Der Sturm hat das tote und das grüne Holz aufgewühlt. Der Sturm hat Kautschuk- und Papayabäume zerbrochen. Die Stämme sind zu Boden gefallen und die fortgehwehten Äste liegen nun wie Leichen auf der Strasse. Saftige Fruchtschädel sind im Schlamm aufgeplatzt. Der Bruder und die Schwester verlassen an diesem Tag der wunderbaren Katastrophe mit ihren Fischernetzen das Haus.

Draussen, auf dem Weg nach unten, bestaunen sie das prachtvolle Ausmass der Verwüstung. Der riesige Mangobaum, ihr einheimischer Nahrungslieferant, ist auf der Hütte der Tia Raquel eingestürzt. Die Krone hat Blechdach und Lehmwände durchbrochen. Es scheint, als hätten die Zweige der kräftigen Blätter in dieser Nacht ihre letzte Opfergabe dargebracht – eine Lawine reifer Mangos, die die Tia später aus den Trümmern ihres Zimmers ernten wird.

Eine schwere Stille lastet auf den, mit all der Materie, die der Sturm aufgewirbelt hat, verschmutzten Hängen der Nachbarschaft. Die Schwester und ihr Bruder sind bereits bis zu den Knie voll mit Schlamm und machen breite Schritte über die fischsuppenfarbenen Pfützen, über diese Erdkrater, auf deren Oberfläche Blütenblätter und Müll treiben. Der heutige Morgen scheint den beiden Kindern wie ein seltsamer Festtag zu sein. Wie das unglückliche Ergebnis eines Feuerwerks vielleicht oder wie die unkontrollierte Tat einer gigantischen Konfettikanone. Als ob die Stadt in tausende Stücke explodiert wäre. Und die beiden Kinder, mit ihren Netzten in den Händen, sind die Einzigen, die sich einen Weg hinunter durch diese Bruchlandschaft bahnen. Zwei kleine Schatten, die im steilen Schlamm spielen. Zwischen Glas und Eisen. Zwischen Gestein und Plastik. Und der Junge, der an seinen Füssen ein Paar huaraches mit soliden Reifenprofilen trägt, führt seine kleine Schwester an der Hand und weist ihr den Weg. Er macht den Boden für ihre nackten Füsse sauber. Er kickt in die Mangos und in diese sauren Pflaumen, die man hierzulande Hundefrüchte nennt. Er bückt sich, um Glasflaschen aufzuheben, um die kantigen Trümmer des Orkans wegzuwerfen. Und das kleine Mädchen, noch im Halbschlaf, folgt blind dem Rhythmus ihres Bruders und bleibt erst wieder stehen, als er die Hand hebt, ein Zeichen dafür, dass er sich bücken muss, um den Weg erneut frei zu machen.

Eine Truppe schwarzer Rabengeier schwebt unheimlich über den verbeulten Hütten der Colonia Diaz Ordaz, wo sich jede einzelne Dachrinne gelöst hat und wo die Hausdächer dem Regen und den Windböen nachgegeben haben. Gestern fiel nämlich das Äquivalent von drei oder vier Regenzeiten. Aus Furcht vor einer Wiederholung verkriechen sich die Bewohner immer noch in ihren Ruinen, nur ab und an hört man etwas wie ein Rascheln, oder wie die Bewegungen gehetzter Tiere. Die alten Frauen versuchen, feuchte Streichhölzer anzuzünden. Kinder drehen sich auf den schmutzigen petates um, in der Hoffnung, ihre Träume dieser chaotischen Nacht wiederzufinden. Die Leute werden erst dann wieder rausgehen, wenn der Tag hell und blau sein wird. Wenn alle davon überzeugt sein werden, dass die Bedrohung endgültig vorbei ist.

Am Fusse des Hügels, kurz vor der Überquerung der Calle de la Universidad, bleibt das Mädchen vor einer starren Maultierleiche stehen. Das Tier ist sowohl starr als auch verrenkt und es liegt auf die Seite gekippt in einer Drecklache. Zwei Rabengeier stürzen sich auf das Aas und einer der beiden beginnt dem Tier die Augäpfel aus den Augenhöhlen zu saugen. Und um es leichter ausweiden zu können, knabbert der andere am Anus des Maultiers. Die Kleine kennt dieses Maultier gut, es gehört Chucho dem Schweinehirt, dem guten Mörder, der bei Mondschein die Eber ausbluten lässt.

Der Junge packt seine Schwester am Arm und er verbietet ihr, hier zu verweilen, sie haben nämlich noch eine Menge Arbeit vor sich heute. Sie sind die allerersten Fischer.

Der Bruder zieht am Arm seiner Schwester und schleift sie auf die überflutete Strasse, die zu einem Flussbett aus dickem roten Schlamm geworden ist. Mit dem Wasser bis zum Bauch kommt die Kleine kaum mehr vorwärts, und die Strömung treibt sie gleich zweimal von ihrem Bruder weg, und zweimal fängt er sie auf und hält sie fest, dann packt er sie mit beiden Händen und trägt sie bis ans andere Ufer, legt sie dort auf den Gehsteig, bevor er selbst aus dem Wasser steigt.

Um an die Küste zu gelangen, müssen sie nur noch eine letzte Gasse überqueren. Und in dieser Gasse, sehen die beiden Geschwister, dass alle Blech- und Holzhütten buchstäblich zertrümmert wurden. Alles wurde plötzlich zu Nichts verwandelt. Keine lebende Seele ist mehr in der Gasse zu hören. Der Bruder hebt seine Schwester auf den Rücken, geht weiter und im Gehen schiebt er die verschiedenen Trümmer vor sich her. Treibholz. Toter Fisch. Haushaltswäsche. Und der Bruder stochert mit einer Hand herum und aus dem faulen Wasser zieht er Agglomerate aus Textil und Gips, Algen und zermahlenem Kunststoff, die, von der Strömung getrieben, wie tote Aale gegen seinen Bauchnabel prallen. Der Junge hebt einzelne stinkende Kleiderstücke vor seinem Gesicht hoch, schaut sie einen Moment lang an und wirft sie dann wieder weg. Dieses Elendsviertel wird wohl nichts Wertvolles ausspucken.

Und während die Geschwister wie ein einziges zwei-köpfiges Wesen langsam die Gasse hinunter gehen, stösst der Kopf der Kleinen im Rhythmus der Schritte sanft
gegen den Nacken ihres Bruders. Sie schaut auf die Rot-algenwedel, die sich zwischen den Maschen des alten Agavennetz, welches sie im Sumpf hinter sich her zieht, verklumpen und sie fühlt sich zutiefst friedlich und glücklich, als wäre es der nächste Tag, oder vielleicht, als wäre es der Vorabend eines grossen Festes. Und geschaukelt von den Schritten, vom Plätschern der trüben Wellen, und leicht berauscht von den Natron und Benzindämpfen, die aus der verwüsteten Stadt strömen, schläft das kleine Mädchen für eine kurze Weile ein. Ein paar Sekunden. Und während dieses kurzen Schlafs träumt sie von einem stillen Meer. Von einem Ozean, der sich unendlich weit ausdehnt und auf welchem sie auf einer tukanköpfigen Boje segelt. Und die tukanköpfige Boje sagt zu ihr: Kleines, du warst ein gutes Mädchen, aber jetzt musst du auf die andere Seite der Welt gehen. Und der Tukan grinst. Und das Mädchen wacht plötzlich auf. Sie haben das Ende der Gasse erreicht. Und da stehen die beiden Geschwister an der Küste, isoliert auf einem dünnen Asphaltstreifen. Vor ihnen liegt der Ozean, das seltsam flache Meer unter dem bleifarbenen Himmel. Unter dem Himmel, der nur von einer dünnen und verdächtigen Lichtwunde durchbohrt wird, dort, weit entfernt. Die beiden Geschwister betrachten die Landschaft und sie müssen zugeben, dass ihr kurzes Leben ihnen noch nie zuvor ein solch grandioses Spektakel geboten hatte. Die Küstenpromenade hat sich über Nacht in einen tosenden Fluss, in eine fliessende Müllhalde verwandelt. Leichen entwurzelter Palmen liegen auf dem Boden, Autowracks und Fahrradwracks hocken in der Strömung des Wassers und auf der anderen Seite des Flusses, abgeflacht und völlig zerfallen und teilweise verkohlt, steht einer dieser blau-weissen Busse der Stadt. Einzelne Menschen winken von hier und von da wie lächerliche Insekten. Wie orientierungslose Termiten nach einem Ameisenbär-Angriff. Wie dumme Termiten, die sich weigern, im Angesicht der Plage abzudanken. Einige von ihnen thronen auf der Spitze riesiger Trümmerpyramiden und graben unerbittlich, sie graben und verschieben Betonhaufen um ein oder zwei Meter. Und andere sind erschöpft oder starren einfach nur auf die Verwüstung, als ob sie sich nur schwer von ihr überzeugen könnten. Und auch die Geschwister fühlen sich, als wären sie mitten in einen Traum geworfen worden. Ein schöner Traum von einer Wiederbelebung. Und jetzt laufen sie hintereinander auf dem dünnen Asphaltstreifen, der stellenweise immer wieder unter dem Wasser verschwindet. Und während sie rennen bewundern sie all diese deformierten und nicht wiederzuerkennenden Wesen und Dinge. Ein Schild, das aus einem Laden in der Altstadt gerissen wurde, kommt, um seine Botschaft zu übermitteln: aqui se repara todo. Weiter auf dem gegenüberliegenden Ufer lockt eine dunkle, zerlumpte Masse ihren Blick an. Menschliches Aas. Und die Geschwister können nicht anders als ins grünliche Gesicht des Ertrunkenen zu schauen, der aus diesem Blickwinkel weder mehr männlich noch weiblich, noch menschlich wirkt, sondern eher wie die morgendliche Belohnung der Rabengeier.

Der Bruder und seine Schwester nähern sich dem Ziel ihrer Wanderung. Das grosse Hotel um die Ecke. Das angesehenste Küstenhotel dessen im Verhältnis zur Promenade abgesenkter Eingang in eine Art Pool verwandelt wurde, der von den massiven Steinmauern der Treppen auf beiden Seiten umrandet wird. Und auf den Steinmauern sitzen andere Kinder der Hügelsiedlungen, wie Krähen aneinandergereiht, kleine finstere Bettler, die neugierig darauf zu warten scheinen, dass sie endlich an der Reihe sind.

Die Schwester klettert wieder auf den Rücken ihres Bruders und gemeinsam betreten sie das schlammige Wasser des Beckens vor dem Hotel. Die andern Kinder folgen ihnen. Und so betreten sie alle, schwimmend, das grosse Hotel, dessen Glastüren vom Orkan zerbrochen wurden. Und die Schwester und der Bruder schwimmen leise durch die versunkene Lobby. Das Hotel ist leer. Ein gigantisches Wrack eines Ozeandampfers. Keine Menschenseele. Das Wasser ist bis auf die Höhe der Rezeption gestiegen. Korbstühle und Koffer und Blechdosen und luxuriöse Kostüme schwimmen auf der Wasseroberfläche. Und die Kühlschränke der Reichen und das Essen der Reichen und die Reichtümer der Reichen. Und der Junge und die Schwester tauchen mehrmals ab, um die Geschenke mit dem Fischernetz einzufangen und unter Wasser fühlt sich die Kleine, die sich mit all ihrer Kraft an den Bruder klammert, zutiefst glücklich, zutiefst friedlich und zufrieden. Wie am nächsten Tag, oder vielleicht wie am Vorabend eines grossen Festes.

Rebecca Gisler schreibt Prosa und szenische Texte, auf Deutsch oder Französisch. Sie lebt und studiert in Paris.

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