Vor einigen Jahren geschah etwas Seltsames: Eine kroatische Sängerin, die eigentlich nur im ex-jugoslawischen Raum Bekanntheit genoss, schaffte es auf die Titelseite einer deutschen Boulevardzeitung, ja sogar DER Boulevardzeitung. Die Dame heisst Severina Vuckovic, der Titel lautete: «Sex-Skandal beim Grand Prix.» Aber eigentlich hatte sie es vor allem und dank dieses «Sex-Skandals» überhaupt erst zum Grand Prix geschafft.
Das Sextape – immer wieder wird es sorgfältig in Planung und Konzept von Promikarrieren platziert. Es ist nicht neu, bereits 1988 konnte man das erste Sextape eines Prominenten erwerben: Der 22-jährige Rob Lowe beim Gruppensex. Oder später, in den 90ern, das viel bekanntere Video von Pamela Anderson und Tommy Lee. Ich sah mir beide an. Nicht nur durch den Rauscheffekt, den man bei damaligen VHS-Rekordern nun mal hatte, fühlten sich diese Bilder harmlos an. Es sind eindeutige, irgendwie langweilige Homevideos, die man gleichzeitig auch gar nicht weiter schauen mag, weil man damit in die Privat- und Intimsphäre eines anderen Menschen greift, eintaucht, irgendwo, wo man nicht hingehören sollte und auch nicht hingehören mag. Die Bilder von Pamela, ihr Gesicht in diesem Video verschwanden und wurden von meinem Gehirn als unbrauchbare Bildfolge weggeschwemmt.
Trotz des sogenannten «Skandals», den Prominenten schadeten diese Videos nicht – ganz im Gegenteil. Ob es Absicht war? Ich glaube nicht, dass diese Videos für die Öffentlichkeit gedacht waren. Der darauffolgende Erfolg war in beiden Fällen nicht voraussehbar und ein angenehmer Nebeneffekt nach einer Reihe von Unanehmlichkeiten.
Aktuelle Sextapes von Prominenten hingegen wirken wie «echte» Pornos – und zwar wie die, welche man im Internet in der tatsächlich ziemlich durchkonzipierten Kategorie des «Amateurporn» findet. Der Hauptdarsteller hält sich die Kamera meist vors Gesicht, wodurch der/die Zuschauer/in seine Perspektive einnimmt; es wird Nähe geschaffen, es wird Schlafzimmer simuliert, es entsteht eine Ich-Perspektive, die Beleuchtung ist spärlich – es sind verfilmte Minidrehbücher. Küssen, ein paar Nahaufnahmen beim Oralsex, wenig Perspektivenwechsel, etwas Stöhnen und Wimmern – nicht übertrieben schreien, wenig Zusammenschnitte. Das Ziel ist Echtheit zu simulieren, jedoch kombiniert mit den Idealen eines professionell gedrehten Pornos, weswegen es sorgfältig entworfen und vorbereitet erscheint. Im Promi-Sextape zelebriert sich die Frau als Pornostar, dabei ist ihr Gesicht meist starr, einige linkisch-holprige Lächler werden hie und da platziert, der Körper streng so ausgerichtet, dass ja kein Speckröllchen sichtbar wird. Beide Darsteller haben Pose einzuhalten. Auch der Drehort ist arrangiert: Es wirkt wie im Schlafzimmer eines Fünfsternehotels, ein Ort, an dem so manche/r der Zuschauer/innen gar nie sein wird. Eine Welt, in der sich der Alltag und somit auch der Sexualalltag dieser Auserwählten abspielt: Himmelbett und faltenfreie Körper. Beim Sexualakt selber wirken die Frauen erstaunlich unbeeindruckt, unecht und auch parodistisch: Paris Hilton nimmt, während sie von Hinten genommen wird, ein Telefonat entgegen, und während sich Ray-J (Sexualpartner von Kim Kardashian) vorbereitet, indem er seine Hüfte ins Leere stösst und sich dabei selber zusieht, schreibt Kim im Hintergrund irgendwelche Notizen. Als sie dann miteinander schlafen, kaut sie permanent einen Kaugummi. Und selbst wenn behauptet wird, dass diese Videos nicht an die Öffentlichkeit hätten gelangen dürfen, ist es genau das, was die Darsteller und Darstellerinnen zeigen möchten: Kein emotionaler Ausbruch, kein Zeichen von Befriedigung (aber auch keine Unzufriedenheit), nur eine leere, sich beim Akt einbringende Hülle, ein unbeschriebenes Gesicht, auf das man seine eigenen Emotionen projizieren muss – tatsächlicher Spass ist nirgends sichtbar, genauso wenig eine Nähe zwischen diesem angeblichen Liebespaar.
Früher musste man sich ein Hochglanzmagazin kaufen, um einem sogenannten Star und seinem Leben näher zu kommen und eine wie auch immer geartete, meist einseitige Nähe zu ihm zu schaffen. Soziale Medien wie Facebook und vor allem Instagram regeln diese Nähe von selbst. Das eigenartige Selfiebombardement, dem man durch Kim Kardashian ausgesetzt wird, gibt einem die Möglichkeit weiter in ihren Alltag zu tauchen – quasi das Kapitel nach dem erfolgreichen Sextape. Ihr Gesicht ist immer noch gleich starr, manchmal erhascht man ein Lächeln. Doch es ist eines dieser Lächeln, von denen man weiss, dass sie gleich wieder verschwinden, eines, das wir manchmal im Vorbeigehen unkontrolliert einem Menschen schenken. Ein Lächeln, das wir gleich wieder unter Kontrolle haben – ja nicht ausgelassen, zu herzlich, man lässt sich dem Fremden gegenüber ja auch nicht gehen. Eine Kombination aus äusserlicher Nähe und innerer Distanz, aus Inszenierung und angeblich natürlicher Anmut. Dieses Lächeln bleibt eine Leerstelle, welche unumstösslich und überlebensnotwendig für ein prominentes Dasein in den heutigen Medien ist: Gestraffte Selbstkontrolle, die alle Ebenen eines Wesen und eines Auftreten glättet. Wir werden mit Nachdruck eingeladen an Kims Sexual-, Familien- und Liebesalltag teilzunehmen, doch nicht an ihren Gedanken. Vielleicht hat sie nicht viele? Aber sollte wahrhaftige Bewunderung für Künstler nicht vielmehr in Anbetracht ihrer Gedanken entstehen, statt durch diesen inszenierten Hintereingang zur Promi-Life-Mansion, der uns da präsentiert wird? Diesen inneren Hohlraum mit der äusserlichen Fülle drumrum kann Kim jedoch nicht aufgeben, sonst würde sie als Projektionsfläche für die Fantasien und Träume junger, darauf anspringender Frauen bröckeln. Sie setzt unseren medialen Überschuss und die damit verbundenen, permanenten Darbietungen jeder Emotionsregung gegen uns ein, weil sie weiss, was wir wollen und welche Sehnsüchte da draussen vor den Bildschirmen schlummern.
Wenn ein Skandalvideo auftaucht, ist es innerhalb weniger Minuten im ganzen Netz. Natürlich interessieren Skandale – und das Internet vergisst nie; wir können sie jederzeit, wenn uns danach ist, wieder abrufen. Sogar über referenzielle Videos – zum Beispiel von Reaktionen auf das Sextape von Kim Kardashian. Das wohl bekannteste ist: «Gradmas watch Kardashian sex tape». Sie sagen dabei lustige Dinge, kichern und rufen aus. Es ist, als ob hier auch ein Beweis geliefert werden wolle, dass das Sextape über alle Gesellschaftsschichten hinweg etwas eher Harmloses und durchaus auch Sehenswertes sein soll. Früher musste man sich als prominente Person von einem Sexskandal erholen – heute bedeutet der Sexskandal selbst die Rückkehr oder gar den Aufstieg als Star.
Skandale und Reality-Shows haben Bildung und Informationen aus den Medien fast verscheucht. Die Grenze zwischen dem Sein als Privatperson und dem einer Figur im Netz ist flüssig – somit wird nicht nur Eigenes, sondern auch Sexuelles zur Schau gestellt. Paris Hilton, Kim Kardashian, Pamela Anderson, Ray-J, Colin Farrell (die Liste ist noch viel länger)… Es macht nicht den Anschein, dass das Sextape ihrer Berühmtheit geschadet hat. Junge Frauen und Männer – das kann man nicht leugnen – bewundern diese Personen; junge Menschen werden mit dieser Art von Medienkultur gross. Es gibt also diese Personen, die dank eines pornografischen Skandals berühmt wurden. Aber es gibt auch Prominente, die durch sexuelle Skandale gelitten haben. So wurde Britney Spears, wegen eines Paparazzi-Fotos, auf dem sie unten ohne abgebildet wurde, wie sie in einem Minirock ohne Unterwäsche breitbeinig aus dem Taxi stieg, als «trashig» oder «billig» bezeichnet – und dann fällt dieser Begriff «Schlampe». Wo die Gesellschaft hier ihre Grenzen zieht, ist mir nicht klar, mir ist – zum Glück – sowie das eine, als auch das andere Gedankengut völlig fremd.
Ich erinnere mich gerne an die Serie «Black Mirror» und die erste Episode «The National Anthem»: Der Premierminister bekommt ein Video, auf dem sich die Botschaft eines anonymen Entführers befindet. Der Entführer hat ein hochgeschätztes und beliebtes Mitglied der Königsfamilie in seinem Gewahrsam. Für die Freilassung der Prinzessin fordert er, dass der Premierminister Sex mit einem Schwein hat und das im Nationalen Fernsehen übertragen wird. Der Premierminister weigert sich natürlich und fordert strengste Geheimhaltung von seinem ganzen Team, doch das Entführungsvideo wird auf Youtube gestellt. Ich möchte das Ende hier nicht verraten, vielleicht mag sich jemand diese wirklich wunderbare Episode ansehen. Natürlich ist es absurd und dystopisch, aber sieht man sich zukünftig geplante Projekte, wie zum Beispiel «mars one» an, so wollen wir anscheinend immer tiefere Schamgrenzen durchbohren und zusehen, wie andere ihre Schamgrenze sprengen: Asoziale Schwiegersöhne sollen vermittelt werden; Frauen machen sich zu Leibeigenen, damit sie eine Rose von einem sogenannten Unterwäschemodell mit massenweise Gel in den Haaren erhalten; und Leute machen nackte Blinddates auf einer verlassenen Insel, welche die Schöpfungsgeschichte auf Trash-TV simulieren sollen. Im Genre des Promi-Sextapes zeigt sich die Ästhetik der gekünstelten Perfektion als effektivstes Zeichen für Erfolg. Je höher der Inszenierungsgrad eines Individuums ist, desto mehr Anerkennung kriegt es. Dieses Resultat ist gefährlich, denn diese Farce wird immer realer wahrgenommen; sie ist eine lichterlohe Projektion für junge Menschen und teilweise eben ein schwarzer Spiegel unserer narzisstischen Gesellschaft, unserem Drang nach Selbstdarstellung.

PS:  Was mich – trotz allem – Wunder nimmt (auch ich
bin nicht immun gegen Trash, no no): Was macht eigentlich Pamela Anderson heute? Wann kommt das erste Schweizer Sextape – hier braucht man ja immer etwas länger, bis man merkt, dass sich etwas bewährt hat – wer wird es sein? Und wird es dann überhaupt noch ein Trend sein? Wann kommt das erste homosexuelle Sextape und was wird es auslösen? Werden es Frauen oder Männer sein? Und was empfindet Frau Martullo-Blocher wohl als erotisch?

Ivona Brdjanovic hat am Schweizerischen Literaturinstitut studiert und abgeschlossen. Sie arbeitete in Spitälern, Bäckereien, Bars, Baustellen und Tankstellen und studierte Umweltingenieurwesen.

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