Interview von Gregor Huber und Noha Mokhtar
Aus dem Französischen von Patricia Hartmann

Als die Autobahn gebaut wurde, warst du noch ein Kind. Was sind deine ersten Erinnerungen daran?

Das war um 1964, als der erste Abschnitt der A1 zwischen Lausanne und Genf gebaut wurde. Ich war damals für drei Tage mit meinen Pfadfinderfreunden im Wald – direkt neben der Baustelle. Eigentlich war ich gar nicht bei den Pfadfindern dabei, meine Eltern waren dagegen, sie fanden es zu paramilitärisch. Aber weil ich so stürmte, haben sie mir erlaubt, in dieses Pfadi-Lager in den Wald von Versoix zu gehen. Wir sind am Freitag angekommen, als die Maschinen auf der Baustelle noch liefen. Danach sind wir während des ganzen Wochenendes auf der Autobahn herumgelaufen. Es war ein einfacher Streifen aus Erde mitten im Wald. Ich erinnere mich an die gelbliche Erde und an diese Schneise mitten im Wald. Das ist nämlich die Autobahn: Ein Schnitt, der eine Region zweiteilt, der Regionen abtrennt. Das erste, was ich von ihr sah, war diese radikale Trennung von Raum.

Und in dieser Region bist du aufgewachsen?

Überhaupt nicht, ich wohnte auf der anderen Seite, am linken Ufer. Ich habe 13 Jahre lang in Pressy-sur-Vandoeuvres gelebt. Dort waren wir mitten in der Natur, wohnten in einem wunderschönen Anwesen. Nicht, weil wir die Mittel dazu hatten, wir sind vielmehr eingeladen worden. Mein Vater war Schauspieler, wir hatten sehr wenig Geld.

Dein Vater war Schauspieler?

Ja, er verdiente praktisch nichts, eigentlich waren wir arm. Aber wir wohnten in diesem riesigen Haus aus dem 17. Jahrhundert, das war atemberaubend. Die Besitzerin hatte meinen Vater eingeladen, sich dort mit seiner Familie einzurichten. Wir zahlten praktisch nichts, dafür hatte es keine Heizung. 1959 haben wir mit Mützen auf dem Kopf geschlafen. Alles war eingefroren.

Wahrscheinlich gab es auch einen grossen Garten gab?

Ich bin im Paradies aufgewachsen! Es war wundervoll. Und nicht nur der Park, der an unser Haus angrenzte: Die ganze Region gehörte einflussreichen Genfer Familien. Diese Leute hatten die Mittel, die Landschaft auf eine aussergewöhnliche Art zu bewahren. An unserem Schulweg war ein steiler Abhang. Im Winter nahmen wir Schlitten, banden die Füsse daran und rutschen hinunter – zu fünft, sechst, siebt, acht, jeder hielt sich am andern fest. Das war damals kein Problem, weil es 1955 in der Schweiz erst ungefähr 200’000 eingetragene Autos gab. Ich erfuhr also eine Landschaft mit wunderschönen Bäumen, mit perfekter Sicht auf den Mont Blanc. Wir wohnten auf einer Anhöhe. Für ein Kind ist es aussergewöhnlich, die Dinge von oben herab zu sehen, ihnen Herr zu werden. Das weckt Lust auf Abenteuer, zu entdecken, was sich hinter den Bergen verbirgt.

Das erweckte die Reiselust in dir?

Die Landschaft hat mich völlig fasziniert. Ich konnte mich nicht sattsehen und wollte gleichzeitig nur eins: weggehen, die Berge überqueren und die Welt sehen.

Hat dich die Tatsache, an diesem Ort aufgewachsen zu sein, später für deine Berufswahl zum Fotografen beeinflusst?

In Bezug auf meine Arbeit glaube ich, dass viele Dinge aus meiner fabelhaft abenteuerlichen Kindheit rühren. Ich habe immer diesen engen Bezug zur Natur beibehalten. Schon als Kind spürte ich eine fast spirituelle Dimension aller Farben der Natur, wenn das Licht durch die Bäume schimmerte. Vielleicht war es auch dank diesem Ort, dass ich von Anfang an mit Farben arbeiten wollte und nie schwarz-weiss.

Du hast also sehr früh angefangen mit der Fotografie?

Nein, gar nicht. 1969 habe ich Scheisse gebaut, wie alle. Ich war oft auf der Strasse am Demonstrieren, ohne überhaupt zu wissen wofür. Ich ging ins Collège Calvin in Genf. Meine Noten waren nicht genügend, um ins dritte Jahr zu kommen. Der Schuldirektor, der mich nicht mochte, sagte: «Es steht ausser Frage, dass wir Ihre Noten verbessern, Sie müssen das Jahr wiederholen. Ich persönlich würde aber bevorzugen, wenn Sie nicht an unserer Institution bleiben.». Das hat mich gekränkt, gleichzeitig habe ich ihn verstanden: wir waren Aufrührerische. Von einem Tag auf den andern war ich also weg von der Schule. Und weil ich etwas tun musste und mein Cousin ein bekannter Juwelier namens Gilbert Albert war, begann ich in seinem Schmuck- und Juweliergeschäft. Bei meinem Lehrabschluss bin ich als bester Juwelier der Schweiz ausgezeichnet worden. Aber ich merkte schnell, dass das Schmuckgeschäft nicht mein Ding war: acht Stunden in einem Geschäft sitzen, das machte mich wahnsinnig. Ausserdem war das 1968, eine bewegte Zeit, und ich arbeitete für die Luxusindustrie! Obwohl es ein äusserst künstlerischer Beruf ist, war das etwas vom Allerletzten, das man tun konnte. Schliesslich arbeitest du mit Gold, Platin und Diamanten… Ein Jahr später ruft mich ein Freund an und sagt: «Komm mit nach Afghanistan, um den Buzkaschi zu sehen». Der Buzkaschi ist ein ziemlich gewalttätiges Spiel, ein bisschen wie Polo, aber anstelle des Stocks, hat man eine Schafhaut, die man erobern muss, um sie ins gegnerische Feld zu bringen. Alles zu Ross und alles ist erlaubt. Das musste man mir nicht zweimal sagen – zieht jemand los in ein Abenteuer, bin ich dabei! Ich hatte etwas Geld, 2000 Franken gespart, zudem meine Gitarre verkauft. So sind wir also zu zweit losgereist in Richtung Türkei. Dort haben wir viel Zeit verloren, weil es schlicht zu schön war. Zum Buzkaschi, der im Oktober stattfand, hätte ich es nie geschafft. Ich hätte nach Afghanistan hetzten müssen, und darauf hatte ich keine Lust, in Anbetracht des angrenzenden Irans und all der anderen wunderschönen Länder. Ich sagte zu meinem Freund: «Ich steige aus. Lasst mich zurück.»

Ihr wart mit dem Auto unterwegs?

Wir haben Engländer getroffen, die auf dem Weg nach Singapur waren und einverstanden, uns für einen Teil der Reise mit an Bord zu nehmen.Ich habe meinen Rucksack genommen und bin allein in Richtung Syrien aufgebrochen. Mit meinem Beruf als Juwelier, so sagte ich mir, würde ich schnell Arbeit finden. So bin ich in Beirut gelandet. Ich hatte mich von meinem Freund verabschiedet, der nach Afghanistan eilte, um seinen Buzkaschi zu sehen, während ich mich an den Stränden des Libanon bräunte. Dort kann man auch im Oktober noch baden. Es ist absolut fantastisch, an einem Tag kannst du in den Zedernwäldern der Faraya Skifahren und im Mittelmeer baden. Um über die Runden zu kommen, habe ich Schmuck gemacht in den Suks. Es gab nur ein Problem, ich wohnte in einer Strasse mit zehn Diskotheken… Mein verdientes Geld habe ich sofort wieder ausgegeben. Eigentlich wollte ich doch wie Nicolas Bouvier bis nach Japan kommen. Ich hatte nicht vor, schon im Mittleren Osten aufzuhören. Früher oder später musste ich einen Trick finden… Und der bot sich mir dann von allein an: ein Libanese, der in Dschidda arbeitete, fragte mich, ob ich für ihn in Saudi-Arabien arbeiten möchte. Also fuhr ich dahin und konnte einiges ansparen. Du konntest dort nichts ausgeben! Man muss sich vorstellen, das war damals ein abgeriegeltes Land, niemand konnte hinein, ohne eingeladen zu werden. So badete ich zusammen mit meinen Juwelier-Kollegen acht Monate im Roten Meer. Wir haben das Tauchen entdeckt, wunderschöne Korallen gesehen, sind mit Haien geschwommen.

Als du wieder etwas Geld zusammen hattest, bist du weitergereist?

Ja, ich bin zuerst nach Beirut zurück, dann nach Zypern, wieder nach Syrien und vor dort aus habe ich die Grenze zum Irak überquert. Ich bin nach Basra hinunter in den Süden gereist, in das Moor, wo der Tigris und der Euphrat aufeinandertreffen.

Hast du zu dieser Zeit schon fotografiert?

Nicht wirklich. In Beirut wohnte ich mit zwei Studenten aus Frankreich. Einer der beiden, François, liebte die Fotografie abgöttisch. Mich langweilte sie, ich war ein Mann der Taten. Ich mochte es lieber, mitten im Geschehen zu sein, anstatt es zu observieren. Ausserdem hatte ich in den 60ern und 70ern ein schlechtes Bild von der Fotografie, sah sie als eine, die entweder anprangert oder ausruft, mit dem einzigen Ziel, Kohle zu scheffeln. Ich fand, dass die Fotografie zu oft im Dienst der Medien war, welche ich verachtete. Wie Paris Match, Gala, für mich war das purer Voyeurismus. Das war dumm, aber ich hatte keine Ahnung davon. Ich hatte noch nichts verstanden. Aber François sagte mir: «Nicolas, tu kannst nicht bis nach Japan reisen, ohne Fotos zu machen.» Also schenkte er mir seinen Fotoapparat. Eine Kleinbildkamera. Er hat mir rasch beigebracht, ihn zu bedienen. Die Blende, den Lichttaster, «du stellst den Zeiger immer in die Mitte des kleinen Kreises, so ist das Licht gut», hat er mir gesagt.

Und bist du schliesslich in Japan angekommen?

Ich habe drei Jahre gebraucht, es würde zu lange dauern, alles zu erzählen. Aber in Afghanistan habe ich mir ein Pferd gekauft. Der König wurde von seinem Cousin umgebracht, mein Durchreisevisa war nicht mehr gültig, die Polizei hat mich mitten im Nirgendwo angehalten. Ich verkaufte mein Pferd auf dem Markt; ich hatte 75 Dollar bezahlt, und wurde es für 75 Dollar wieder los. Danach kam ich in Bandiamir an, zusammen mit einem deutschen Arzt, der in den Dörfern dort Leute behandeln wollte. In Bandiamir habe ich einen VW-Bus mit Genfer Kennzeichen gesehen, unter welchem zwei Beine hervorschauten. Ich dachte mir, diese VW-Busse sind immer kaputt, die sind echt scheisse. Ich sagte zu dem Typen: «Hallo, brauchst du Hilfe?» – «Nein, hör auf zu nerven, du verstehst sowieso nichts von Mechanik.» – «Das stimmt nicht, ich kenne mich sehr gut aus mit Mechanik.» Da hat er gemerkt, dass er nicht dabei war, mit seinem Mitfahrer zu reden. Er kam unter dem Bus hervor, drehte seinen Kopf, und noch immer auf dem Boden liegend, schaute er mich an und rief: «Nicolas, Nicolas, Nicolas!» Und ich: «Lucas, Lucas, Lucas!» Wir konnten es nicht fassen, mitten in Afghanistan im Nirgendwo treffe ich meinen Schulkollegen aus dem Collège Calvin! Wir machten einen guten Teil der Reise zusammen weiter, aber Lucas ging schliesslich nach Kathmandu, wie alle, also ging ich allein weiter. In Pakistan wurde ich krank von verunreinigtem Wasser und fing mir Amöben ein. Ich brauchte ziemlich lange, um in Lahore anzukommen; 1972 gab es schlimme Überschwemmungen und alle Züge waren blockiert. In Neu-Delhi habe ich mich behandeln lassen, bin etwas in Indien rumgereist, aber weil ich es nicht geschafft habe, mich zu erholen, ging ich nach Nepal. Danach Burma, Thailand, Malaysia. Schliesslich bin ich in Hongkong in ein Flugzeug gestiegen und bin in Japan angekommen, ohne Visum. Damit hat meine Weltreise geendet. In diesen drei Jahren auf Reisen habe ich sechs Filme verbraucht. Und als ich zurück in Genf war, ist mir bewusst geworden, dass das Fotografieren eine aussergewöhnliche Weise sein könnte, Reisen und Abenteuer auszuleben.

Hast du etwas gemacht mit deinen Fotos? Hast du sie behalten?

Nein, vor ungefähr zwei Jahren habe ich alle meine Fotografien der Fotostiftung Schweiz vermacht. Sie wissen es nicht, aber diese Reise habe ich mit in eine kleine Schachtel gepackt, wie ein Geschenk. Eines Tages werden sie sie entdecken. Und auch wenn es damals noch Amateurfotos waren, sind einige dieser Bilder historische Dokumente. Zum Beispiel habe ich in Bamiyan den Buddha fotografiert, der in der Zwischenzeit von den Taliban zerstört worden ist.

Es war also unmittelbar nach der Rückkehr von deiner Reise, als du entschieden hast, Fotograf zu werden?

Bei meiner Rückkehr nach Genf hat sich meine Leidenschaft für die Fotografie entfacht. Ich hatte einen Freund, der Kameramann beim Fernsehen war, der aber eine Lehre als Fotograf gemacht hatte. Er zeigte mir die Technik, brachte mir die Arbeit im Labor bei, Schwarz-Weiss. Auch wenn ich lieber Farbe machen wollte.

Damals arbeiteten die Fotografen noch eher schwarz-weiss?

Oh ja, das war 1975. Das Dia hat schon existiert, aber es wurde zuerst nur von den Berufsfotografen gebraucht, um Farbfotografie zu machen, und nicht von Autoren oder Künstlern. Wir hatten Kodachrome 25, Kodachrome 24, Ektachrome 64 und 160, Agfa Color. Als ich langsam angefangen habe zu verstehen wie ein Film reagiert, ist mir klargeworden, dass ich noch lange nicht alles kapiert hatte von der Fotografie. Ich begann, regelmässig in die Bibliothek zu gehen, um Bilder anzuschauen. So lernte ich David Hamilton kennen, Henri Cartier-Bresson, Capa, Burri und all diese Leute. Ich war schnell überfordert von all den Geschichten, das waren so besondere Lebenswege.

Und wie bist du dann schliesslich Fotograf geworden?

Ich war Autodidakt, beim Betrachten der Arbeiten dieser grossen Fotografen dachte ich mir: «Wie willst du das anstellen?» Ich tat es sehr einfach: Verliebte mich in eine Frau, die ich im Grand Theâtre in Genf kennenlernte. Sie war eine Tänzerin, die keine Lust mehr hatte, klassischen Tanz zu machen; sie wollte zeitgenössisch tanzen mit dem Choreografen Merce Cunningham in New York. So wurde Karole Armitage die Star-Tänzerin der Gruppe. Man nannte sie die «Punk-Tänzerin». Wir heirateten und lebten zusammen in New York, von 1975 bis 1982. Mit ihr habe ich die Welt der zeitgenössischen Kunst wirklich entdeckt. Warhol, Rauschenberg, Jasper Johns, Louise Nevelson, die Komponisten, all die Leute, die für Merce Cunningham arbeiteten – John Cage. Weil sie ein Star war, hatte ich das Glück, Karole zu all diesen Leuten zu begleiten, bei ihnen am Tisch zu sitzen. Es war eine unglaubliche Zeit.

Hast du all diese Künstler nie fotografiert?

Nein, niemals. Ich hätte eine aussergewöhnliche Mappe machen können. Das war sehr im Trend in New York. Es gab unzählige Fotografen, die die Stars fotografierten. Aber mein Zuhause war auf der Strasse, ich brauchte Spontaneität, Abenteuer. Tatsächlich habe ich meinen Beruf als Autodidakt in New York erlernt. Dort habe ich angefangen, verschiedene Studien zu machen. Ich war noch kein Autorenfotograf, also musste ich herausfinden, was meine Spezialisierung war. Um überleben zu können, habe ich in einem Labor gejobbt und für das Geo-Magazin gearbeitet. Die Arbeit für Geo hat mir sehr geholfen, meinen Beruf zu lernen. Du lernst eine Doppelseite zu machen: niemals das Sujet in die Mitte, wegen des Faltes. Du lernst ein Titelbild zu machen, ein hochformatiges Foto im Gegensatz zu einem querformatigen Bild. Du lernst eine Reportage zu machen. Aber was mich am meisten antrieb, war der Zusammenprall mit dem, was ich auf der Strasse sah.

Was hat dich interessiert in den Strassen von New York?

Es war ein absolut fantastisches Theater. Es war irre. Es gibt auch Fotografen, die mich inspiriert haben, wie etwa Lee Friedlander. Man darf nicht vergessen, dass er damals fast unbekannt war. Was ich bei ihm mag, ist diese Unverschämtheit oder vielmehr die Treffsicherheit in seinem Blick, mit dem Chaos umzugehen. Das war derart gegenteilig zu allem, was ich in Europa gelernt hatte. Hier hat man die Tendenz, den Ausschnitt so auszuwählen, dass man möglichst keinen chaotischen Raum hat. In Bezug auf Gefühle zum Beispiel ist man viel romantischer, man ästhetisiert. Bei Friedlander findet man diese Kraft der Chaosorganisation, eine einzigartige Ästhetik. In Europa interessiert man sich für das Spezielle, das Spektakuläre. In Amerika für das Alltägliche.

Gab es andere als Lee Friedlander, die dich inspiriert haben?

Ausser ihm war das vor allem Merce Cunningham, sein Choreografie-Stil. Da sind eine Reihe von Tänzern und Bühnenelementen, die sich alle auf eine unabhängige Art im selben Raum zusammenfügen, und das ergibt etwas Einmaliges. Musik hat nicht unbedingt etwas zu tun mit Rhythmus, Rhythmus nicht unbedingt etwas mit Bewegungen, auch nicht mit Kulisse. All diese Elemente leben aber zusammen im selben Raum. Wenn du in den Strassen New Yorks bist, ist es genau das Gleiche. Es war das Gegenteil von allem, was mich bis dahin geprägt hatte, von allem, was ich in Europa gesehen hatte. So bin ich aufgebrochen in die Organisation des Chaos.

Zwischen dem Orchestrierten und dem Improvisierten.

Alles ist möglich, von dem Moment an, wo es koexistiert. Indem die Dinge zusammen sind, entwickeln sie einen Sinn.

Ein bisschen wie Free Jazz?

Ganz genau. Die Choreografien von Merce Cunningham haben mich komplett beeinflusst und die Fotografie, die ich von da an machte, ist eine Anlehnung an diese Komplexität. Die 70er-Jahre in New York waren wie ein Ameisenhaufen, voller Ideen, Künstler und natürlich grossen Fotografen.

In New York hast du mit Farbe gearbeitet?

Als ich 1976 angekommen bin, habe ich erst Studien mit Diapositiven gemacht, mit Kodachrome 64. Dann habe ich mich der richtigen Arbeit gewidmet, die in meinem Buch «Goodbye Manhattan» erschienen ist. Dafür war das Diapositiv zu anspruchsvoll geworden in Bezug auf die Bildaufnahme, und auch zu teuer. Ich brauchte mehr Abzüge, um meine Arbeiten in den Museen zeigen zu können. Von diesem Moment an sagte ich mir, ich muss es so machen wie die Fotografen, die in schwarz-weiss arbeiten; ich will die gleiche Unabhängigkeit haben und die Abzüge selbst machen können. So habe ich begonnen, Negativfarbfilme zu benutzten. Ich war einer der ersten, der 1976 in den New Yorker Strassen Kodacolor II brauchte. Ich habe einen Vergrösserungsapparat gekauft und angefangen, meine Abzüge selber herzustellen, in meinem Badezimmer. So habe ich über die Jahre Material angesammelt. Jeden Mittwoch konnten die jungen Fotografen ihre Arbeiten im MoMA zeigen. Und dann eines Tages kam John Szarkowski, der Kurator für Fotografie, auf mich zu und sagte: «Nicolas Faure, sind Sie das? Ich verfolge Ihre Arbeit seit Jahren, ich finde es sehr interessant, was Sie machen. Es gefällt mir. Ich werde Ihnen vier Fotos abkaufen.»

Und trotzdem bist du nicht in den USA geblieben.

Leider habe ich mich nach einigen Jahren von Karole getrennt, weil wir uns nie sahen. Sie reiste durch die Vereinigten Staaten mit ihren Aufführungen, wir haben uns auf den Flughäfen verabredet, damit wir uns sehen konnten. Ich hatte genug davon. Auch genug davon, in den blauen Himmel hinaufzuschauen. Ich sagte mir: «Das war’s, es ist vorbei, lasse es bleiben!» Als ich New York verliess, war die Stadt ausserdem extrem gewalttätig geworden. Es war der Moment, als Crack auftauchte.

Du kehrst also zurück nach Genf, und was machst du?

Es war schwierig, die Rückkehr war sehr kompliziert. Ich habe zuerst zusammen mit meinem Bruder Theaterkulissen gemach, zwei Jahren lang. Danach habe ich einem befreundeten Fotografen in seinem Studio assistiert: Ich machte 20×25-Format, fotografierte Uhren, Schmuck… Aber irgendwann ging es nicht mehr, ich musste meine Freiheit wiederfinden. Damals hatte ich Leica-Kameras, also bin ich wieder auf 24×36 gekommen. Ich habe die Genferseeregion fotografiert, die Skiweltmeister in Montana. So habe ich angefangen, Bilder quer durch die Schweiz zu machen. Doch bald habe ich gemerkt, dass die Schweiz ein derart gewissenhaftes Land ist, das sich auf eine so präzise Weise ausdrückt, dass ich mich nicht mehr im Bereich der Momentaufnahme, der Spontaneität, bewegen konnte, sondern vielmehr in der Beschreibung. Ich wechselte zum Mittelformat.

Aber wie kommt man von den Strassen Manhattans zu der Landschaft der Schweiz?

Am Anfang verbrachte ich ziemlich viel Zeit damit, Sport-, Kultur, Volksfeste in den Bergen zu fotografieren. Eines Tages, ich war auf dem Heimweg, nahm ich die Autobahn in Bulle, und da bemerkte ich einen grossen Steinbrocken mitten im Autobahnkreuz. Fünf Kilometer weiter sah ich wieder einen. Beim nächsten Kreisel fuhr ich raus, dort hatte es nicht einen, sondern drei Steinbrocken! Als ich bei mir in Meyrin, wo ich damals wohnte, ankam, sah ich plötzlich: Meyrin ist voller Steinbrocken, überall! So habe ich im 6×7-Format meine erste Arbeit gemacht über Steine als Fetisch, über Findlinge. Ich habe entdeckt, dass die Schweizer überall Steinblöcke platzierten, weil es für sie ein sehr starkes Symbol war. Beständigkeit, Belastbarkeit, die Schweiz in Kleinformat, das Matterhorn, die Berge. Jemand hat mir mal gesagt: «Dieser Stein da, das ist der General Guisan!»

Man muss also in New York gewesen sein, um die Steine in der Schweiz zu sehen?

Wenn du etwas siehst und einen Sinn darin suchst, heisst das, dass du gezwungen wurdest, einer Sache, die du nicht verstanden hast, einen Sinn zu geben. Die intellektuelle Vorgehensweise der Chaosorganisation in New York hat mir geholfen, die Landschaft in der Schweiz zu beobachten. Wenn du einen riesigen Stein siehst an einer Autobahneinfahrt, fragst du dich: «Was zum Himmel macht der da? Was hat das zu bedeuten?» Du bekommst den Reflex, dir diese Frage zu stellen. Die Steine bedeuteten einen Umbruch, es war mir nicht bewusst damals, aber gemäss den Kunsthistorikern und denen, die sich mit Fotografie beschäftigen, war diese Arbeit ein Wendepunkt in der Schweizer Fotografie. Erstmal wegen der Farbe und dann, weil ich das anschaute, was niemand sehen wollte. Niemand interessierte sich für solche Orte, für die Industriezonen und die Peripherie. Diese ganze Ästhetik, man sah darin nichts, ausser das Mittelmässige und das Hässliche.

Die Steine brachten dich also dazu, quer durch die Schweiz zu reisen. Hattest du so die Idee, eine fotografische Arbeit über die Autobahn zu machen?

Ja, ich lief ständig mit einer Karte rum und markierte mit einem roten Punkt jeden Ort, an dem ich einen Findling fotografiert hatte. Die Karte war übersät mit roten Punkten. Für diese Arbeit war ich jeden Tag auf den Schweizer Strassen unterwegs. Und wenn du so ein Projekt beendest, wirst du zum Waisenkind, du musst von neuem beginnen, ganz von vorne. Ich dachte über ein neues Thema nach, das zum einen Modernität und zum andern die Identität der Schweiz behandelte. Die Autobahn war perfekt. Diese Postkartenansicht der Schweiz, zerschnitten, zertrümmert, separiert durch die Autobahn. Dazu die Modernität, die sich einmischte, aufdrängte in diese pastorale und derart idealisierte Landschaft. Ausserdem hatte ich so die Gelegenheit, wieder auf Abenteuer zu gehen und wieder auf den Strassen unterwegs zu sein.

Du hast fünf Jahre gearbeitet für die Realisierung von 1500 Autobahn-Bildern. Wie konnte sich eine solches Projekt konkretisieren?

Es hat sich so ergeben, dass ich damals in Kontakt war mit Martin Heller, dem Direktor vom Museum für Gestaltung. Eines Tages als ich in Zürich war und gerade den Zug nach Genf verpasste, habe ich Martin angerufen und ihm gesagt: «Ich bin gerade in der Nähe des Museums, ich mache zurzeit eine fotografische Arbeit und würde dir gerne davon erzählen. Können wir uns sehen?» Wir haben uns während seiner Pause getroffen und ich erzählte ihm: «Ich fotografiere die Autobahn in der Schweiz und würde gerne ein Buch und eine Ausstellung damit machen. Bist du interessiert?» Er sah mich an und sagte: « Daran denke ich seit acht Jahren. Machen wir das.»

Nach deiner fotografischen Arbeit über die Autobahn, erschienen in der Publikation ‹Autoland›, hast du ein zweites Buch gemacht: ‹Paysage A›.

Bei meiner ersten Arbeit über die Autobahn habe ich bemerkt, dass an der Landschaft entlang der Strasse mit viel Aufwand und Geld herumgetüftelt und gebastelt worden war. Bäume wurden umgepflanzt, Plätze re-naturalisiert, Feuchtgebiete neu erstellt. Es wurde total künstlich eine Landschaft installiert, um den helvetischen Geist der Sauberkeit und Ordentlichkeit aufrechtzuerhalten. Weil die Autobahn schädlich ist, indem sie Landschaft zerstört und verschmutzt, werden wir zur Kompensierung die Natur verlegen. Dieses Bedürfnis zu kompensieren ist so schweizerisch.

Diese wiederhergestellte Natur konntest du sehen, weil du dir Zeit genommen hattest, dich an die Ränder der Autobahn zu begeben. Niemand sonst hat diese künstlich angelegten Orte gesehen.

Wenn man mit 100km/h im Auto fährt, hat man keine Zeit, die Orte zu sehen, die vorbeiflitzen. Aber wenn man anhält und genau hinschaut, merkt man sofort, dass alles bewusst konstruiert worden ist. Das kostet ein Vermögen, es gibt Leute, die über den Strassenausbau nachdenken, Landschaftsarchitekten, die sich sagen «wir werden jene Baumart, jene Sträucher, diese Farben installieren». Dies ist das zweite Buch, das ich über die Autobahn gemacht habe. Ich bin erneut für vier Jahre losgezogen, um die angelegten Zonen entlang der Schweizer Autobahn zu sehen.

Hast du dich auch dafür interessiert, welche Firmen diese Anlagen machten?

Die Autobahnen sind der grösste Garten der Schweiz. Man muss sich vorstellen, welche Fläche sie abdecken! Man findet darin fantastische Tierarten. Was mich im Speziellen anzog, waren die Zonen mit Autobahnkreuzen. Diese Zonen bilden Oberflächen, und diese Oberflächen wurden alle kreiert und neu modelliert. Das Territorium ist derart klein, dass es keine Wildheit gibt, es gibt keine Anarchie. Wenn du in der Schweiz rohe Natur finden willst, musst du auf 3500 Meter hochsteigen. Alles unterhalb ist berührt, es gibt keinen Ort, der nicht vom Menschen komponiert worden ist.

Sprechen wir über Freiheit, die du sehr oft erwähnt hast in Bezug auf deine Arbeit. Findest du, dass es noch Freiheit gibt in einer solchen Landschaft?

Nein, es handelt sich um Zonen, die für die meisten verboten sind. Du kannst da nicht hin, sie sind umzäunt, ausser auf den Raststätten, dort hast du Zugang zu dieser speziellen Ästhetik. Alles wurde nur dafür erstellt, um etwas wettzumachen, um zu beschönigen, und, eine weitere sehr schweizerische Eigenart, um die Landschaft für die Automobilisten zu zumachen, damit sie sich auf die Strasse konzentrieren.

Die Sicherheit.

Das ist so schweizerisch! Wir machen eine Landschaft, die ein Vermögen kostet, und die wir unterhalten müssen… für die Sicherheit. Das ist grossartig.

Keine grossen Werbetafeln am Strassenrand.

Werbung am Strassenrand ist in der Schweiz verboten. Schliesslich bin ich während fast vier Jahren herumgelaufen auf den unberührten Territorien, wo sich niemand, ausser vielleicht das Strassenbauamt, hingewagt hat.

Eine äusserst kontrollierte Natur, aber gleichzeitig eine intakte.

Was ich an dieser Arbeit liebe, ist, dass sie mit Stil und Gewissenhaftigkeit gemacht worden ist. Es ist ein wenig wie mit dem Tanz von Merce Cunningham: Jede Autobahnlandschaft in der Schweiz ist auf eine sehr komplexe Weise komponiert. Man weist ihr Vegetationstypen zu, welche alle gut zusammenpassen. Das sind nicht einfach Normen, obwohl es das natürlich auch gibt. Man stellt jene Pflanze hin, weil sie robuster ist oder resistenter gegen Abgase. Aber wenn man genau hinschaut, ist es immer sehr personalisiert. Nichts wird dem Zufall überlassen. Man versucht, immer das Beste zu machen, und man hat die Mittel dafür. In der Schweiz pflegt man das Bild, in Frankreich hingegen geht es um Prestige. Wenn du die Autobahn verlässt und in die französischen Städte hineinfährst, ist alles aufgeblasen, die stellen überall Blumen hin. Eine Blaskapelle. Bei uns ist es viel protestantischer. Man lässt keinen sterbenden Baum, man nimmt ihn weg, schneidet ihn. Die Landschaft wird ständig beschnitten und abgeändert – immer im selben helvetischen Geist der Tip-top-Ordnung. Dies schafft eine märchenhafte Ästhetik.

Ist das auch eine gewisse Ideologie, die sich hinter einer solchen Landschaft versteckt, wie zur Zeit der geistigen Landesverteidigung?

Ja, genau. Es ist eine ideologische Landschaft. Das Bild vom Schloss Chillon, von kleinen Zügen in der Natur und vom Matterhorn wird natürlich über-gebraucht. Das Einzigartige an der Autobahnlandschaft ist, dass sich niemand jemals für sie interessiert hat. Vor allem nicht die Historiker, weil sie zu neu ist.

Wie hast du die Orte gefunden, die du fotografiert hast? Diese Gelände sind nicht gemacht für Spaziergänge.

Ich bin auf der Autobahn gefahren, habe die Landschaft in meinem Kopf gespeichert und wenn ich etwas sah, das mich interessieren könnte, bin ich hinausgefahren und habe es irgendwie geschafft, den Ort wiederzufinden. Auf der Autobahn habe ich nie angehalten. Ich habe mein Auto geparkt und bin den Rest zu Fuss gegangen. Ich bin unter Barrieren durchgeschlüpft mit meiner gelben Weste und einem Schreiben vom Bundesamt für Strassen. Aber man muss sich vorstellen, dass ich für die beiden Serien ‹Autoland› und ‹Paysage› A alle Bilder im 4×5-Format gemacht habe, mit einer Fachkamera. Es war gar nicht einfach, das alles zu transportieren.

Die Arbeit mit der Grossformatkamera zwingt dich wahrscheinlich, auf eine ziemlich langsame Weise zu arbeiten. Ich finde, in deinen Bildern spürt man das. Du zeigst nie Geschwindigkeit, praktisch keine Autos oder Leute. Das vermittelt auch ein wenig den Eindruck, es handle sich um eine Landschaft voller Ruinen der Zukunft. Wie ein gigantisches Skelett der Modernität.

Es wird äusserst interessant sein zu sehen, wie diese Fotografien altern. Nicht nur aus ästhetischer Perspektive, sondern auch in Sachen urbaner Entwicklung. Wie werden sich all diese Regionen entwickeln? Wie wird sich die Schweizer Landschaft weiterentwickeln? Letztlich werden meine Bilder auch Zeitzeugen sein.

Kürzlich am Telefon hast du mir gesagt, dass du keine Fotos mehr machst, seit du pensioniert bist. Du gehst wandern.

Das stimmt, ich wandere viel. Ich mache noch einige Bilder, aber selten. Vor kurzem habe ich einen grossen Stein fotografiert, bei einer Autobahneinfahrt in der Nähe meines Hauses in den Bergen. Sie haben eine Leitung gelegt, die von Stützbalken gehalten wurde, welche Wasser auf den Stein spritzte, der Stein war überzogen mit Eis. Es war wie ein Berg im Miniformat. Man hat die Leitung sehr gut gesehen und die ganze Konstruktion, das war purer Kitsch. Ich fand das toll.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert