Das Reisen an ferne Orte und aus reinem Vergnügen war und ist ein Vorrecht der Gutbetuchten. Auf eigene Faust unterwegs zu sein, Grenzen ohne Probleme zu überqueren und spontan in den nächsten Zug zu steigen, ist auch heute und in Europa keine Selbstverständlichkeit.

Über die Entwicklung des Reisens nach dem zweiten Weltkrieg in Europa berichtet Sina Fabian in ihrem Text «Pauschal oder individuell?», in dem sie veranschaulicht, wie der Aufbau touristischer Infrastruktur zu einem grundlegend neuen Verhältnis zwischen den europäischen Ländern führte. 

Wie sich das Interrail- und Billigreiseerlebnis als junge Schweizerin gestaltet und anfühlt, beschreibt Sophie Steinbeck in einem Erlebnisbericht, der uns über die EU-Grenzen Nord- und Osteuropas führt. Dabei stellt sie unter anderem fest, dass Spontanität beim Reisen ein bürgerliches Konzept ist. 

Neben allen Schwierigkeiten und politischen Dimensionen ist das Unterwegssein auch eine dichte Ansammlung an mehr oder weniger neuen Impressionen. In ihrem dokumentarischen Beitrag veranschaulichen Sara Arzu Hardegger und Kira Kynd die kleinen Momente während einer zehnstündigen Zugreise in Text und Bild.

Dass Interrail vielleicht mal eine gute Idee war, zumindest heute aber in der Umsetzung einige Tücken mit sich bringt, veranschaulichen die gesammelten Rezensionen von Vanja Ivana Jelić. 

Nach Ende des zweiten Weltkriegs veränderte sich das Reiseverhalten in Europa. Erst boomten Pauschalreisen, dann wurde Interrail als alternative Reiseform beliebt. Der Ausbau touristischer Infrastruktur führte dabei zu einem grundlegend neuen Verhältnis zwischen den europäischen Ländern.

Welche Bedeutung das Reisen für Europäer:innen hat, wurde insbesondere durch die globale Covid-Pandemie deutlich, als es plötzlich nicht oder nur noch sehr eingeschränkt möglich war. Für viele Jüngere war es das erste Mal, dass sie Grenzkontrollen innerhalb Europas erlebten. Die Einschränkungen führten vor Augen, wie selbstverständlich das Reisen in Europa geworden war. Die Mehrheit der Westeuropäer:innen unternimmt heute mindestens eine Urlaubsreise pro Jahr. Auch in Osteuropa hat das Reisen einen besonderen Wert. Die Beschränkungen der Reisefreiheit im Ostblock trugen zu seinem Zerfall massgeblich bei. Das Verreisen erfüllt demnach wichtige Funktionen und ist mehr als blosser hedonistischer Zeitvertreib.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reiste jedoch nur ein sehr kleiner Teil der europäischen Bevölkerung zum Vergnügen. In Grossbritannien, wo es eine lange Reise- und Urlaubstradition gab, machte zwar bereits die Hälfte der Bevölkerung Urlaub. Die grosse Mehrheit tat dies jedoch innerhalb der Landesgrenzen. In anderen europäischen Ländern verreisten wesentlich weniger Leute. Obwohl es in den 1950er-Jahren einen regelrechten Italienhype in der Bundesrepublik gab, machten, entgegen der allgemeinen Auffassung, nur sehr wenige dort tatsächlich Urlaub. Italien war viel mehr ein Sehnsuchtsort. Eine Reise dorthin, vielleicht mit dem eigenen Auto in mehreren Etappen über die Alpen, signalisierte, dass man vollends in der Massenkon-
sumgesellschaft der Nachkriegszeit angekommen war. Die Anfänge des Reisens waren jedoch zumeist bescheidener. Wie in Grossbritannien blieben Reisende zunächst zumeist im eigenen Land. Bus und Bahn waren häufig die bevorzugten Verkehrsmittel. Erst mit dem zunehmenden PKW-Besitz konnten Reiseziele individueller gestaltet werden, ohne von Fahrplänen und -zielen abhängig zu sein.

Insbesondere westdeutsche, skandinavische und niederländische Reisende zog es vor dem Hintergrund starken ökonomischen Wachstums schnell in andere Länder. Anfang der 1970er-Jahre reiste bereits die Hälfte der Urlauber:innen aus der Bundesrepublik ins Ausland. Bis 1980 war jedoch Österreich und nicht etwa Spanien oder Italien das beliebteste Auslandsreiseziel der Westdeutschen. Gut ausgebaute Ferienorte, ob in den Alpen oder im Süden, entwickelten sich zu europäischen Melting Pots. Dort trafen Reisende aus unterschiedlichen europäischen Ländern mit Einheimischen zusammen. 

Dies fand, wie im Fall von Jugoslawien und Ungarn, mitunter durch den Eisernen Vorhang statt. Reisende lernten nicht nur ein ihnen fremdes Land kennen, sondern kamen auch mit anderen Europäer:innen in Kontakt. Dies konnte mitunter Vorurteile bestätigen, wie etwa der «Handtuchkrieg» zwischen deutschen und britischen Urlauber:innen zeigt. Allerdings gab es durch gemeinsame Ausflüge, abendliche Barbesuche und nicht zuletzt Urlaubsflirts mehr Verbindendes als Trennendes. 

Pauschalreiseboom

Einen regelrechten Boom erlebte das Reisen seit den späten 1960er-Jahren. Zu einem grossen Teil waren Pauschalreisen dafür verantwortlich. Dass sich immer mehr Urlauber:innen eine solche leisten konnten, war auf eine Kombination mehrere Faktoren zurückzuführen: Zum einen stiegen die Einkommen kontinuierlich, sodass sich zunehmend auch weniger wohlhabende Familien eine Reise ins Ausland leisten konnten. Eine grosse Rolle spielte auch die Einführung von Grossraumflugzeugen wie des Jumbo-Jets sowie Liberalisierungen des europäischen Flugverkehrs. Flugreisen ins Ausland waren nun wesentlich billiger, vor allem, wenn sie im Rahmen einer Pauschalreise unternommen wurden. Für die meisten waren sie jedoch immer noch etwas Besonderes. Deshalb konnten sich Passagiere von Urlaubsfliegern auch beim Aussteigen aus dem Flugzeug von professionellen Fotograf:innen ablichten lassen und die Bilder bei der Rückreise kaufen.

Pauschalreisen boten ein hohes Mass an Sicherheit, da sich Reisende um kaum etwas kümmern mussten und vor Ort Ansprechpartner:-
innen hatten, die ihre Sprache sprachen. Eine Vielzahl besuchte im Rahmen einer Pauschalreise zum ersten Mal ein anderes Land. Spanien, das vor dem Pauschalreiseboom vor allem eine Destination für abenteuerlustige Individualreisende gewesen war, entwickelte sich sehr schnell zum beliebtesten westeuropäischen Reiseziel. Die Auswirkungen des europäischen Reisebooms in den Urlaubsorten waren jedoch ambivalent. 

Insbesondere in den 1960er- und 70er-Jahren, während der Hochphase des Booms, wurde beim Ausbau der Orte kaum auf die Umwelt oder auf Ästhetik Rücksicht genommen. Die Folgen sind mit «Bettenburgen» zugebaute Küstenlandstriche und negative Auswirkungen für die Natur. Der Massentourismus trug jedoch auch, wie im franquistischen Spanien, zur Liberalisierung und Demokratisierung bei. Westeuropäische Tourist:innen akzeptierten beispielsweise die konservativ-katholischen Verhaltens- und Kleidungsvorschriften nicht, die küssen oder das Tragen eines Bikinis in der Öffentlichkeit verbaten. Einhei-
mische Frauen fanden in den Urlaubsorten zudem Arbeit und hatten
dadurch die Möglichkeit, sich von patriarchalen Familienstrukturen
zu emanzipieren. 

Der beginnende Massentourismus rief allerdings sogleich auch kritische Stimmen hervor, die besonders auf die lieblosen Konsummöglichkeiten als auch das Umweltproblem aufmerksam machten. Sie kamen in erster Linie von Reiseerfahrenen, die der Kommerzialisierung des Reisens kritisch gegenüberstanden. Pauschalreisende waren in ihren Augen lediglich «Touristen», die für wenig Geld Sonne, Meer, Strand und Partys geniessen wollten und nicht am Urlaubsland und deren Bewohner:innen interessiert waren.

Der Gegenentwurf

Es ist daher sicher kein Zufall, dass Interrail als alternative Reiseform 1972 auf dem Höhepunkt des Pauschalreisebooms aufkam. Interrail war eine ganze andere Art des Reisens als die von vielen verpönte Pauschalreise. Es war mit Abenteuer, wenig Komfort und einem hohen Mass an Selbstorganisation verbunden, also genau das Gegenteil einer Pauschalreise. Denjenigen, die Interrail nutzen, ging es nicht darum, mit der Reise sozialen Status und Prestige zu demonstrieren. Vielen war es gerade wichtig, sich vom Massentourismus zu distanzieren. Dies zeigte sich auch darin, dass sie die Bahn nutzten, die als Reiseverkehrsmittel – insbesondere für Auslandsreisen – gegenüber dem Auto und dem Flugzeug deutlich zurückgefallen war.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Pauschalreisende sehr wohl Interesse am Urlaubsland und dessen Einwohner:innen hatten. Zwar überwog während den ersten Auslandsreisen das Bedürfnis nach Sicherheit, aber je reiseerfahrener die Urlauber:innen wurden, desto interessierter und aufgeschlossener zeigten sie sich gegenüber dem Reiseland. Das starre Korsett der Pauschalreisen wurde ihnen zu eng. Darauf regierten auch die Reiseveranstalter:innen, indem sie Optionen zur Individualisierung wie Mietwagen und zahlreiche Ausflüge anboten. Anstatt mit deutschem Filterkaffee und Leberwurst warben sie nun mit Cappuccino oder Tapas in den Reiseprospekten. Die Reiseveranstalter:innen differenzierten ihr Angebot immer weiter, sodass für fast jeden Geschmack etwas dabei war. Urlauber:innen profitierten so auf der einen Seite von der Sicherheit einer Pauschalreise, sie konnten auf der anderen Seite ihren Urlaub aber auch nach dem «Mix and Match»-Prinzip individuell zusam-
menstellen. Es blieb jedoch dabei, dass sie nur unter den Angeboten
wählen konnten, die die Reiseveranstalter:innen im Programm hatten. Deshalb entschieden sich viele Reisende für einen selbstorgani-
sierten Urlaub.

Junge Individualreisende waren häufig Trendsetter, die Reiseziele entdeckten, welche wenig später durch Tourismusunternehmen für eine Vielzahl von Menschen zugänglich gemacht wurden. Dies war etwa bei den Inseln Ibiza und Kreta der Fall. Obwohl sie seit Langem massentouristisch erschlossen sind, halten sie auch bis in die Gegenwart bewusst einen «Hippie-Flair» aufrecht. Auch Interrail-Reisende waren Trendsetter, die Kurz- und Städtetrips populär machten. Bis
in die späten 1970er-Jahren unternahmen die meisten eine längere Urlaubsreise pro Jahr, bei der sie zumeist an einem Ort blieben. Seit den 1980er-Jahren wurde es üblicher, zusätzlich zu einer längeren Urlaubsreise im Sommer, ein bis zwei Kurzurlaube zu machen, die häufig in europäische Städte führten. Heute unternehmen Schweizer:innen beispielsweise im Durchschnitt mehr als zwei Reisen pro Jahr. Gleichzeitig profitiert die Schweiz vom Trend der Mehrfachreisen. Sie ist sowohl für Skifahrer:innen und Wander:innen als auch für Kurzurlauber:innen auf der Suche nach einem Städtetrip ein beliebtes europäisches Ziel.

Reisen als Normalität

Ende der 1980er-Jahre unternahmen Zweidrittel der westdeutschen und britischen Bevölkerung jährlich eine Urlaubsreise. Während die Mehrheit der Westdeutschen bereits seit den 1970er-Jahren Reisen ins Ausland vorzog, machte 1990 weniger als die Hälfte der britischen Reisenden Urlaub im Ausland. In anderen europäischen Staaten wie Italien, Frankreich und Spanien war der Anteil der Auslandsreisen noch wesentlich geringer. So verbringen auch heute noch fast 90 Prozent der Französ:innen ihre Ferien im eigenen Land. 

Durch weitere Liberalisierungen des europäischen Flugverkehrs in den 1990er-Jahren etablierten sich sogenannte Billigairlines wie Ryanair und EasyJet. Sie machten nicht nur Pauschalreiseanbieter:innen das Leben schwer, sondern waren mit ein Grund dafür, dass Interrail an Attraktivität verlor, zumal dort die Preise zur gleichen Zeit stiegen. 

Nach dem Ende des Kalten Krieges eröffneten sich für Reisende aus Ost und West jedoch neue Perspektiven. Häufig waren es familiäre Beziehungen, die zunächst die neuen Reiseziele bestimmten. Doch auch Individualreisende ebenso wie Reiseunternehmen nutzten sehr schnell die neuen Möglichkeiten, die sich ihnen boten. Heute sind osteuropäische Ziele vor allem als Städte- und Kurzurlaubsdestinationen beliebt und vollumfänglich in den europäischen Flug- und Schienenverkehr integriert.

Die Idee Europas

Die Frage, inwieweit Reisen zur Europäisierung beigetragen hat und beiträgt, ist nicht leicht zu beantworten, da sich die konkreten Effekte kaum messen lassen. Die Forschung interessiert sich seit einigen Jahren stärker für eine Europäisierung von «unten» anstatt von «oben». Reisen innerhalb Europas kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Die Mehrheit der Europäer:innen traf zum ersten Mal Menschen aus anderen europäischen Staaten, wenn sich diese oder sie selbst auf einer Urlaubsreise befanden. Massentouristische Hotspots waren und sind gleichzeitig Orte der Begegnung und des Austauschs. 

Dies betraf auch die Esskultur. In spanischen Urlaubsorten gab und gibt es neben der einheimischen Küche auch typisch deutsche oder britische Gaststätten sowie Restaurants, die «mediterrane» Speisen – häufig italienische oder französische – anbieten. Viele Reisende probierten in den 1970- und 1980er-Jahren im Urlaub zum ersten Mal Dinge, die heute in ganz Europa etabliert sind, wie Olivenöl, Knoblauch oder Cappuccino. Urlauber:innen übernahmen nicht selten Zutaten oder Gerichte aus dem Urlaub auf ihren heimischen Speiseplan oder besuchten spezielle Restaurants, um an den Urlaub erinnert zu werden. Einige fühlen sich bis heute im Urlaubsland sogar so wohl, dass sie beschliessen, ganz oder teilweise dort zu leben.

Das Reisen macht demnach zunächst fremde Orte erfahr- und nahbar. In den letzten Jahren steht es jedoch aufgrund der Klimakrise zunehmend in Kritik. Eine einfache Lösung, etwa ein Verzicht auf Reisen, gibt es allerdings nicht, denn gleichzeitig nehmen nationalistische Strömungen zu, die für Grenzschliessungen und Abschottung plädieren. Reisen und die daraus folgenden Begegnungen bilden wichtige Gegengewichte zu diesen Tendenzen. Auch das wiedergewonnene Interesse an Interrail trägt dazu bei und ist gleichzeitig eine klimaschonendere Art zu reisen. Vielleicht kann es auch hier noch einmal einen neuen Trend für die Zukunft setzen.

Sina Fabian forscht und lehrt zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. 

Ihre Schwerpunkte liegen in der Konsum-, Sozial- und Kulturgeschichte. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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