Als einer der weltweit meistgelesenen deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts prägte Friedrich Dürrenmatt den politischen Diskurs seiner Zeit mit. Seine Schaffenszeit deckt sich ziemlich genau mit der Zeit des Kalten Kriegs. Am ideologischen Konflikt der beiden Supermächte entzündete sich sein politisches Denken. Dürrenmatt prägte das Bonmot von der Welt als einer Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist. Im Kalten Krieg hätte ein einziger Zündfunke eines Wahnsinnigen genügt, um das atomare Pulverfass in die Luft zu jagen und die Erde in eine strahlende Wüste zu verwandeln. Für Dürrenmatt ist die Metapher aber auch ein Sinnbild für die Sprengkraft des kritischen Denkens. Bereits zu seinen Lebzeiten war sein Theaterstück «Die Physiker» (1962) als Parabel auf den Kalten Krieg zu einem Klassiker geworden. Der Anspruch der Schweiz, ein «Sonderfall» zu sein und damit eine einzigartige Stellung mit Vorbildcharakter innerhalb der Staatenwelt einzunehmen, hat Dürrenmatt in seinem Essay «Zur Dramaturgie der Schweiz» (1968/1970) und in seiner Erzählung «Der Winterkrieg in Tibet» (1981) jedoch vehement in Frage gestellt.

Am 11. Juli 1958 hatte der Bundesrat eine Erklärung veröffentlicht, in der er erstmals eine Bewaffnung der Schweizer Armee mit Atomwaffen in aller Deutlichkeit befürwortete. Wenige Wochen danach erteilte der Bundesrat dem Generalstab den Auftrag, sich nach einem neuen Kampfflugzeug umzusehen, das als Transportmittel für Atomwaffen eingesetzt werden könnte. Die Luftwaffe sollte mit atomar bewaffneten Überschall-Jagdbombern ausgestattet werden, um offensive Angriffe im Feindesland zu fliegen. Als es bei der Beschaffung des Kampfjets zu massiven Kostenüberschreitungen kam, verweigerte das Parlament einen Zusatzkredit. Das Militärdepartement wurde beschuldigt, die Regierung, das Parlament und die Öffentlichkeit absichtlich getäuscht zu haben. Die «Mirage-Affäre» erschütterte damals das Vertrauen der Öffentlichkeit und des Parlaments in die Armeespitze. Das Parlament beschloss am 23. September 1964 eine Reduktion von 100 auf 57 Flugzeuge. Die «Mirage-Affäre» von 1964 stutzte den hochfliegenden Plänen für eine Schweizer Atombombe die Flügel. Auf Druck der beiden Supermächte, den USA und der Sowjetunion, musste die Schweiz 1969 dann den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnen. Das geheime Atomwaffenprogramm wurde dennoch weitergeführt und erst 1988 endgültig beendet.

Dürrenmatt hatte bereits 1966 in einem Interview mit dem Journalisten Alfred A. Häsler der Meinung gewisser Armeeangehöriger widersprochen, die davon ausgingen, dass eine atomare Bewaffnung dazu diene, die Neutralität der Schweiz zu bewahren. Die Haltung der Armeeführung hat er dabei mit einem Schaf im Wolfspelz verglichen: «So ein Wolfspelz wäre für uns die Atombewaffnung, mit der sich unsere Armeeführung geistig beschäftigt. Es ist daher eine Pflicht jedes Bürgers, sich mit unserer Armeeführung geistig zu beschäftigen. Eine Abschreckungsstrategie, die, wenn es misslingt, den physischen Untergang des Schweizervolkes nach sich ziehen kann, halte ich für ein Verbrechen.» In seinem Essay «Zur Dramaturgie der Schweiz» (1968/1970) weist er darauf hin, dass die Schweiz als Atommacht im Falle eines Atomkrieges Gefahr laufe, angegriffen zu werden, auch dann, wenn sie ihre Neutralität beteuere: «Eine Schweiz mit Atomwaffen widerspräche sich selber. Ihre Neutralität würde fragwürdig und ihre Wehrbereitschaft leichtsinnig. In einem Atomkrieg liefe die Schweiz als Atommacht Gefahr, als potentieller Gegner en passant vernichtet zu werden, trotz ihrer Neutralitätserklärung, sicher ist sicher, ein Zwerg in der Rüstung eines Riesen wird als Riese behandelt, auch wenn er hundertmal beteuert, er sei ein friedlicher Zwerg geblieben; und in einem konventionellen Kriege könnte sie ihre Atomwaffen nicht anwenden, um nicht eine atomare Antwort zu provozieren.» Die Vorstellung einer mit Atomwaffen ausgerüsteten Schweizer Armee hielt Dürrenmatt für eine abstruse Idee, ja für einen gefährlichen Grössenwahn.
In der Erzählung «Der Winterkrieg in Tibet» (1978/79) beschreibt Dürrenmatt dann einen absurden apokalyptischen Kampf aller gegen alle in einem unterirdischen Labyrinth im Himalajagebirge. Ein verkrüppelter Schweizer Offizier berichtet von seinem Irrweg durch sein im Dritten Weltkrieg zerstörtes und atomar verseuchtes Land. Vom Unterengadin aus wandert er quer durch die Schweiz nach Bern, wo er, nach verschiedenen Gängen durch die Ruinen seiner Heimatstadt, seinen Geheimauftrag ausführt und den Anführer der pazifistischen Verwaltung erschiesst. Der Bundesrat hält sich in grotesker Übersteigerung der Réduit-Strategie des Zweiten Weltkriegs in einem geheimen Bunker unter dem Bergmassiv der Blümlisalp verschanzt und gibt – von der Aussenwelt durch eine Atomexplosion abgeschnitten und offensichtlich nicht informiert über die Situation in der Aussenwelt – über den Rundfunk absurde Durchhalteparolen von sich. Durch die Atomexplosion ist der Bundesrat im Berginnern der Blüemlisalp gefangen, trotzdem wird munter weiterregiert. Die Regierung und das Parlament tagen in Permanenz. Es ist eine Regierung ohne Volk. In Dürrenmatts Groteske wird aus dem patriotischen Unbesiegbarkeitsmythos der Schweizer Armee ein antidemokratischer Wahn, in welchem die Bevölkerung geopfert wird, um die Elite des Landes zu retten. Es ist eine Situation, in der jeder Patriotismus lächerlich geworden ist.

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich im Juni 1940 verkündete General Henri Guisan am 25. Juli 1940 bei seinem legendären Rütli-Rapport den Rückzug in die Alpen. Die Réduit-Strategie führte zu einer igelartigen Konzentration der Schweizer Armee rund um das Gotthardmassiv und sah einen langwierigen Gebirgskampf sowie die Zerstörung der Alpentransversale vor. Die abschreckende Wirkung des Réduits bestand darin, dass den Achsenmächten eine unabhängige Schweiz mit einem funktionierenden Gütertransport durch die Alpen mehr dienen würde als ein erobertes Land mit einer zerstörten Industrie. Die Sprengung der Tunnels und Fabriken hätte die Schweiz für die Besatzungsmächte unrentabel gemacht. Da General Guisan kaum Panzer und Flugzeuge hatte, musste er sich mit der Armee ins Réduit zurückziehen. Nach dem Krieg wurde das Réduit zum nationalen Symbol des Widerstands und des patriotischen Heldentums. Das Réduit wurde in der Erinnerungskultur der Aktivdienstgeneration als Vermächtnis von General Henri Guisan zum Inbegriff des Wehrwillens. Es verfestigte sich im Kalten Krieg zum Mythos von der uneinnehmbaren Alpenfestung Schweiz und verstärkte den Glauben an die angebliche Unbesiegbarkeit der Schweizer Armee. Der Réduit-Mythos zeigte sich im Kalten Krieg in der grossflächigen Verbunkerung der Schweiz aus Angst vor einem drohenden Atomkrieg und einer möglichen kommunistischen Invasion. Dürrenmatt kritisiert nicht die militärische Strategie des Réduit an sich, sondern die Nibelungenstrategie der Armeeführung, die behauptete, der Untergang der Schweizer Armee sei gleichbedeutend mit dem Untergang der Schweiz. Im Essay «Zur Dramaturgie der Schweiz» (1968/1970) hatte er dazu geschrieben: «Das Réduit war noch eine realistische und darum schweizerische Idee. Man baute die Alpen zu einer Festung aus und plante, im Ernstfall die übrige Schweiz nicht zu verteidigen. Wir mussten für Hitler arbeiten, und seine Züge rollten durch unsere Tunnel nach Italien. Doch gerade dadurch besassen wir eine Waffe gegen ihn, die Fabriken, die Tunnel konnten gesprengt, das Land unrentabel gemacht werden. Rein militärisch gesehen war das Réduit absurd. Er erfüllte die Hauptaufgabe einer Armee nicht, das Volk zu schützen. Es wollte die Armee retten und das Volk ausliefern. Doch strategisch war es eine überaus listige Idee, die unmittelbar jedem einleuchtete. So konnte das Réduit zu einem Mythos eines möglichen Widerstandes werden. Nun haben wir den Mythos eines unmöglichen Widerstandes. Die Armeeführung kompensiert den Minderwertigkeitskomplex, den ihr die nicht stattgefundene Feuertaufe hinterlassen hat. Sie will nicht mehr listig, sie will heldisch sein. Sie redet sich ein, Hitler habe die Schweiz aus Furcht vor unserer Armee nicht angegriffen, und geht von der Fiktion aus, eine mögliche Niederlage unserer Armee sei auch der Untergang der Nation.»

Die Erzählung «Der Winterkrieg in Tibet» ist aber nicht nur eine bitterböse Satire auf das Réduit des Zweiten Weltkrieges, sondern vor allem auch eine auf die Atombunker des Kalten Krieges. Diese stellten in der Schweiz alles in den Schatten, was der Zweite Weltkrieg an Befestigungsanlagen hervorgebracht hatte. Als Reaktion auf die Angst vor einem sowjetischen Atomangriff schuf die Schweiz im Kalten Krieg das weltweit umfassendste System unterirdischer Betonzellen. Der drohende Atomkrieg machte das Überleben der Schweizer Bevölkerung nur noch im Untergrund vorstellbar. Das Zivilschutzkonzept von 1971 sah erstmals ein flächendeckendes Netz von Schutzräumen vor. Damit begann die Betonierung des Schweizer Untergrunds. Die Verordnung verlangte, dass jedes neue Wohn- oder Ferienhaus pro Zimmer einen solchen Schutzplatz besitzen sollte. Unter der Maxime «Jedem Bewohner ein Schutzraum» setzte in den 1970er-Jahren ein gewaltiger Bauboom ein. Zwischen 1974 und 1976 wurde eine Zuwachsrate von jährlich über 400’000 Schutzplätzen erzielt. Alle überlebenswichtigen Systeme wie Spitäler, Kommunikationssysteme oder Wohnräume wurden für den Ernstfall unter der Erde nachgebaut und erfuhren in der unterirdischen Schattenwelt der Schutzbauten eine seltsame Verdoppelung. Im Falle eines Atomkrieges hätten die Bunker die gesamte Bevölkerung aufnehmen können. Der grösste zivile Bunker der Schweiz wurde 1976 im Autobahntunnel Sonnenberg in Luzern eingeweiht. Die Zivilschutzanlage war eine unterirdische Bunkerstadt, die im Falle eines Atomkrieges 20’000 Menschen Schutz bieten sollte. Sie war mit allem Nötigen ausgestattet, mit einem Operationssaal, einem Radiostudio, zahlreichen Verwaltungsbüros, einem Postschalter, einem Büro für den Seelsorger, einem Geburtssaal und einer Leichenkammer.

In den Atombunkern wurde die Angst vor einem sowjetischen Angriff in Beton gegossen. Die binäre Logik des Kalten Krieges wurde im Untergrund in Stein gemeisselt. Die Atombunker waren auch ein Bollwerk gegen den Kommunismus. Sie spiegelten mit ihrer massiven Architektur den Antikommunismus der offiziellen Schweiz im Kalten Krieg wider. Der Bunkerbau war während des Kalten Krieges in der Schweiz ein integraler Bestandteil der «totalen Landesverteidigung». Er wurde zum Symbol der nationalen Unabhängigkeit, des zivilen Widerstands und der militärischen Wehrbereitschaft. Mit dem Aufkommen der neuen Friedensbewegung im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 wurden die Atombunker und damit die Illusion, dass ein Weiterleben nach dem Atomkrieg möglich sei, zunehmend in Frage gestellt. Dürrenmatt hatte mit seiner grotesken Geschichte die Demontage der Atombunker als geistiges Bollwerk des Kalten Krieges bereits vorweggenommen. Die Geborgenheit der Höhle im Berginneren verwandelt sich bei ihm in eine tödliche Falle. Die Schweizer Regierung wird in ihrem Luxusbunker unterhalb der Blüemlisalp lebendig begraben. Damit dachte Dürrenmatt die helvetische Verteidigungsdoktrin des Kalten Krieges bis an ihr bitteres Ende.

Michael Fischer, geboren 1981, studierte an den Universitäten Bern und Luzern Philosophie, Geschichte und Ethnologie. Er schrieb als Kulturjournalist für den Tages-Anzeiger, die NZZ am Sonntag und die Süddeutsche Zeitung.
Vorliegender Text ist ein Auszug aus Michael Fischer (2021). Rauchen in der Pulverfabrik. Friedrich Dürrenmatts politisches Denken im Kalten Krieg. Zürich: Chronos Verlag.

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