Von Ueli Mäder & Hector Schmassmann

 

Mangel hat, wer etwas entbehrt. Was fehlt, ist das Gute, das Bessere. Aber wer was entbehrt hängt von persönlichen und gesellschaftlichen Bedingungen ab. Zudem von sozialer Zuschreibung und Definitionsmacht. Sie alle prägen das subjektive Empfinden und das, was wir Menschen laut Sartre aus dem machen, was die Gesellschaft mit uns macht.

Mangel bezieht sich in gängigen Debatten primär auf Defizite. Auch in Diskursen zur sozialen Ungleichheit. Da steht der Mangel an materiellen Ressourcen im Vordergrund. Hinzu kommen der Mangel an Perspektiven sowie der Mangel an Selbstverwirklichung. Mangel ist auch ein Begriff im Marxistischen Wörterbuch.

Können alle Kinder, die wollen, Violine oder Klavier spielen?

Empörung

Mangel hat, wer seine existenziellen Bedürfnisse kaum befriedigen kann, wer nicht genügend Mittel für den täglichen Bedarf hat. Aber was ist mit dem psychischen Wohl, was mit dem Zugang zu kulturellen Einrichtungen? Können alle Kinder, die wollen, Violine oder Klavier spielen?

Bei früheren Armutsstudien fällt ein starker innerer Rückzug sozial Benachteiligter auf. So verteidigt eine allein erziehende Verkäuferin ihren Vermieter, der die Mietkosten erhöht, obwohl sie diese kaum bezahlen kann. Sie fühlt sich für Verhältnisse verantwortlich, die primär gesellschaftlich verursacht sind. Nach aussen erweckt sie den Anschein, dass alles in bester Ordnung sei – trotz eigenem Leiden. Neuere Armutsstudien hingegen weisen darauf hin, wie sich bei sozial Benachteiligten resignative Haltungen vermehrt in Empörung verwandeln. Auch, weil sich soziale Ungleichheiten weiter erhöhen. Der Blick auf Reiche kontrastiert und erhellt den Mangel. Wenn Eltern erleben, wie ihre Kinder keine Arbeitsstelle finden, während Privilegierte hohe Gewinne erzielen, empfinden sie Wut. Ähnliches zeigt sich bei Personen, die viel arbeiten und wenig verdienen. Dass sich ihre Leistung kaum lohnt, empört sie. Ihre Wut wirkt sich allerdings unterschiedlich aus. Einerseits fördert sie zwar die Bereitschaft, sich mehr für eigene Interessen einzusetzen. Andererseits erhöht sie die Gefahr, Halt bei autoritären und populistischen Kräften zu suchen und den Mangel mit denselben Mitteln anzugehen, die ihn verursachen.

Die unterdrückte Klasse hat nichts zu verlieren als ihre Ketten

Revolutionäre Energie

Karl Marx und Friedrich Engels thematisieren den Mangel ebenfalls. Sie betonen besonders den «Mangel an revolutionärer Energie». Zuerst taucht der Begriff in Marx‘ Dissertation von 1841 auf. Die Konsequenz vom Philosophisch-Werden der Welt ist ein Weltlich-Werden der Philosophie. Das heisst ihre Verwirklichung ist zugleich ihr Verlust. Was sie nach aussen bekämpft, ist ihr eigener innerer Mangel. In der ‹Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie› (1844) bezeichnet Marx den damaligen deutschen Status quo als offenherzige Vollendung des Ancien Régime und das Ancien Régime als versteckten Mangel des modernen Staates. In ‹Die deutsche Ideologie› (1845-46) begründen Marx und Engels die Entwicklung der Produktivkräfte, die sämtliche materiellen und immateriellen Ressourcen umfassen, auch deswegen als eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert wird. So macht der Mangel wirklicher Parteikämpfe auch die soziale Bewegung zu einer bloss literarischen. Die ersten Versuche des Proletariats, direkte Klasseninteressen durchzusetzen, scheiterten am Mangel der materiellen Bedingungen, führen Marx und Engels im ‹Manifest der kommunistischen Partei› (1848) weiter aus.

Karl Marx und Friedrich Engels beziehen sich auch auf den Mangel an Freiheit, der unter den kapitalistischen Produktionsverhältnissen herrscht. Wenn sie im ‹Manifest der kommunistischen Partei› vom Proletariat sprechen, dann verweisen sie darauf, wie politische Freiheiten fehlen: So hat die unterdrückte Klasse nichts zu verlieren als ihre Ketten. Die Revolution bedeutet Befreiung und Selbstemanzipation. Befreiung von der wirtschaftlichen und politischen Herrschaft der Bourgeoisie, Befreiung aber vor allem vom Kapital selbst, das sich als entfremdete, feindselige Macht zeigt. Es entzieht sich der Kontrolle und unterstellt die Individuen herrschaftlicher Despotie. Das Prinzip der Selbstbefreiung gilt für alle unterdrückten Gruppen. Das sozialistische Ziel erscheint im dritten Band des ‹Kapital› als «Reich der Freiheit». Die freien menschlichen Tätigkeiten entfalten sich dann «jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion». Die radikale Verkürzung der Arbeitszeit ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel, das die freie Entwicklung der Menschen und deren Fähigkeiten «nach allen Richtungen» ermöglicht.

Interessant sind hier aktuelle Debatten über die Zukunkft der Arbeit. Die Digitalisierung forciert die einseitige Abhängigkeit von einer Technologie, die stark konzentriert, rationalisiert und privatisiert ist. Banken robotisieren die Beratung und bedauern, dass Personal «über die Klinge springen muss». Die Konkurrenz verlange das so. Etliche Betroffene denken deshalb vermehrt über die Verteilung der Arbeit und neue Formen der Grundsicherung nach. Damit verstärkt sich die Forderung, Arbeit und Einkommen zumindest teilweise voneinander zu entkoppeln. Zum Beispiel mit einem Ausweiten der Ergänzungsleistungen auf alle Haushalte, die zu wenig Einkommen haben.

Wir gewöhnen uns an die drückende Not, gleichzeitig wissen wir, dass sie weg muss

Konkrete Utopie

Der Kommunismus will Lebensverhältnisse schaffen, die frei von Mangel und Not sind. Der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) begründet von einem marxistischen Verständnis aus eine konkrete Utopie. Er tut dies zuerst in seinem Jugendwerk ‹Geist der Utopie› (1918) und später in seinem Hauptwerk ‹Das Prinzip Hoffnung› (1959). Nach Ernst Bloch lassen sich Elemente der kommunistischen Utopie schon bei altisraelischen Propheten finden, vor allem aber im modernen Sozialismus. Der Marxismus ist für ihn eine «konkrete Utopie». Ernst Bloch bezieht sich dabei auf Karl Marx, das libertäre Gedankengut und die Romantik. Er beschreibt die konkrete Utopie als etwas, das sich gegen das Elend und den Tod stellt, das sich aus «dem Tiefsten, Allerrealsten unseres Wachtraums» hervorhebt, «um dessentwillen es sich ziemt, zu leben». In späteren Schriften und insbesondere im ‹Prinzip Hoffnung› begreift Ernst Bloch die Utopie als antizipierendes Bewusstsein und als «Vor-Schein»: Wunschbilder erschaffen eine Welt, die frei von entwürdigenden Leiden, Angst und Entfremdung ist. Die Utopie, die sich im Prinzip Hoffnung manifestiert, dokumentiert das «Noch-Nicht-Seiende», das «Noch-Nicht-Gewordene» der Geschichte und das «Noch-Nicht-Bewusste» in der Welt.

Utopien greifen also auf, was noch nicht geworden und was noch nicht bewusst ist, so Bloch. Das Nicht-Erfüllen der Wünsche schmerzt, treibt aber auch an. Wir gewöhnen uns an die drückende Not, gleichzeitig wissen wir, dass sie weg muss. Der Mensch braucht zunächst, was zum Leben nötig ist: Die Selbsterhaltung geht allem voraus. Fehlt uns das Notwendige, so spüren wir den Mangel wie kaum ein anderes Wesen. Gleichzeitig begehren wir, sobald wir das Nötige haben, den Luxus. Mit dem Genuss tauchen neue Begierden auf; sie quälen uns kaum weniger als der vorige Mangel. Der Luxus, der nur scheinbar alles erfüllt, treibt unersättlich an.

Soyons réalistes, demandons l’impossible

Hoffnung

Die kapitalistische Produktionsweise kurbelt zur Erwerbsarbeit an. Wir suchen aber mehr als die Selbsterhaltung: Gemeinsam ist den Menschen der Wunsch nach Glück. Mit dem Hunger kommt auch die Selbsterweiterung. So schreibt Bloch: «Das Körper-Ich […] sucht die Lage zu verändern, die den leeren Magen […] gebracht hat. Das Nein zum vorhandenen Schlechten, das Ja zum vorschwebenden Besseren wird von Entbehrenden ins revolutionäre Interesse aufgenommen. […] Also sucht sich das Selbst nicht nur zu erhalten, es wird explosiv; Selbsterhaltung wird Selbsterweiterung.» Der Mangel lässt uns hoffen und von einem besseren Leben träumen.

Fluchtträume passen sich in den Zustand ein. Die Wirklichkeitsflucht billigt und unterstützt das Bestehende. Sie vertröstet uns aufs bessere Jenseits. Tagträume führen indes «als Überschreitung zur Hoffnung». Was dem Selbsterweiterungstrieb vorschwebt, dämmert nach vorwärts, ins Neue. «Das ist die Dämmerung, die bereits einfachste Tagträume umgeben kann; von da reicht sie in die weiteren Gebiete der verneinten Entbehrung, also der Hoffnung.» Vom Traum zur utopischen Funktion braucht es Bewusstsein und Gewusstsein. «Erst wenn Vernunft zu sprechen beginnt, fängt die Hoffnung, an der kein Falsch ist, wieder an zu blühen. Das Noch-Nicht-Bewusste selber muss seinem Akt nach bewusst, seinem Inhalt nach gewusst werden, als Aufdämmern hier, als Aufdämmerndes dort.»

Die utopische Funktion ist bei Unreife und Abstraktheit zu kritisieren, aber nicht durch einen bürgerlichen Realismus, «des Empiristen mit den Brettern vorm Kopf». An den Dingen zu kleben ist ebenso falsch, wie sie zu überfliegen. Der mit Hoffnung geladene, phantasievolle Blick der utopischen Funktion lässt sich nicht aus der Froschperspektive berichtigen, sondern nur vom Reellen im Antizipieren selbst. «Also von jenem einzig reellen Realismus her, der nur einer ist, weil er sich auf die Tendenz des Wirklichen versteht, auf die objektiv-reale Möglichkeit, der die Tendenz zugeordnet ist, mithin auf die selber utopischen, nämlich zukunftshaltigen Eigenschaften der Wirklichkeit.»

Die «rationale Utopie» dokumentiert laut Bloch einen «fehlenden Bezug zur Welt», aber «einen guten Drang zur Veränderung». Er nimmt damit frühsozialistische Utopien in den Blick. So etwa solche von Fourier und Saint-Simon. Bei ihnen dominiert «die wesentlich private und abstrakte Ergründung eines von Geschichte und Gegenwart […] unabhängigen Phantasiestaats. […] Gerade hier kam der Gedanke nicht zur Wirklichkeit, weil die damalige Wirklichkeit nicht zum Gedanken kam.» Dennoch haben «diese Träumer» laut Bloch «einen Rang, den ihnen niemand nehmen kann». Wichtig ist allein schon «ihr Wille, etwas zu verändern». Der Wille hilft, den Mangel an Hoffnung zu überwinden. Und die Utopie ist für Bloch das Werdende, die politische Zukunft – im konkreten Augenblick. Er inspirierte damit auch die 68er-Bewegung. Sie betrachtete die Utopie als Teil der Realität. Soyons réalistes, demandons l’impossible.

 

Quellen

Bloch, Ernst: Geist der Utopie (1918), Das Prinzip Hoffnung (1959)

Mäder, Ueli; Schmassmann Hector: «Mangel». In: Haug, Wolfgang Fritz; Haug, Frigga; Jehle, Peter; Küttler, Wolfgang. Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus (2015)

Marx, Engels: Werke

Ueli Mäder ist emeritierter Professor für Soziologie an der Uni Basel. Hector Schmassmann ist promovierter Soziologe und Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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