Die Einsicht, dass der Mensch die Ökologie der Erde tiefgreifend verändert, wird von Naturwissenschaftler*innen im 21. Jahrhundert mit dem Begriff des «Anthropozän» erfasst. Das «Menschenzeitalter» oder die «Geologie der Menschheit» besagt, dass der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde geworden ist. Die Ausstellung «Parlament der Pflanzen» setzt an dieser Erkenntnis an, um eine neue Erzählweise über die komplexen Verflechtungen anzubieten, durch die alles mit allem verbunden ist. Dabei fokussiert das Narrativ nicht auf die Krisen unserer Zeit, sondern vielmehr auf historische Momente von Erkenntnis und Wandel als auch auf heutige erstaunliche Vorstellungswelten, um neue Perspektiven zu öffnen.

Mit diesem Beitrag werde ich in Stippvisiten durch die Ausstellung führen, die vom 6. September 2020 bis 17. Januar 2021 im Kunstmuseum Liechtenstein gezeigt wurde, aufgrund der aktuellen Situation von Covid-19 jedoch seit dem 20. Dezember 2020 nicht mehr für das Publikum zugänglich ist.

Die Ausstellung möchte eine Diskussion über unseren anthropozentrischen Blick anregen, in dem der Mensch allein im Mittelpunkt steht, und der die westliche Welt bis heute prägt. Die Ausstellung versucht ausserdem, Prinzipien der Natur zu veranschaulichen, den Pflanzen aus vielfältigsten Perspektiven eine Stimme zu verleihen und vom aussergewöhnlichen Wesen der Pflanzen zu zeugen, deren Betrachtung derzeit in den Naturwissenschaften einen Paradigmenwechsel erfährt. Wir sind angewiesen auf die Pflanzen, das fängt an bei der Nahrung oder der Luft. Was Pflanzen ausatmen, atmen wir ein, was wir ausatmen, atmen sie ein – ein Kreislauf.

Die Wissenschaft der Botanik hat sich über Jahrhunderte entwickelt. Heute erlaubt sie bisher ungeahnte Möglichkeiten der Reflexion über die Pflanzen und unser Verhältnis zu ihnen. Die aktuelle Forschung zeigt auf, wie intelligent und fühlend Pflanzen sind. Darüber hinaus wird untersucht, inwieweit sie ein Bewusstsein besitzen. So schreibt der Biologe Daniel Chamovitz in seinem Buch ‹Was Pflanzen wissen›: «Halten Sie sich einmal vor Augen: Pflanzen sehen Sie. Pflanzen überwachen ständig ihre sichtbare Umgebung. Sie sehen es, wenn Sie in ihre Nähe kommen, und wissen, wann Sie sich über sie beugen. Sie wissen sogar, ob Sie ein blaues oder ein rotes Hemd anhaben.» Auch der Professor für Pflanzenkunde Stefano Mancuso und die Wissenschaftsjournalistin Alessandra Viola weisen in ihrem Buch ‹Die Intelligenz der Pflanzen› darauf hin: «Pflanzliche Funktionen sind nicht an bestimmte Organe gebunden: Pflanzen atmen ohne Lungen, ernähren sich ohne Mund und Magen, stehen aufrecht ohne Skelett und treffen, wie wir sehen werden, Entscheidungen, obwohl sie kein Gehirn besitzen.»

Ein wesentlicher Impuls für die Konzeption der Ausstellung ging von dem Buch ‹Der Pilz am Ende der Welt› aus. Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing schreibt darin: «Ich behaupte, dass es, um am Leben zu bleiben, lebensfähiger Formen des Zusammenwirkens, der Kollaboration bedarf – und zwar für jede Art. Kollaboration heisst, trotz der Unterschiede zusammenzuwirken, was letztlich zur Kontamination führt. Ohne Kollaboration sterben wir alle.»

Dementsprechend wurde die Ausstellung als offenes Gefüge angelegt. Unterschiedliche Bereiche, die im Allgemeinen kaum miteinander in Berührung kommen, tauchen nebeneinander auf. In «Wunderkammern», die einen der drei Stränge der Ausstellung bildeten, finden sich: Bibliophile Bücher zu Botanik, Staat und Gesellschaft vom Mittelalter bis in die Neuzeit; künstlerische als auch dokumentarische Filme; Kunstwerke ausgehend vom 18. Jahrhundert, darunter mediumistische Werke des 19. und 20. Jahrhunderts als auch zeitgenössische künstlerische Positionen als Querverweise und Assoziationsfelder.

Ich habe hier sozusagen ein «Herbarium» dieser Revolutionen erstellt.

Ein eindrücklicher Blumenstrauss in einem grossen russischen Gurkenglas als Vase bildet den Auftakt der Ausstellung. Während des Aufbaus der Ausstellung hatte mir die Künstlerin Anna Jermolaewa geschrieben: «Ich habe einen Vorschlag: Nachdem in Belarus gerade Protestaktionen stattfinden, wo Frauen Ketten bilden und Blumen tragen, möchte ich meine Arbeit updaten.» Und tags darauf: «… als eigene Arbeit, unter dem Titel «Flower Arrangement, Belarusian Protests, 2020». Ein Strauss irgendwo im Vorraum.» Anna Jermolaewa gehört zu den 12 zeitgenössischen Künstler*innen, die in kleinen Einzelpräsentationen einen Strang der Ausstellung setzten.

Jermolaewas Arbeit «The Penultimate» (2017) bildet im Parcours wiederum einen Abschlusspunkt. Auf Hockern, Stühlen, Sockeln steht jeweils eine Vase mit einem Blumenstrauss, der für eine «Farbrevolution» steht: Nelken (Nelkenrevolution, Portugal 1974); Rosen (Rosenrevolution, Georgien 2003); Orangenzweige (orangene Revolution, Ukraine 2004); Zedern (Zedernrevolution, Libanon 2005), Tulpen (Tulpenrevolution, Kirgisien 2005); Kornblumen (Kornblumenrevolution (gescheitert), Weissrussland 2007); Lotusse (Lotusrevolution, Ägypten 2011); Safran-Krokusse (Safranrevolution, Myanmar 2007) und Jasmin (Jasminrevolution, Tunesien 2010). «Die Arbeit beschäftigt sich mit den sogenannten Color-Revolutionen, also dem Phänomen meistens gewaltloser Regimewechsel, die immer nach demselben Muster ablaufen und eine Pflanze bzw. Farbe als stiftendes Identifikationssymbol nutzen. Ich habe hier sozusagen ein «Herbarium» dieser Revolutionen erstellt.» (Anna Jermolaewa).

Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung!

Die Thematik «Botanik und Gesellschaft» kommt auch in einer der Wunderkammern zu tragen. Am 24. August 1617, dem Vorabend des 30-jährigen Krieges, wurde die Fruchtbringende Gesellschaft in Weimar als eine höfische Akademie gegründet. Beitragen wollte diese Gesellschaft, die auch Bürger und Bauern aufnahm, zur Verwirklichung von ethischen, sprachlichen und literarischen Zielen. «Jedes Mitglied sollte sein Verhalten nach seiner eigenen Imprese regulieren, die mittels einer Pflanze oder eines Pflanzenprodukts, des dazugehörigen ‹Worts› (Sinnspruch), des Gesellschaftsnamen und eines darunter gerückten ‹Reimgesetzes› (Strophe) eine ‹Tugend› auslegte.» Zahlreiche sogenannte «Klinggedichte» und «Impresen» mit Pflanzen, in Kupferstich gestochen, dienen als Sinnbilder einer tugendhaften Gemeinschaft, die im Buch aus dem Jahr 1646 ‹Die Fruchtbringende Gesellschaft› zusammengefasst wurden.

Daneben steht die Originalausgabe von Jean-Jacques Rousseaus ‹Du Contract Social›, 1762 in Amsterdam erschienen. In Paris wurde dieses unscheinbare Buch sofort verboten, es brachte den Erlass eines Haftbefehls und die Flucht Rousseaus mit sich. ‹Der Gesellschaftsvertrag› gehört zu den Büchern, die eine enorme Sprengkraft besassen und die Welt nachhaltig veränderten, fanden die Ideen doch Eingang in die Französische Revolution: «Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Banden», lautet der erste Satz. Zurück in der Schweiz entdeckte Rousseau sein botanisches Interesse. Davon zeugen die ‹Botanischen Lehrbriefe›, die wiederum als Wegbereiter populärwissenschaftlicher Literatur zur Botanik gelten. «Ich verdanke mein Leben den Pflanzen, nicht wirklich, aber sie haben es mir ermöglicht, im Strom des Lebens weiter zu schwimmen und nicht unterzugehen von Bitterkeit beschwert.» (Jean-Jacques Rousseau)

1982 initiierte der Künstler Joseph Beuys in Kassel das immense Projekt «7000 Eichen» als ein «Unternehmen für die Zukunft». Im Sinne des heutigen Crowd­fundings konnte jede Person einen Baum mit einer Stele aus Säulenbasalt für 500 DM erwerben und pflanzen. 38 Jahre danach sind die Eichen zu eindrücklichen Bäumen gewachsen und haben das Stadtbild Kassels nachhaltig verändert. Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung! «Jedes einzelne Monument besteht aus einem lebenden Teil – eben dem sich ständig in der Zeit verändernden Wesen Baum – und einem Teil, der kristallin ist und also seine Form, Masse, Grösse, Gewicht beibehält. Wenn sich etwas an diesem Stein verändert, dann nur durch Wegnehmen, also dass ein Stück absplittert, aber niemals dadurch, dass er noch wächst.» (Joseph Beuys)

In der Ausstellung bieten Materialien und ein Dokumentarfilm von Kassler Studenten einen Einblick zu «7000 Eichen».

In diesem Kontext ist auch die Eröffnungsrede zur Ruhrtriennale 2017 der Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Literatur Herta Müller als Videoaufzeichnung zu sehen. Ihre Rede «Ein Ausweg nach innen» beschreibt ihre Kindheit, die Nähe zu den Pflanzen, die ihr Dorf sind, und wie dieses Dorf sie trägt und behütet, während sie in der Stadt als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik arbeitet und der Geheimdienst sie zwingen will, Spitzel zu werden. «Dahlien blühen bis spät in den Herbst. Die Tage waren kurz, die Dahlien froren schon im grauen Licht und schimmerten von weitem. Ich ging auf sie zu, ihre Ruhe übertrug sich auf mich. Ich war mir sicher, dass Dahlien wissen, wie satt ich dieses Leben hab und wie gern ich doch lebe. … Die Dahlien brachten wieder Ordnung in meinen Kopf, sie halfen mir. Es war wirkliche Anteilnahme.» (Herta Müller)

Im fotografischen Werk des Künstlers und Naturforschers Jochen Lempert, der wie Jermolaewa mit einer Einzelpräsentation präsent war, spiegeln sich sowohl naturwissenschaftliches, auf Beobachtung beruhendes Forschen, als auch eine künstlerisch poetische und experimentelle Wahrnehmung wider: Wenn er etwa in der Dunkelkammer mit dem Vergrösserer statt eines Negativs das Blatt einer Pflanze belichtet: Foliogramme.

Als Foliogramm durchleuchtete er beispielsweise die auffällig gefleckte Innenseite der Unterlippe des Roten Fingerhuts (Digitalis purpurea). Dazu notiert er: «Jüngere Studien interpretieren sie [die Flecken] als Lockmittel, doch glaubte der Botaniker Christian Konrad Sprengel, dass sie den Weg zu dem angebotenen Nektar aufzeigen.» 1793 veröffentlichte Sprengel ‹Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen›, in dem er wegweisend darlegte, dass der Saft der Blumen «um der Insekten willen abgesondert werde». Sein Zeitgenosse Goethe warf ihm daher vor, «der Natur einen menschlichen Verstand zu unterlegen». Gerade Lemperts Werke laden ein, auf sinnliche Weise zu «erkennen», wie wir erkennen. Sie stülpen unsere anthropozentrischen Denkmuster um und zeugen davon, dass der bildenden Kunst bei der Erforschung von Wirklichkeit ein enormes Potential innewohnt. 

«Ein Versuch, eine nicht anthropozentrische Perspektive zu fotografieren: Atropa belladonna (Tollkirsche) imitiert ein Auge, um Aufmerksamkeit für die Fruchtverbreitung zu erregen, indem sie ein artenspezifisches Signal zur Wahrnehmung von Gesichtern bei verschiedenen Tieren, wie hier einem Eichhörnchen, auslöst.» (Jochen Lempert)

Während Pflanzen zuvor anhand ihrer vegetativen Merkmale beschrieben wurde, galten dafür nun die Blüte und ihr Sexualsystem. Das war revolutionär!

Ein weiterer Bereich ist dem «Systemwandel» oder Paradigmenwechsel gewidmet. Dazu gehört ein prachtvolles, barockes Buch ‹Plantae selectae› aus dem Jahr 1750 mit Kupferstichen von Georg Dionysius Ehret, herausgegeben von Christoph Jacob Trew. Darin abgebildet sind in voller Blütenpracht und mit ihren damals noch unbekannten Früchten unter anderem Kakteen, Ananas oder Bananen. Die Besonderheit des gezeigten Exemplars ist die Ablesbarkeit des Umbruchs der Klassifikationen. Die Pflanzen sind mit den bis dato üblichen Gattungsnamen und ausführlichen und umständlichen «Phrasen» beschriftet. Ein unbekannter Zeitgenosse schrieb mit Feder und Tinte die neue Linné’sche binäre Nomenklatur darüber.

Die binäre Nomenklatur des Carl von Linné, der als Begründer der modernen Botanik gilt, bestimmt bis heute noch die botanische Systematik. In ‹Systema naturae› aus dem Jahr 1735 entwickelte Linné seine wegweisende Systematik des Pflanzenreiches anhand von Merkmalen der Fortpflanzungsorgane. Dabei basiert die Klassifikation des Sexualsystems auf der Verteilung, Zahl und Verwachsung der Staub- und Fruchtblätter. Das war revolutionär! Während Pflanzen zuvor anhand ihrer vegetativen Merkmale beschrieben wurde, galten dafür nun die Blüte und ihr Sexualsystem.

In dieser Abteilung finden sich zudem das Gemälde «Gemüsegarten» (1925) von Paul Klee, Abbildungen seiner Herbarblätter (1930) als auch seine Schrift ‹Unendliche Naturgeschichte. Prinzipielle Ordnung der bildnerischen Mittel, verbunden mit Naturstudium, und konstruktive Kompositionswege. Form- und Gestaltungslehre›.
Klees ‹Schöpferische Konfession› (1918 verfasst) beginnt mit dem Satz: «Kunst, gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.» Auf vielfältige Weise thematisiert der Künstler in seinem Schaffen die Identifikation von Pflanze und Mensch und entwickelt aus der Kenntnis seines Naturstudiums und seiner Auseinandersetzung mit den bildnerischen Mitteln eine komplexe, visuelle Systematik natürlicher und künstlicher Ordnung, der als Grundprinzip das Wachstum zugrunde liegt: «Allem Werdenden ist Bewegung eigen …».

In diesem kleinen Gemälde sind die vier Jahreszeiten des Gemüsegartens in Aufsicht und Ansicht dargestellt; Klee verdichtet das Werden und Vergehen der Zeit und vereint überraschende Perspektiven.

Den dritten Strang bilden im Projektraum (Ko-Kuratorin Annett Höland) wechselnde Präsentationen mit zahlreichen Projektpartner*innen aus Liechtenstein und der Region: Institute und Vereine, Förster, Landwirtinnen und Gärtner, Schülerinnen und Studenten, Künstlerinnen, Musiker und Schriftstellerinnen, Phänologen und Botanikerinnen liessen ein weitverzweigtes Wurzelwerk entstehen. Alle drei Stränge formen ein komplexes, sich gegenseitig befruchtendes Netzwerk, dessen enge Verflechtung eine Erzählung aus vielfältigen Perspektiven öffnete.

Christiane Meyer-Stoll ist Konservatorin und Mitglied der Direktion des Kunstmuseum Liechtenstein.

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