Letztes Jahr wurde in der Schweiz wieder mal das Thema des Stadt-Land-Grabens durchgekaut. Dabei geht es darum, dass die Menschen in der Stadt sich nicht so verhalten und abstimmen wie die Menschen auf dem Land. Die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung findet, das sei ein Problem. Stadtmenschen sehen das gelassener, weil halt auch herablassender. Als in die Stadt Zugewanderte kann ich aber gar nicht genug vor dem Land warnen. Die Folgen einer Kindheit und Jugend auf dem Land oder der äusseren Agglomeration befinden sich zum Beispiel, wenn man nicht völlig schwachgeistig ist, irgendwo auf der Bandbreite zwischen nervösem Tick und lebenslangem Trauma.

Der blosse Gedanke an ländliche Regionen löst in mir und vielen LeidensgenossInnen sofortigen Stress aus. Gäbe es einen realen Stadt-Land-Graben, ich würde jedes Wochenende mit einer Schaufel hinfahren und ihn vergrössern. Und ich bin mir sicher, viele würden mich frohgemut begleiten! Unermüdlich würden wir schaufeln, von morgens bis abends. Dazu sängen wir Lieder, deren Texte die Landbevölkerung verspotteten. Wer es geschafft hat, dem ländlichen Leben zu entkommen, ist froh um jeden Graben zwischen sich und dem Land! Und es gibt keinen Grund – keinen! – warum man zurückkehren sollte. Halt! Seit Corona gibt es einen. Einen einzigen, und er lohnt sich.

Mein Tipp: Fahrt zum Boostern dahin, wo ihr aufgewachsen seid. Ich hätte es schon bei den ersten Impfungen machen sollen! In der Stadt, wo die Menschen vernünftig und verständig sind, lassen sich ja alle impfen (ok, mit einigen Ausnahmen). Deshalb wartet man unter Umständen ewig auf einen Termin. Ganz anders auf dem Land! Hier lässt man nur die Schweine impfen! Die Menschen zählen mehr auf die Wunder von Handauflegen oder zwischen Bibelseiten eingeklemmten Zwiebelringen. Die Bibel legt man dann mit den Zwiebeln drin für eine Nacht unter das Kopfkissen und siehe da: Am nächsten Tag hat einem der Herrgott eine Nackenstarre geschickt! Wenn das kein himmlisches Zeichen gegen Corona ist! Denn wie heisst es doch: «Ein steifer Nacken vermag auch die schwerste Krone zu tragen!»

Aber zurück zum Boostern auf dem Land. Nicht nur gibt es dort keine langen Wartezeiten, oftmals bekommt man auch noch ein kleines Dankeschön! Sei das ein Kaffee-Gutschein oder VOLG-Sammelmarken, es lohnt sich immer! Schon nur wegen des guten Gewissens! Nicht nur, dass man weiss, dass man ganz sicher niemandem einen Termin weggeschnappt hat; wenn man das getan hätte, was man eben leider nicht hat, dann hätte man es den Deppen endlich ein wenig heimgezahlt!

Deshalb sass ich im Dezember also zusammen mit vier anderen spontan Impfwilligen im IKEA-Kinderparadies im Kreis um einen Plastikkletterbaum, und ich hätte mich nicht besser fühlen können. Wenn die Menschen sprachen, fielen ihnen Kuhställe aus dem Mund, aber es störte mich nicht. Fast fühlte ich mich ein bisschen versöhnt mit meiner eigenen Kuhstall-Sprache. Neben mir sassen zwei Seniorinnen, die für die erste Impfung da waren. Sie schauten sich misstrauisch um, als die eine sagte: «Diä Lampä ha ig ir Stubä». Und nach einer Pause: «Diä chasch dimmä.» Die andere reagierte nicht. Erst als ihr die eine, kurz bevor sie aufgerufen wurde, zuraunte: «Muesch sägä Pfeiser!» Fragte sie zurück: «Was? Feisser?» und verschwand hinter einem IKEA-Vorhang.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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