Es ist Zeit für Gerüchte. Der Fall des Ölpreises ins Bodenlose kohäriert derzeit mit einer Konjunktur absurder Verschwörungstheorien und einem beachtlichen Zuwachs an wilden Spekulationen von selbsterklärten Expert*innen. Im alles umschlingenden weiten Netz stösst man auf Reptilienmenschen und ihre getarnten Anhänger, die WHO als Ausmerzungszentrale der Menschheit, den an der nächsten Ecke lauernden «Seuchen-Sozialismus» und die heimtückische Bedrohung von Eigentum und Bürgertum gleichermassen. 

Kürzlich kam mir via Mund-zu-Mund-Propaganda, durch den Telefonhörer selbstredend, ein unerhörtes Gerücht der erfreulicheren Art zu Ohren: Die Alten, wurde mir geflüstert, die Zürcher-Alt-Achtziger genau genommen, planten am 30. Mai, vierzig Jahre nach dem Opernhauskrawall, eine Aktion auf dem Sechseläutenplatz. «Jäh, wie jetz, eine Demo von den Alten, also den Risikogruppen?» – und wie das denn gehen soll bei einem Versammlungsverbot, fragte ich. Die Quelle konnte mir dazu nicht mehr sagen, ausser: ich werde schon sehen und wir alle, wir würden schon sehen. 

Man stelle sich also vor: Am 30. Mai 2020, rund einen Monat nach der lang ersehnten historischen Wiedereröffnung der Schweizer Garten Center, versammeln sich rund 200 als (Kultur)-Leichen verkleidete Frauen und Männer der Generation 60 plus, separiert in Fünfergrüppchen und mit zwei Meter Abstand, vor dem Opernhaus. Alle tragen Masken. Während aus dem Opernhaus, der Klang einer Arie aus La muette de Portici erklingt, die via Live-Stream auf SRF Online übertragen wird, werden draussen die Verstärker aufgestellt. Alle haben ihr Mobiltelefon zu Hause gelassen, «weil wir lieber auf unser Handy als auf unsere Freiheit verzichten», wie eine ins Megafon ruft, und ein paar Menschen verdrücken ein paar Tränen der Rührung.

Nach und nach gesellen sich jüngere Menschen dazu, junge Erwachsene, Kinder und Grosskinder. Die Polizei dreht ihre Runden, beobachtet und greift doch nicht ein. Man sei von der repressiven Politik ja längst weggekommen, sagt einer in Uniform, der Repression nie erlebt hat. Unten am Seebecken beginnt eine Post-Punk-Band der Kantonsschule Stadelhofen zu spielen. Man habe eine Bewilligung eingeholt, wird erklärt, man habe genug vom Üben im Keller, es sei ja schönes Wetter und man müsse ja irgendwo hin mit dieser verdammten Energie, sagt Max, siebzehn, in für viel Geld zerschlissenen Hosen.

Die älteren Kulturleichen mischen sich unter die ungefragt zu Kulturleichen gewordenen jüngeren Kulturproduzent*innen und -Konsument*innen. Eine New-Wave-Retro-Band aus Winti spielt. Die einen trifft die Nostalgie in die Brust, die anderen das beinahe vergessene Openair-Gefühl. Einige verbarrikadieren sich in die benachbarten Bürogebäude der NZZ und schreiben die neoliberalen Floskeln für morgen um.

«Auch wir sind systemrelevant», rufen ein paar Kulturschaffende. «Wir wollen gar nicht relevant sein für dieses Dreckschleuder-System», rufen ein paar Klimaaktivist*innen. Aus dem Opernhaussaal ist die Arie verklungen und draussen wird weiter debattiert, getrunken und gefeiert als gäbe es kein Morgen. Kluges wird gesagt und Banales und auch Blödes. Und das alles ist keine Revolte, nicht einmal eine Gemeinschaft, aber eine flüchtige Verbündung, wie man sie lange nicht gesehen hat.

Und wenn das Gerücht nicht wahr ist und wenn es nicht eintrifft, so ist es schön erfunden und in diesem Sinne ein Aufruf zum Träumen, ein Aufruf zur Überschreitung der Grenzen in den Bereich der Fantasie auf dem Boden der nüchternen Realität. Damit nichts bleibt, was nicht sein soll. Damit alles anders gewesen sein wird als es war. Wo nichts ist, kann noch alles werden. Am 30. Mai und darüber hinaus. 

Anja Nora Schulthess schreibt kulturwissenschaftliche Beiträge, Essays und Lyrik. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». Im Sommer 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag.

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