Grossbritannien, ein Samstagabend im Januar. «Nimm sie ab, nimm sie ab», fordert das Publikum im Studio des Fernsehsenders ITV und der Pharao kommt diesem Wunsch nach. Schliesslich hat er im Gesangswettbewerb verloren, nun muss er die Show verlassen. Unter der Maske ist: Alan Johnson, ein Labour-Politiker und der ehemalige Aussenminister des Vereinigten Königreichs.

«The Masked Singer» heisst dieses Talentshow-Franchise, das 2015 zum ersten Mal in Korea gesendet wurde und mittlerweile auch in den USA, Deutschland und Grossbritannien ausgestrahlt wird. Verschiedene Avatare – vom Baum bis zum Pharao – treten im Gesangswettbewerb gegeneinander an, unter jedem verbirgt sich ein Celebrity.
Für Alan Johnson geht mit der Teilnahme ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung: «In meiner Vorstellung bin ich kein ehemaliger Postbote, Gewerkschaftsfunktionär, Parlamentsabgeordneter oder Minister. Stattdessen sehe ich mich als Rockstar und habe das schon immer getan», erklärte er nach der Sendung in der Daily Mail. Die Maske ermöglich­te es ihm, mit seinem eigenen Ideal kohärent zu werden und live im Samstagabendprogramm «Walk like an Egyptian» von den Bangles zu singen. Dafür hat der Arbeiterklassenaufsteiger ausgerechnet eine aristokratische Praxis gewählt. Als zeitgenössische Version des höfischen Maskenballs dient «The Masked Singer» dazu, eine bürgerliche Existenz mit all ihren Verpflichtungen hinter sich zu lassen – und ungestört einer «Leidenschaft» zu frönen.

Denn eine Maske zu tragen, ist kein Akt der Subversion, sondern eine allgegenwärtige kulturelle Praxis. Schliesslich benutzen wir alle täglich mindestens einen Avatar, um etwa den digitalen Teil unserer Alltagskommunikation zu bestreiten. Mal ist er naturalistisch, wie die Fotos meiner ehemaligen Mitschülerinnen (wahlweise mit oder ohne Partnerin/Familienhund) im WhatsApp-Chat, mal ein Manga-Charakter oder Pepe der Frosch, der favorisierte Avatar der Alt-Right.

Auch in der Popmusik verbinden sich diese beiden Pole. Helene Fischer etwa verkörpert die naturalistische Version eines Avatars: blond, gebräunt und leicht lesbar. Dieser Avatar wirkt auf ihre Rolle zurück: die familienfreundliche Schlagersängerin, deren Liebesleben öffentlich ausgebreitet wird. Die Gorillaz stehen am entgegengesetzten Ende des Spektrums. Vier Zeichentrickfiguren gründen eine Band und weil die Mitglieder nicht aus Fleisch und Blut sind, haben sie Freiheiten. Sie brauchen keine Personality-Storys, ihnen fehlt der Geruch von Kumpeltum und Proberaum. Mal veröffentlichen sie ein Konzeptalbum über eine Insel aus Plastikmüll, zuletzt haben sie einen autobiographischen Film veröffentlicht, in dem keine Menschen mitspielen. Die Gorillaz existieren nur als Cartoon-Charaktere, sind aber ein Abschreibeprojekt für kulturelles Kapital. Denn hinter den Gorillaz steckt der britische Musiker Damon Albarn, der das Projekt Anfang der Nullerjahre genutzt hat, um sich nach seiner Zeit als Posterboy der Britpop-Szene als serious pop musician neu zu erfinden. Das hat gut funktioniert: mit seinem pan-afrikanischen Musikprojekt Africa Express ist Damon Albarn heute ein Feuilleton-Liebling.

Eine Maske zu tragen ist eine Identitätsbehauptung. Sie ist eine Möglichkeit, in den niemals abgeschlossenen Prozess der Identitätskonstruktion zwischen der Behauptung eines «Ichs» und seiner gespiegelten Wahrnehmung durch Dritte – zumindest für einen kurzen Moment – einzugreifen. Damit ist ein Versprechen von Anonymität verbunden, das nur unter bestimmten Bedingungen eingelöst wird. Paul Stanley, Gründungsmitglied von KISS, erklärte einmal, dass das Makeup seiner Band ihn nicht davor geschützt habe, auf der Strasse wahrgenommen zu werden: Stiefel, enge Jeans und lange Haare hätten ihn auch ungeschminkt als Mitglied einer Glam-Rock-Band identifizierbar gemacht.

Das kalifornische Kunst- und Musikprojekt The Residents dagegen konnte über vier Jahrzehnte die Identität ihrer Mitglieder schützen – dank einer konsequenten Strategie: sie sind als Kollektiv in die Öffentlichkeit getreten. Bei Liveauftritten versteckten die Mitglieder ihre Gesichter hinter verschiedenen Masken, wovon die überdimensionierten Augen am bekanntesten sein dürften. Diese Strategie der Maskerade ist einer egalitären Idee verpflichtet. In der Coverversion von The Residents aus dem Jahr 1976 wird etwa «Satisfaction» von den Rolling Stones zu einem viereinhalb Minuten langem Noisestück. Damit beraubten The Residents das Stück seiner indexikalischen Qualitäten: Das im Studio aufgenommene Gitarrenspiel von Keith Richards, die Atmer, Stöhner und der Hüftschwung von Mick Jagger, die das «Ich» in «I can’t get no satisfaction» konstituiert haben, sind nicht mehr an die Mitglieder der Stones gebunden, sondern werden zu einem universelleren Ausdruck der Unzufriedenheit, der auch die Songformen der 60er Jahre miteinschliesst. Bis heute arbeiten The Residents nach diesem Prinzip. Die Identität ihrer Mitglieder ist dabei weitgehend unbekannt geblieben.

«Always historicize» (Fredric Jameson) – das gilt auch für die erfolgreichen Strategien der Maskentragens. The Residents bedienten mit ihren Masken die Sensibilitäten der Punk und New-Wave-Zeit: die Skepsis gegenüber den heroischen Erzählungen von Rock sowie das theoretische Interesse an Dekonstruktion und Subversion. Die Gorillaz wiederum hatten bei allen Experimenten die Britpop-Millionen von Damon Albarn im Rücken, und KISS verschafften sich dank ihrer geschminkten Masken einen unique selling point unter all den anderen Glam-Rock-Bands ihrer Zeit. Als KISS Mitte der Neunziger nach einer ungeschminkten Phase wieder mit Make-Up aufgetreten sind, war dies ihre erfolgreichste Tour überhaupt.

Weitaus öfter verweist das Tragen einer Maske jedoch auf die Prekarität ihrer Träger*innen. Die Maske dient dann dem Selbstschutz – vor den Normen von Gender und Sexualität, ökonomischer Marginalisierung, Rassismus oder einem persönlichen Trauma. Das ist die Geschichte des bekanntesten Maskenträgers der HipHop-Szene: MF Doom.

Eigentlich heisst er Daniel Dumile und stammt aus New York. Gemeinsam mit seinem Bruder DJ Subroc gründete er 1988 das HipHop-Projekts KMD, das nach Erscheinen des Debütalbum als Geheimtipp galt. Kurz bevor 1993 ihr zweites Album veröffentlicht werden sollte, starb sein Bruder bei einem Autounfall. Die Plattenfirma entschied sich wegen eines kontroversen Coverentwurfs gegen die Veröffentlichung des zweiten KMD-Albums und Dumile zog sich für drei Jahre aus der HipHop-Szene zurück. Als er 1997 auf den ersten Freestyle-Jams auftauchte, hatte er sich eine neue Identität zugelegt: MF Doom. Vorbild ist der Marvel-Superschurke Dr. Doom, der eine Narbe im Gesicht trägt, die er mit einer Maske verbirgt. MF Dooms Maske ist ein Merchandise-Artikel zum Film «Gladiator», der gerade in den Kinos lief, als Dumile bekannter wurde. «Ich fand, dass die Maske der Figur mehr Mystik verleiht», hat er Anfang der Nullerjahre in einem Interview erzählt. Und damit hatte er recht. Mit seiner Anonymität, den vernuschelten Reimen und den Lo-Fi-Beats war MF Doom die Antithese zum Superstar-HipHop von Jay-Z, Dr. Dre und Sean «Puffy» Combs, die Anfang der Nullerjahre um die HipHop-Krone kämpften und dabei hauptsächlich ihren Luxus in den Ring warfen. An dieser Authentizitätserwartung konnte MF Doom nur scheitern.

MF Doom verfolgt dabei eine klassische Erzählung: die Selbsterfindung eines Afro-Amerikaners mit Hilfe von Hip-Hop. Aus William Drayton wird Flavor Flav, der Rapper mit Sonnenbrille und Umhänge-Uhr. Aus Jeffrey Williams wird Young Thug, der Südstaaten-Rapper in Frauenkleidern. Und aus einem unbekannten New Yorker-HipHop-Nerd wird Leikeli 47, die Rapperin mit der Balaclava-Sturmhaube. Silvester 2014 hatte sie ihren ersten öffentlichen Auftritt – als Support von Diplo und Skrillex im Madison Square Garden. Danach war sie als «maskierte Rapperin» auf Social Media bekannt. Leikeli 47 verrät in Interviews nur wenig über sich – das hat einen Grund: als Teenager sei sie eine Einzelgängerin gewesen, erzählt sie. Beim Rappen sollen ihr Gesicht und ihr Körper nicht von ihren Fähigkeiten als Musiker ablenken. «Ich finde, dass ich der schickste Tomboy bin, aber ich glaube, dass wir Frauen viele Hürden überwinden müssen, und mein grösstes Ziel auf dieser Welt ist es, meiner Bestimmung als Musikerin zu dienen», sagte sie der Website CR Fashion Book. Mit der Maske entzieht sie sich geschlechtsspezifischen Anforderungen und Zuschreibungen.

Auch Orville Peck trägt aus diesem Grund eine Maske. Allerdings besitzt der Country-Sänger gleich über zwanzig Stück. Sie bestehen aus langen Fransen, die von der Krempe seines Cowboy-Huts herabhängen. Auch Peck schweigt über seine Biographie. Aber umso deutlicher schildert er seine künstlerische Intention. Die Maske sei ein Weg, der Country-Branche ihre inhärente Queerness vorzuführen. Peck erinnert sich an die Country-Shows, die er als Jugendlicher sah, und in denen Cowboys in pinken, mit Strass besetzten Anzügen vom wilden Leben in der Prärie gesungen haben. In seinen Songs setzt er das Spiel mit Ambiguitäten fort und schildert eine Liebe zwischen zwei Sexarbeitern, von der man nicht weiss, ob sie körperlich oder platonisch ist. Aber die Normen, auf die Orville Peck reagiert, ändern sich gerade. Als sich Lil Nas X im vergangenen Jahr geoutet hat, reagierte die Country Szene gleichgültig.

Soviel Glück hat LD, Rapper bei der Londoner Drill-Crew 67 nicht. Er und andere Drill-Rapper stehen unter der Beobachtung der Londoner Polizei. Die Behörde macht sie für den Anstieg an Messerstechereien mitverantwortlich, den die britische Landeshauptstadt seit einigen Jahren erlebt. 2018 setzte die Polizei durch, dass mehrere Dutzend Drill-Videos von YouTube gesperrt werden; die Drill-MCs Krept and Konan sprachen ein Jahr später sogar im Parlament, um den Abgeordneten den Kontext ihrer Texte zu erklären. Auch 67 haben ihren Teil zur Aufklärung beigetragen. Sie führten ein Team von Newsnight, den britischen Tagesthemen, durch Brixton, wo sie aufgewachsen sind. Dabei trug LD sein Markenzeichen, eine Maske aus Metal. Der Grund dafür ist «Scribz», seine vorherige Persona als MC. Die Polizei hatte erwirkt, dass «Scribz» nicht mehr auftreten darf. Also hat LD bei einem Freestyle im Internetsender SBTV eine Maske aus Metall aufgesetzt. Viele MCs folgen seinem Vorbild. Sie tragen Balaclava oder Eishockey-Masken, um ihre HipHop-Persona von ihrer Person zu trennen. Ansonsten müssten sie befürchten, wegen ihrer Raps den Repressionen der Polizei ausgesetzt werden oder von ihren Lehrern, Eltern oder rivalisierenden Rap-Crews wiedererkannt zu werden. Dabei folgt das Tragen der Maske auch einer neoliberalen Logik: LD bezeichnet seine als sein «Brand». Drill-Rapper S1 hat sich vor einigen Monaten anders entschieden. In einem Instagram-Post zeigte er, wie er seine Maske ablegt. «Jetzt steche ich heraus, weil ich nicht mehr wie ein Standard-Drill-MC aussehe», erklärte er im Magazin The Face. Auf Repression zu reagieren, ist zum Teil des Wettbewerbs geworden.

Drill MCs ist nicht die einzige Jugendkultur, die wegen ihrer Masken im Fokus der Polizei steht. In den USA protestieren die Juggalos regelmässig dagegen, vom FBI als Gang ein­gestuft zu werden. Juggalos sind Fans des Detroiter Rap-Metal-Duos Insane Clown Posse und entstammen zumeist der verarmten, unteren Mittelklasse. Statistisch kann man ihnen keine grössere Gewaltbereitschaft als anderen Jugendlichen nachweisen, aber die Homologie ihrer subkulturellen Zeichen – Juggalos schminken sich wie Clowns – trägt dazu bei, dass die Bundespolizei sie als «Gang» klassi­fiziert. 2017 haben 1500 Juggalos dagegen in Washington demonstriert – ohne Erfolg.

Was aber, wenn das Tragen einer Maske eben nicht der Abwehr staatlicher Repression oder normativer Rollenerwartungen dient, sondern ein politisches Kollektivsubjekt imaginieren will? So versteht es zumindest der nigerianische Musiker Lagbaja, der sich in der Öffentlichkeit mit traditionellen Masken und Kostümen der Yoruba zeigt. «Lagbaja» bedeutet auf Yoruba so viel wie «jedermann». Dieses Pseudonym hat Lagbaja Mitte der 90er Jahre gewählt, nachdem eine Mi­litärregierung die Präsidentschaftswahlen annuliert hat und danach den Bürgerrechtler Ken Saro-Wiwa hinrichten liess. Dieser hatte von der nigerianischen Regierung und den mit ihnen verbandelten Ölfirmen Rechte für die Ogoni eingefordert, die im Ölfördergebiet des Nigerdeltas leben. Auch Lagbaja bezieht sich auf eine Folk-Kultur als Kollektivsubjekt, lässt diese aber bewusst ethnisch und geographisch offen. Durch seine Anonymität setzt er sich zudem von den zwei dominanten Künstlertypen des nigerianischen Pop ab, wie der Ethnomusikologe Christopher Waterman ausführt: dem «reichen Machertypen» in Gestalt von King Sunny Adé und dem «Schwarzen Präsidenten» Fela Kuti. Beide spiegeln auf ihre Weise den autoritären Neoliberalismus Nigerias wieder. Das Versprechen von Lagbaja dagegen ist ein egalitäres: Jedermann kann seine Maske tragen.

Christian Werthschulte ist Redakteur bei der Kölner Stadtrevue und berichtet über Pop und Politik für taz, Jungle World, WDR, Deutschlandfunk Kultur und die Buchreihe «testcard».

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