Am 22. Mai kommt die sagenumwobene Post-Punk-Musikgruppe Père Ubu in die Rote Fabrik. Welche revolutionäre französische Kunstfigur hinter diesem Bandnamen steckt und warum der Autor des Kultstücks «Ubu Roi» der erste Punk war, erzählt unsere Korrespondentin aus Paris.

 

Père Ubu: Ein stilistischer Etikettierungsversuch ist hier unnötig. Die Band aus Cleveland überschreitet seit vierzig Jahren bewusst jegliche solche und bringt sie durcheinander. Man sagte über Père Ubu, sie würden eine Art «expressionistischen Rock» ausüben, andere schubladisierungswilde Kritiker sprachen von «art rock» oder «avant garage», um das Unqualifizierbare zu qualifizieren.

Ich würde behaupten, eine weitere Definition zu wagen, wäre vergebens: Père Ubus Welt verweigert sich jeglicher Klassifikation. Ich versuche die Annäherung an die Band über einen anderen Weg: Was verbirgt sich hinter ihrem Namen? Es deutet einiges darauf hin, dass der Name «Père Ubu» mehr über die Band aussagt als jeglicher Definitionsversuch. Ein Name, den man nur auszusprechen braucht, um die Leidenschaft der Getreuen auszulösen. Ein Name, der einer der wichtigsten Figuren der französischen Literatur Tribut zollt.

Also, wer ist denn Père Ubu überhaupt?

Das Marionettenstück zählt mehrere tausend Figuren

Der Père Ubu (auf deutsch Vater Ubu) ist eine fiktive Person, die 1890 vom französischen Schriftsteller Alfred Jarry erfunden wurde. Als Symbol der Habsucht und als Karikatur des blutrünstigen, lächerlichen Tyranns tritt er zum ersten Mal 1879 in dem Marionettenschauspiel «Ubu Roi» auf; ein Schauspiel, das seither nie aufgehört hat inszeniert zu werden. «Ubu Roi» wird als erstes Drama mit absurden Zügen gesehen und gilt somit als Pionierstück des absurden Theaters, welches fast ein halbes Jahrhundert später durch Eugène Ionesco und Samuel Beckett als «Antitheater» oder «Théâtre de l’absurde» einen benennenden Begriff findet.

Das Stück erzählt mit einem satirischen Grundton die polnische Thronbesteigung eines gewissen Père Ubu und seiner Ehefrau Mère Ubu, beides groteske und grausame Figuren, die sich tagein tagaus vollfressen und fieberhaft morden. Ursprünglich als Marionettenspiel entwickelt, zählt das Stück mehrere tausend Figuren und gibt oft Anlass zu den wahnsinnigsten Bühneninszenierungen.

Alfred Jarry ist in den deutschsprachigen Regionen nur wenig bekannt, nicht zuletzt, weil er den Ruf hat, unübersetzbar zu sein («Ubu roi» wurde erst 1959 übersetzt). Tatsächlich ist Jarry Erfinder einer Sprache ohne Äquivalent; eine Mischung aus Wortspielen, Entlehnungen des alten Französisch, Volksprache und besonderer Pöbeleien.

merdre

Die erste Replik in «Ubu Roi» zeigt diese eigenartige und wunderliche Verzerrung der Volksprache gut auf. Es handelt sich um das Wort «merdre», ein Neologismus gebildet aus dem französischen Wort «merde», (Scheisse), welcher zum absoluten Wiedererkennungszeichen geworden ist, quasi zum Symbol der «jarrischen» Ästhetik.

Denn, jenseits von «Ubu roi», baute Alfred Jarry während seiner kurzen und steilen Karriere eine ganze Welt auf. Man verdankt ihm nicht zuletzt die Erfindung der «Pataphysik», ein «absurdistisches Philosophie- und Wissenschaftskonzept, das sich oftmals als nonsensische Parodie der Theoriebildung und Methoden modernen Wissenschaften gibt». Eine Wissenschaft des Einzelfalls, theoretisiert im Stück «Taten und Meinungen des Pataphysikers Doktor Faustroll», welches in mehreren Ansichten auf erste Erprobungen des Surrealismus hindeutet.

Mit seiner Pataphysik schiesst Jarry gegen die Universitäten und ihre wissenschaftlichen Hierarchien. Die Provokation gipfelt in der Gründung des «Collège de ‚Pataphysique». Zu den Mitgliedern gehören unter anderem Boris Vian, Raymond Queneau und Marcel Duchamp. Das «Collège de ‚Pataphysique» trifft sich heute noch und verfolgt gebannt die Publikation des Magazins «Viridis Candela» (Die grüne Kerze), in welchem mit grösstem Ernst Detailpunkte in Alfred Jarrys Werk besprochen werden. Indem sie sich für eine Mischung aus literarischer Recherche und absolutem Wahn einsetzen, sehen sich die Mitglieder des «Collège de ‘Pataphysique» mit folgendem Dilemma konfrontiert: «Der Pataphysiker nimmt nichts ernst, ausser die Pataphysik, die darin besteht nichts ernst zu nehmen..

Dennoch wäre es falsch, Alfred Jarrys Werk auf eine simple Farce zu reduzieren. Das Werk kann ebenfalls als visionäre Ankündigung des grotesken (ubuesken) Blutbads gelesen werden, welches das zwanzigste Jahrhundert einweihen wird. Themen wie Massaker und technologischer Überfluss werden ständig angesprochen und ausgeführt. Seine Grimassen schneidenden, vom Machtdurst bis in die Körper verzerrten Figuren zeugen von einer Zeit, in der die Illusion des Fortschritts Menschen in Maschinen verwandelte.

Die drei Leidenschaften des Alfred Jarry: das Fahrrad, der Alkohol und das Pistolenschiessen

Man braucht hier nur seinen sexuellen Marathonläufer im 1901 erschienenen «Surmâle» (deutsch: «Der Übermann. Moderner Roman»), sowie die sadomasochistischen Abscheulichkeiten des «Haldernablou» (1894) zu zitieren, um sich eine Idee des äusserst politischen Charakters seiner Werke zu machen. Der «Surmâle» wird in Jarrys Text als sexueller Roboter gezeigt: ein Mann, der eine Art Maschine geworden ist, und der versucht mit sexueller Leistung einen Rekord aufzustellen. Haldernablou hingegen setzt sich mit der Genderfrage und ungeheuren Verwandlungen auseinander; Jarry untersucht in diesem Text die Rolle des Monsters in der Gesellschaft.

Schlussendlich kann man sagen, dass Alfred Jarry Autor eines ganzen Kunstwerks ist, in welchem zweifellos er selber die Hauptfigur verkörpert. André Gide portraitierte Jarry in seinem 1925 erschienenen Roman «Les Faux-monnayeurs» (deutsch: «Die Falschmünzer») auf eine wenig lobende Art, die jedoch nicht zuletzt Jarrys Legende nachhaltig bestätigt. In diesem Portrait wird Jarry als ein in Absinth getränkter Clown beschrieben, ein Clown, der andere erschreckt und gleichzeitig fasziniert.

Und auch wenn hinter Gides Portrait mit Sicherheit ein wenig Übertreibung steckt, weiss man, dank anderer Zeugenaussagen, dass Alfred Jarry wenn nicht als Irrer, dann zumindest als Exzentriker angesehen wurde. Wenn er nicht gerade dabei war, sich in Pariser Salons als Spektakel zu inszenieren, lebte Jarry zurückgezogen in einer Hütte am Rande der Seine, wo er sich seiner drei Leidenschaften hingeben konnte: dem Fahrrad, dem Alkohol und dem Pistolenschiessen.

Zudem weiss man, dass er während seiner letzten Lebensphase die Gewohnheit entwickelt hatte, sich die Haare blau zu färben und sich das Gesicht wie ein Schauspieler des franzöischen Horror- und Splattertheaters «Grand Guignols» zu schminken. – Alfred Jarry, ein entfernter Ahne des Punks?

Un cure-dents…

Alfred Jarry starb 1907, im Alter von vierunddreissig Jahren in Paris.

Als Alkoholiker, halb irr und von seinen Gläubigern verfolgt, war Jarrys letzte Bitte am Sterbebett, nachdem er seine letzten Briefe mit dem Namen Père Ubu unterschrieb, dass man ihm einen Zahnstocher bringen möge . «Un cure-dents…»

Jarry liess ein erhebliches Werk hinter sich, auf welches sich das Zwanzigste Jahrhundert nie aufhörte zu beziehen. Die Futuristen, Dada und vor allem die Surrealisten machten aus Alfred Jarry eine unüberschreitbare vormundschaftliche Figur.

Man verdankt ihm den Gedanken des anarchistischen Spotts, ein Gedanke, der gleichzeitig frei von jeglicher Vereinbarung ist, jedoch aber auch extrem anspruchsvoll bleibt; ein Gedanke, auf den nicht zuletzt die Vorgehensweise der Père Ubus aus Cleveland hindeutet.

Man kann hier David Thomas, den Leadsänger der Band Père Ubu zitieren, der 1997 behauptete, «die Musik revolutionieren zu wollen und eine neue Art kreieren zu wollen: eine aussergewöhnliche und tief expressionistische Art, auf den Ruinen der Literatur, der Malerei und der Schnitzerei.»

Mit einer Distanz von fast einem Jahrhundert, charakterisieren sich die beiden Pères Ubu also durch einen gemeinsamen Willen: auf ihrem Wege alles wegzufegen!

 

Père Ubu spielen am 22. Mai um 21 Uhr im Ziegel Oh Lac.

Rebecca Gisler schreibt Prosa und szenische Texte, auf Deutsch oder Französisch. Sie lebt und studiert in Paris.

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