Tja. Eigentlich hatte ich schon eine Kolumne für diesen Monat parat. Und eigentlich wollte ich gerade raus an die Sonne – nur noch ganz kurz auf Facebook. Zuoberst in der Timeline lief ein Video (natürlich stumm, mit Untertiteln) und so nebenbei sah ich mir das an, während ich im Chat einen Text für die kommende Ausgabe besprach.

Im Augenwinkel also Frauen, die erzählen, wie sie sexuell belästigt wurden. Nach einer Weile sah ich an ihren Lippen (weil ja ohne Ton), dass sie Schweizerdeutsch sprachen, und dass ich zwei von ihnen kenne. Und ich merkte, dass das das Video ist, für das ich vor ein paar Tagen angefragt wurde, auch einen Beitrag zu machen. Ich bin bis jetzt noch nicht dazu gekommen auf die Anfrage zu antworten; es ist ja immer viel los, und meine Mutter war gerade zu Besuch. Es ist mir aber nicht einfach untergegangen, vielmehr beschäftigte es mich, ich redete sogar mit meiner Mutter darüber. Ich sagte: «Ich mach das nicht gern, so Videos, ich schreibe lieber, dort kann ich besser denken.» Aber auch: «Wir kennen das ja alle – was bringt es, wenn nun jede ihre Erfahrungen ausbreitet?»

Und doch musste ich darüber reden: weil mir mein Zögern komisch aufstiess, und meine Erklärungen meinen eigenen Überzeugungen widersprachen. Manchmal hilft das ja, Gedanken auszuformulieren, um Klarheit zu kriegen, also versuchte ich dasselbe später am Abend noch einmal mit meinem Freund. Ich sagte: «Weisst du, es soll ein Video werden, wie es das auf Hochdeutsch genau schon gibt. Das ist doch unnötig. Es ist ja dasselbe.»

Und nun bin ich ziemlich perplex. Ist es doch nicht das gleiche? Am Ende dieses Videos, in dem Frauen auf Schweizerdeutsch so grässlich alltägliche und bekannte Erfahrungen erzählen, hätte ich weinen können – wenn ich nicht sofort hätte anfangen müssen das zu schreiben.

Einerseits hatte ich das Verlangen, auch gleich etwas zu schildern, was mir dieses Jahr passiert ist, was mich erst beschäftigt und verwirrt hat, was ich dann möglichst schnell verdrängt und vergessen habe.

Andrerseits macht es mich fertig, dass der Fakt, dass diese Frauen ihre Geschichten in meiner Muttersprache erzählen – denn ich denke, es liegt an der Sprache – dass mich das mehr rührt, als wenn es Hochdeutsch oder Englisch wäre, was ich ja genausogut verstehen kann. Woran liegt das?

Ich kann es (noch?) nicht beantworten. Stattdessen werde ich also meine neuste Folge in dieser Serie solcher Geschichten erzählen – obwohl und gerade weil es unzählige davon gibt, und bestimmt die meisten Frauen sie so oder ähnlich selber schon erlebt haben. Unerhört ist es nämlich trotzdem, nicht nur, was passiert ist, sondern auch, wie ich reagiert habe.

Klassisch: Eine Gruppe von Freunden feiert im abgelegenen Schrebergarten einen Znacht. Wegen anhaltenden Regens übernachten wir dort, es ist eng, ich schlafe in einem Bett mit zwei Männern. Neben mir liegt einer, den ich sehr mag, als Kolleg. Ich wache davon auf, wie er mir die Hand in die Unterhose schiebt. Ich schlage sie weg – er lacht. Ich liege versteinert da und weiss nicht, was machen. Irgendwann stehe ich auf und lege mich auf den Boden. Am Morgen tue ich, als ob nichts wäre. Schliesslich ist er ein Kolleg. Ich erzähle es lange niemandem, aus Scham, aus Angst, es könnte rumgehen, ich würde mit Männern ins Bett steigen, die nicht mein Freund sind. Und auch: aus Rücksicht auf ihn.

Es kommt mir immer noch komisch vor, das zu veröffentlichen. Aber wie wichtig das ist, ging mir ebenfalls heute auf Facebook auf, ein paar Stunden bevor ich das Video sah. Als sich nämlich eine Freundin traute, ermutigt von dieser ganzen me too-Geschichte, über einen tollen Artikel, der vor einem Jahr anonym erschienen ist, ihren Namen zu schreiben. Ich verstand heute Morgen nicht, wieso sie das vorher nicht getan hat – es gibt doch keinen Grund. Nun kann ich es ihr nachfühlen.

Danke allen, die teilen. Es ist – warum nur? – nicht leicht.

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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