antwort darauf.

In den über Jahrzehnten 900’000 angelegten Personen-Fichen stehen jedoch ganz andere Sätze. In einem 1980 wegen der Jugendunruhen angelegten Polizei-Dossier über die sogenannte «Bewegungselite» etwa, wird in pseudowissenschaftlicher Manier versucht, Rückschlüsse von der familiären Situation, der sozialen Herkunft und der Bildung der Vertreterinnen auf deren Militanz zu ziehen. So wird etwa festgestellt, dass dieser verzeichnete Personenkreis eine hohe Rate von ausserehelich geborenen Kindern, geschiedener Eltern oder Heimerziehung aufweise.

Und heute, in den Zeiten der Crypto-Affäre, wo sich zeigt, dass der Schweizer Geheimdienst entweder absolut inkompetent oder mit Absicht blind ist, und wo App-Entwickler aus reinem Opportunismus Corona-Virus-Tracker verkaufen, sollten wir mit der Aussage «Das wäre heute absolut undenkbar» zurückhaltend sein.

Raus aus dem Kinosaal, begegnen mir ein paar Mormonen mit der Tafel «Gibt es noch Hoffnung?» Ich schüttle trotzig den Kopf, gehe vorbei und halte Abstand. 

Anja Nora Schulthess schreibt kulturwissenschaftliche Beiträge, Essays und Lyrik. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». Im Sommer 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag.

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