Dem KIBAG-Areal kommt für die Entwicklung des linken Seeufers eine Schlüsselrolle zu. Nun zeichnet sich ab, dass die Eigentümerin ihre Absichten konkretisiert. Als politische Reaktion darauf will das Amt für Städtebau (AfS) der Stadt Zürich mit der Testplanung «Seeufer Wollishofen» freiräumliche und städtebauliche Szenarien entwickeln; klären, was das öffentliche Interesse an diesem sensiblen Ort am Seeufer ist; und überprüfen, ob die Nutzungsplanung angepasst werden muss. Klar ist, dass auf dem KIBAG-Areal ein grundlegender Konflikt zu Tage tritt: Wie öffentlich oder wie privat soll Zugang und Nutzung des Zürcher Seeufers sein?

Auf dem KIBAG Areal wird seit rund hundert Jahren Kies vorwiegend aus dem Obersee zu Beton für den städtischen Baumarkt verarbeitet. Die Anlage liegt auf Konzessionsland, d.h. auf Land, das dem See durch Aufschüttungen abgerungen wurde. Konzessionsland ist bis in die 1990er Jahre meist in privates Eigentum übergegangen. Doch der Staat hat spezielle Regeln für dessen Nutzung erlassen, um den Schutz des Seeufers zu gewährleisten. Die Konzessionsinhaber:innen sind zudem weiterhin umfangreichen Pflichten unterworfen. Das KIBAG Areal liegt also auf einem aussergewöhnlichen Flecken Land, das nie nur privaten Eigentumsansprüchen untergeordnet ist.
Mögliche zukünftige Nutzung und Gestaltung des Areals sind in Sonderbauvorschriften, die 2008 vom Stadtrat und Gemeinderat verabschiedet wurden, festgehalten. (Interessant dabei: In der gemeinderätlichen Kommission unterstützten die Vertreter:innen von SP, FDP und SVP die Vorlage, dagegen stimmte nur der AL Vertreter – die Kommissionsmitglieder der Grünen, CVP und EVP enthielten sich der Stimme.) Vorgesehen ist eine gemischte Nutzung des Areals mit einem Wohnanteil von 33 Prozent. Am See ist Wohnen für zahlungskräftige Kund:innen vorgesehen, wie in den verabschiedeten Sonderbauschriften zu lesen ist: «Wie bereits dargelegt, soll künftig am See eine der Lage entsprechende Überbauung im oberen Wohnsegment erstellt werden. Nach heutigem Planungsstand ist eine Lösung mit Einzelbauten vorgesehen (…). Der geplante Bebauungstypus gewährleistet eine hohe Nutzungsflexibilität (Geschosswohnungen, Maisonettewohnungen oder «Villen» am See) und ermöglicht, dass alle Wohnungen über Seesicht verfügen.» Die Sonderbauvorschriften folgen also dem Geist, der ab Ende der 1990er Jahre die Zürcher Stadtplanung und -entwicklung geprägt hat, nämlich mehr privaten Wohnungsbau zu ermöglichen, um kräftige Steuerzahler:innen anzulocken. Die damals formulierten Wachstumsziele konnten mit der Transformation von grossflächigen Industriearealen vor allem im Norden und Westen von Zürich quantitativ erreicht werden.
Auch wenn der Geist der 90er Jahre vielerorts noch spürbar ist: Die Bedingungen der städtischen Planung haben sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Die Stadtbevölkerung ist seit 2000 um mehr als 20 Prozent gewachsen – von rund 360’000 auf rund 435’000 Einwohner:innen. Das Wachstum hat den Druck auf die bereits knappen Freiräume erhöht. Grünanlagen, die früher dem Quartier dienten, werden vermehrt von Menschen aus der ganzen Agglomeration genutzt. Die Klimaerhitzung akzentuiert den gewachsenen Bedarf an grünen Freiräumen zusätzlich. Da die freien oder transformierbaren Flächen in der Stadt immer weniger werden, sind sie zunehmend Projektionsfläche für immer mehr und oft widersprüchliche politische Ziele. Speziell das Seeufer ist nicht nur aus ökologischer, sondern vor allem auch aus politischer Perspektive höchst sensibles Terrain. Ein Blick in die Vergangenheit lohnt sich, um zu verstehen, wie die Bedeutung des Sees und die planerischen Strategien im Umgang mit dem See immer auch Ausdruck zeitgenössischer Problemlagen sind.

Zürich hat sich als Stadt am Fluss entwickelt. An der Limmat gibt es engen Bezug zwischen gebauter Stadt und dem Wasser. Linke und rechte Limmatseite sind sichtbar verknüpft. Erst mit Arnold Bürklis städtebaulichem Wurf hat sich die Stadt dem See zugewandt. Die Quai-Anlagen, die Ende des 19. Jahrhunderts erstellt wurden, formulierten in grosser Einheitlichkeit die Beziehung zwischen Stadt und See neu. Mehr als 20 Hektaren Land wurden dazu aufgeschüttet. Entlang des Sees wurden Prachtbauten zu Raumkanten. Von Bäumen gesäumte Promenaden trugen zum Bild einer Grossstadt bei. Mit markanten Uferbefestigungen wurde das Wasser strikt vom Land, der Flanierzone getrennt. Gestalterische Absicht war, eine dramatische Naturlandschaft mit See im Vordergrund und Alpenpanorama im Hintergrund zu inszenieren und der sittlich, geordneten Stadt gegenüberzustellen. Zivilisierte Stadt und urwüchsige Natur wurden klar getrennt. Diese Neuausrichtung auf den See zeigt sich etwa auch beim Baden: Während vorher die Zürcher:innen in Badeanstalten in der Limmat («Badehaus für Frauenzimmer», 1839) oder im Schanzengraben («Männerbad Schanzengraben», 1863) geschwommen und sich gepflegt haben, wurden nachher mehrere Badeanstalten, sogenannte Kastenbäder im See erstellt («Badeanstalt am Bürkliplatz», 1883; «Badeanstalt Tiefenbrunnen», 1886; «Badeanstalt Utoquai», 1890; «Badeanstalt Belvoirpark», 1888; «Badeanstalt beim Quaipark», 1888 «Badeanstalt Wollishofen», 1886). Mit ihren Stegen, die Wasser und Land verbanden, bildeten die Bäder gewissermassen Aussenposten der Stadt im See.
Bürklis Wurf sollte im 20. Jahrhundert kein neuer folgen. Vorschläge wie diejenigen von Karl Moser für einen kompletten Neubau der Altstatt (1933), von Werner Müller für einen neuen Seepark (1956–1974) oder von André Bosshard für eine City im Seebecken blieben in der Politik oder dem Stimmvolk letztlich chancenlos. Jedoch begann der Alltag am historischen Bild zu nagen: Autoverkehr veränderte Zugang, Atmosphäre und Geräuschkulisse im Bereich der Quai-Anlagen. Die Seeregulierung um 1950 machte den Gang des Gewässers planbar und öffnete den See damit für neue Nutzungen, die sich schliesslich in Form von Bauten am Ufer niederschlugen: Volksbäder, Hafenanlagen, Ruderhäuser, Gewerbebauten etc. Auf die Zunahme an Nutzer:innen reagierten Planung und Betreiber:innen mit temporären Massnahmen: Abschrankungen, Toilettenhäuser, Kioske, Abfallstellen etc. entstanden. Punktuelle ad hoc Lösungen nahmen zu, je mehr der See als städtischer Freiraum mit Aussicht an Bedeutung gewann. Mit der Entfernung der «Rasen betreten verboten» Schilder in den 1980er Jahren wurde die städtische Bevölkerung eingeladen, die Seeufer wieder für sich zu entdecken – jedoch nicht mehr, wie zu Bürklis Zeiten, im Modus bürgerlicher Öffentlichkeit sondern unter Bedingung gesellschaftlicher Pluralität.
Die Stadtplanung reagierte. Im ersten Freiraumkonzept der Stadt Zürich 1987 wird das Seeufer erstmals als Bestandteil eines gesamtstädtischen «Freiraumsystems» verstanden, das der Bevölkerung zugänglich gemacht, erhalten und gefördert werden soll. Auf Initiative des Quartiervereins Wollishofen wurde parallel dazu das Savera-Areal neben dem GZ Wollishofen geöffnet und in einen öffentlichen Grünraum transformiert. In grossem Kontrast zu den Quai-Anlagen wird hier eine gezähmte und erlebbare Natur gestaltet. In der Tradition der naturnahen Landschaftsgestaltung wird die Grenze zwischen Kultur und Natur verwischt. Die Landschaft soll nicht als wilde und unberührte Natur, sondern als nutz- und erlebbarer Freiraum erscheinen. Die ungestaltet erscheinende Gestaltung determiniert nicht eine bestimmte Öffentlichkeit oder Nutzung, sondern ist für unterschiedliche Bedürfnisse und Gruppen offen. Freiraum und Seezugang für alle.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts rückt der See und das Seeufer wieder in den Fokus der Planung. Die Vision für die Stadt am See, vom Amt für Städtebau 2002 auf der Grundlage von Vorschlägen dreier Planer:innenteams entwickelt, beschäftigt sich eingehend mit der Beziehung zwischen Stadt und See. Das öffentlich zugängliche und vielfältig nutzbare Seeufer wird in der Vision als unschätzbarer Wert ins Zentrum gestellt. Die KIBAG und Franz AG Areale werden spezifisch betrachtet: Hier soll im Dialog mit der Roten Fabrik ein besonderes Quartier entstehen. Wohnen sei nur unter Vorbehalten denkbar, Freiraum und Ufer müssen durchlässig und öffentlich sein. Im Erdgeschoss seien öffentliche Nutzungen sinnvoll, die sich auf den See beziehen. Von dieser Grundhaltung rückt die Stadt Zürich im Leitbild zum Seebecken 2009 etwas ab. Es ist wohl als Echo auf die im Jahr davor verabschiedeten Sonderbauvorschriften zu werten, dass nur wenige Jahre nach der Publikation der Vision nun doch im Zielbild skizziert wird, dass auf dem KIBAG Wollishofen zukünftig gewohnt, gearbeitet und flaniert werden soll. Dies obwohl bekannt ist, dass das Wohnen als starke und raumgreifende Nutzung die Offenheit und Vielfältigkeit der Seeufernutzungen und im Bereich der Roten Fabrik gefährden würde.

Der Fall scheint klar – oder zumindest der Konflikt, der auf dem KIBAG Areal ausgetragen werden wird: Wie vehement soll der öffentliche Charakter des Sees und dessen Uferbereich als Freiraum gegenüber privaten Interessen verteidigt werden? Die Entwicklung des Zürcher Seeufers verlangt nach einem neuen städtebaulichen Wurf, der es schafft, den See und den Zugang zum See als Gemeingut städtebaulich zu verankern. Denkbar, dass eine Bedingung dafür ist, dass Konzessionsland wieder zurück ins öffentliche Eigentum übergeht. Im Ergebnis bedeutet eine solche städtebauliche Haltung nicht zwingend, überall grösstmögliche Öffentlichkeit zu schaffen. Eine undifferenzierte Öffnung kann bestehende Qualitäten durchaus gefährden. Genauso kontraproduktiv wären aber auch neue Einhegungen, wie sie gehobenes Wohnen am See zwangsläufig zur Folge hätten. Dadurch würden neue Hürden, Abschrankungen und Konflikte aufgebaut. Es müsste das Ziel eines neuen städtebaulichen Wurfs sein, bislang abgeschottete Räume poröser zu machen und damit Zürich mehr See zu geben.

Philippe Koch ist Professor mit Schwerpunkt Stadtpolitik und urbane Prozesse an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und im Vorstand der verkehrspolitischen Umweltorganisation umverkehR.

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