Sie hat eine Stimme, die alles niederstrecken kann, wenn sie denn will: Bekannt geworden als Sängerin der Band Gossip, ist Beth Ditto neuerdings als Solokünstlerin unterwegs – und richtet sich musikalisch neu aus.

 

Oh oh oh
Standing in the way of control
Standing in the way of control
Standing in the way of control


Erst die schlechte Nachricht: Die Wucht weg. Gossip gibt es nicht mehr. Die Band, die sich aus der alternativen Szene der Westküste langsam hochgespielt und auf unzähligen Bühnen sehr viel Schweiss gelassen hat, und der wir schlussendlich Songs wie «Standing In The Way Of Control», «Heavy Cross», «Love Long Distance», «Coal To Diamonds» oder «Move In The Right Direction» zu verdanken haben, hat sich Anfang letzten Jahres aufgelöst. Ein Schritt, der angesichts der Entwicklung der letzten Jahre eigentlich nur als logische Konsequenz betrachtet werden kann. Immer mehr entwickelte sich die Musik in Richtung Mainstream und Radiotauglichkeit, immer stärker schien Sängerin Beth Ditto die beiden anderen Mitglieder – Schlagzeugerin Hannah Blilie und Gitarrist Nathan «Brace Paine» Howdeshell – zu überschatten.
Schlussendlich machten sie denn auch Musik, die dieser Dreiecks-Konstellation gar nicht mehr entsprechend war. Nach dem Ausflug in die Dancefloor-Ecke mit Simian Mobile Disco im Jahr 2011 – damals erschien eine hörenswerte EP, auf der Ditto entdeckte, dass ihre Stimme beileibe nicht nur zum Schreien geeignet ist – schien es nur eine Frage der Zeit, bis sich Ditto ganz von ihrer Band, mit der sie seit 1999 zusammengespielt hatte, abkoppeln würde.

Schade um die Wucht.

Nun die gute Nachricht: Sie ist uns erhalten geblieben. Beth Ditto, vor 36 Jahren als Mary Beth Patterson zur Welt gekommen und in der Provinz von Arkansas aufgewachsen, singt immer noch – und der hohe Emotionsfaktor ist geblieben. Mit «Fake Sugar» erschien im Juni dieses Jahres ihr Debütalbum als Solokünstlerin. Ein Schritt, für den sie einen weiten Weg zurücklegen musste. Lange fehlte es ihr an Selbstvertrauen. «Punk gab mir die Erlaubnis dazu, alles zu tun, worauf ich Lust hatte. Ich durfte mich so ausdrücken, wie ich wollte», sagte sie kürzlich gegenüber der französischen Zeitschrift «mademoiZelle». Da habe es auch nichts ausgemacht, wenn ein Song mal nicht fertig gewesen oder ein Refrain nicht perfekt gewesen sei. Sie konnte einfach alles rauspowern, alles rausschreien – so wie es ihr gerade passte.

Dass sie auch das Talent besitzen, diese Energie in runde Songs zu packen, zeigten Gossip erst nach und nach. «Standing In The Way Of Control» von 2006 ist ein eindrückliches Beispiel dafür. Der Song setzte ein klares Zeichen gegen das von der Bush Regierung initiierte Federal Marriage Amendment, das die Ehe als einen Verbund von Mann und Frau definierte.

Der Song ist musikalisch relativ simpel aufgebaut, sein Reiz ergibt sich vor allem durch die Dynamik. Es scheint, als hole sie während den Strophen den Schwung, als sänge sie sich in Rage, nur um den Refrain schliesslich geradezu herauszuschreien. Danach wird sie für einen Moment wieder gelassener. Die Musik kombiniert Punk-Attitüde und Disco-Rhythmus. Eine Kombination, welche die Band im Anschluss auch auf dem Folgealbum «Music For Men» und Song wie «Heavy Cross» und «Love Long Distance» beibehielt.

Und wie gesagt: Spätestens auf dem letzten Gossip-Album «A Joyful Noise» hatte sich der Sound schon so abgeschliffen, hatte sich vom Punk und Indie Rock so weit in Richtung schmatzigem Radiopop mit Electro-Elementen wegbewegt, dass man streckenweise nicht mehr zuhören wollte. Es scheint wirklich, als wäre diese Trennung endgültig und unumgänglich. Schade um die Wucht.
«Klar, Punk hat mich stark geprägt. Als ich in der Highschool war, kam Grunge auf, dann die ganze Riot-Grrrl-Bewegung. Aber vorher hatte ich im Chor und in der Kirche gesungen. Ich hatte eine ziemlich gewöhnliche Stimme. Die Jungs von Simian Mobile Disco haben mich wieder dorthin zurückgeführt», sagte die Sängerin 2011, kurz vor der Veröffentlichung ihrer ersten Solo-EP, gegenüber dem Schreibenden.

Ich liebe Country, ich liebe Garth Brooks und Reba McEntire – und das sage ich jetzt ohne jegliche Ironie

Wer mit ihr redet, erlebt sie als komplett entwaffnend. Sie ist so herzlich, so direkt. Man fühlt sich sofort gut aufgehoben. Alle Coolness ist inexistent, alle Masken fallen. Es scheint, als könnte man mit ihr über alles reden.
«Wie würde ihr neues Album «Fake Sugar» aussehen, wenn es ein Kleid wäre?» wurde sie in dem Interview mit besagter französischer Zeitschrift gefragt. «Da stelle ich mir Siebziger Jahre Chic vor. Ein glänzendes rosa Kleid, sehr glamourös, wie das von Barbie.» Tatsächlich klingt ihr Album nach einer Art Heimkehr. Gemeinsam mit Produzentin Jennifer Decilveo hat sie über weite Strecke ein Südstaaten-Pop-Album aufgenommen, gespickt mit leisen Referenzen an die Siebziger und Achtziger, mit Ausflügen in Soul, Disco und Honky-Tonk.

«Es ist schamlos, finde ich. Im Vergleich mit Gossip weitaus näher an der Musik, die ich privat höre», befand sie selbst. «Ich liebe Country, ich liebe Garth Brooks und Reba McEntire – und das sage ich jetzt ohne jegliche Ironie.»

Trotz aller Authentizität und Ehrlichkeit und der rockig lodernden Single «Fire», fehlen dem Album die Stücke, die einen wirklich durchschütteln. Stücke wie «Standing In The Way Of Control». Stücke, in denen sie ihr Organ, das in den besten Momenten wie eine Mischung aus Janis Joplin und Aretha Franklin klingt, richtig in Stellung bringen kann. Aber das wird sie live wohl mühelos wettmachen. Eine Beth Ditto, die sich auf der Bühne nicht verausgabt, kennt die Welt nicht.

 

Beth Ditto tritt am Sonntag, den 1. Oktober um 20 Uhr im Volkshaus in Zürich auf.

 

Adrian Schräder ist freier Journalist und arbeitet regelmässig für die NZZ, Das Magazin oder das Bieler Tagblatt.

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