In Europa unterscheidet man zwischen Menschen mit Pass und Menschen ohne Pass. Das wusste ich nicht. Man behandelt mich als Geflüchtete, als «Flüchtling», als eine Person ohne Papiere und ohne Rechte.

Wir sind aus einer Notlage geflüchtet, dachte ich. Aber unsere Ankunft bedeutet eine Notlage für die Bevölkerung hier.

Unsere Situation im Lager ist ein Notfall, dachte ich. Aber Menschen wie «wir» müssen erst tot sein, bevor man in Europa unsere Not anerkennt.

Wir alle sind Notfälle in dieser kleinen Lagerwelt mit über 15’000 Insassen. Wir sind im Sommer der Sonne, im Winter den Regenfällen ausgesetzt, wir leben inmitten von Müll, Schmutz und Abwässern, wir sind ständig gestresst und fühlen uns unsicher und fürchten die Gewalt des europäischen Asylsystems.

Viele von uns kommen mit Verletzungen an Seele und Körper in Moria an. Aber auch die Gesunden werden hier krank. In unserer Situation wird jede Krankheit zusehends zu einem Notfall.

Wir sind verloren zwischen unseren Vorstellungen von Schutz und den von ihnen errichteten Blockaden.

Schaut! Wie sieht denn unser Leben aus im Hotspot Moria? Wir verbringen Tage, Wochen, Monate damit, über Felsen, die Hügel auf und ab und zwischen den Bäumen hin und her zu laufen, während Stunden in Warteschlangen zu stehen. Wir sind verloren zwischen unseren Vorstellungen von Schutz und den von ihnen errichteten Blockaden, die uns daran hindern, einen sicheren Ort zu erreichen.

In Europa spielt man mit uns wie mit Pingpongbällen. Die Behörden kicken uns von einem Amt zum nächsten, hin und her, ohne Ende. Und wir verstehen das Was, Wo, Warum nicht – was es noch schlimmer macht. Und selbst wer es schafft, eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen, selbst wer erfolgreich ist, entkommt dem diskriminierenden Blick nicht, der uns tagtäglich verfolgt.

Sind wir von anderer Qualität? Gehören wir zu einer anderen Klasse? Einer anderen Art? Nein! Wir sind einfach Menschen mit tausend unterschiedlichen Geschichten. Uns verbindet nur, dass wir unsere Heimat verlassen mussten.

Hört auf, uns anders zu behandeln. Hört auf, zu lügen und uns vorzumachen, dass wir in Europa Sicherheit finden. Hört auf zu sagen, Europa sei ein besserer Ort – denn das gilt nur für ganz wenige, und für den Rest bleibt die Tür verschlossen.

Unser Schicksal hängt von bürokratischen Entscheidungen ab; davon, ob der Migration ein ökonomischer und strategischer Wert beigemessen wird.

Man behandelt uns anders als man die Menschen auf Lesbos, in Griechenland oder in Europa behandelt. Unser Schicksal hängt von bürokratischen Entscheidungen ab; davon, ob der Migration ein ökonomischer und strategischer Wert beigemessen wird – oder nicht; von der vorherrschenden politischen Stimmung in Europa. Und nicht davon, dass wir alle miteinander verbunden sind, weil wir doch zu derselben Art gehören.

Ich bin ein Mädchen, und ich denke während nicht enden wollender Tage über diese Welt nach. Und ich warte auf die Erlaubnis, diesen Ort verlassen zu dürfen.

Parwana Amiri, *2004 in Afghanistan, lebt zurzeit in Griechenland und ist als Autorin, Bloggerin, politische Aktivistin und Lehrerin tätig. Während ihrer Zeit im Registrierungs- und Aufnahmezentrum Moria auf Lesbos begann sie, den Blog «Brief an die Welt aus Moria» zu schreiben. Darin protokolliert sie Geschichten von verschiedenen Menschen, mit denen sie im Flüchtlingslager lebte. Ende Dezember 2019 wurde Parwana Amiri mit ihrer Familie in das Ritsona Refugee Camp auf dem griechischen Festland transferiert.
Dieser Text ist ein Auszug aus Parwana Amiris «Meine Worte brechen eure Grenzen. Briefe an die Welt aus Moria» (essais agités, 2021). Übersetzt aus dem Englischen von Johanna Lier. Das Original erschien 2019/2020 bei welcome2europe unter dem Titel «Letter to the World from Moria».

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