* Bei dem sich jemand mit dem exakt selben Namen angemeldet hat wie ich, sodass die Veranstalter eine Doppelbuchung vermuteten und mich von der Gästeliste strichen.

 

1.

Ich steige in den Zug und setze mich in ein Abteil. Ich spüre sofort, dass die Stimmung angespannt ist. Mir gegenüber sitzt ein Ehepaar kurz vor der Pensionierung. Sie sprechen nicht miteinander, lesen aber auch nichts. Sie versuchen, sich gegenseitig aktiv zu ignorieren. Ich frage mich, warum sie das tun. Eine halbe Stunde halte ich es aus, dann sagt die Frau in leisem, scharfen Ton: «Das kann gar nicht alles der Hund gefressen haben.» Der Mann tut so, als habe er es überhört. Hat er aber nicht, das merke ich, weil er laut ausatmet.

Ich verlasse das Abteil, als der Zug hält. Dabei muss ich noch nicht aussteigen. Ich setze mich an einen neuen Platz. Aus meiner Tasche hole ich das Buch, das ich lesen will: ‹Chronik eines angekündigten Todes›. Ein Klassiker, fast so gewichtig wie die Sachen von Shakespeare. Das erste, das ich von diesem Autor lese. Aber ich kann mich nicht konzentrieren: Eine Frau sitzt mir gegenüber, sie trägt riesige bunte Ohrringe, die wie eine Mischung aus Blüte und Frucht erscheinen, und dazu einen Schal, der nicht minder farbenfroh ist und die perfekte Balance zu ihrem sonst schlicht-schwarzen Outfit und den schwarzen langen Haaren herstellt. Diese Zugreise hat es in sich: Sie liest das gleiche Buch wie ich – auf Spanisch. Das erkenne sogar ich mit meinem nicht sehr ausgeprägten Spanischkenntnissen, und natürlich verrät es auch der Name des Autors auf dem Buchdeckel. Sie merkt es aber nicht. Ich wundere mich, gehe beim nächsten Stopp aus dem Abteil und mache mir klar, dass das gar kein grosses Wunder ist, wenn jemand das gleiche Buch liest. Zumal es ein Welterfolg und wahrscheinlich eines der meistverkauftesten Büchern aller Zeiten ist. Ich ermahne mich zur Vernunft: Hier ist nichts Übersinnliches am Werk. Ausserdem ermahne ich mich sprachlich: Es heisst meistverkauften und nicht meistverkauftesten. Und sie liest das gleiche Buch nicht dasselbe. Zum Glück ist mir dieser Fehler nicht passiert!

Das Schicksal will mir doch einen Streich spielen

Im nächsten Abteil sitzt eine junge, hübsche Frau, wahrscheinlich Studentin, und hört mit zu grossen Kopfhörern Musik. Dennoch wirkt sie ganz angenehm und ich setze mich. Ich packe meine russischen Vokabelkärtchen aus und beginne zu lernen. Das läuft gut, bis ich merke, dass auch sie Vokabeln lernt. Russisch! Ich spreche sie darauf an und sie erzählt, dass sie das gleiche Fach studiert, das ich studiert habe und ich entdecke, dass sie sehr hübsch lächelt. Trotzdem ärgere ich mich auf einmal. Das Schicksal will mir doch einen Streich spielen: Das mit dem Buch ist ja noch harmlos gewesen, aber das ist zu viel! Wutentbrannt packe ich meine Sachen und verlasse das Abteil, ohne mich umzudrehen.

Hier sitzt ein alter Mann. Und mit alt meine ich: richtig alt. Doch er scheint gut in Schuss und trägt nicht die obligaten beigen Rentnerkleider, sondern einen gut sitzenden dunkelgrünen Anzug und braune Budapester. Er hat klare Augen und da ich nichts zu lesen oder schreiben aus der Tasche hole, fragt er mich, ob ich eine lustige oder eine traurige Geschichte hören wolle. Ich will die lustige. Er erzählt von Drachen, einer Flöte, die magische Kräfte hat, und anderen märchenhaften Dingen. Erst bin ich begeistert, doch mit der Zeit kommt mir die Geschichte bekannt vor. Der erzählt hier tatsächlich die Handlung eines Computerspieles, das ich selbst vor vielen Jahren gespielt habe. «Nicht mit mir, Herr Geschichtenerzähler-Hochstapler», denke ich und verlasse unter dem Vorwand, etwas im Bordbistro essen zu wollen – was ja für sich genommen ein Ding der Unmöglichkeit ist, ausser wenn man Curry-Wurst aus der Mikrowelle als etwas zu essen bezeichnet – das Abteil.

Das kann ja heiter werden

Im nächsten spielt sich folgende Szene ab: Fünf ältere Frauen mit Schnäpsen, auf dem Weg zu einem, wie sie selbst sagen: «Hühnerwochenende in der Stadt». «Das kann ja heiter werden», denke ich und wundere mich, warum ich «heiter» denke. Sie begrüssen mich überschwänglich und es geht nicht lange, bis ich ebenfalls süssen, klebrigen Likör aus kleinen Fläschchen trinken muss. Ich verziehe das Gesicht, obwohl es ganz gut schmeckt, aber ich weiss, dass die Damen darüber lachen werden, und sie lachen wirklich sehr. Ich tue ihnen diesen Gefallen gerne. Später sagen sie, dass ich sie an ihre Söhne erinnere und werden leicht sentimental. Ich auch. Die Stimmung ist gut, aber für meinen Geschmack dann doch zu emotional. Sie verstehen, dass ich etwas Ruhe bevorzuge und geben mir zum Abschied Küsschen auf die Wange. Beim Rausgehen reibe ich mit einem Taschentuch mein lippenstiftverschmiertes Gesicht wieder sauber.

Vom Likör habe ich Schluckauf. Das passt mir nicht, weil mein Bedarf an sozialer Interaktion jetzt wirklich gedeckt ist und ich noch nicht mal Karlsruhe erreicht habe. Und gerade der Schluckauf ist für viele Menschen ein willkommener Anlass, das Gespräch zu suchen und Tipps zu geben. Ich versuche vergeblich den Schluckauf zu unterdrücken und verziehe dabei den Mund.

Im nächsten Abteil sitzen drei Leute, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, sich aber dennoch unterhalten. Zumindest die beiden Männer. Der eine ist sehr spiessig gekleidet. Sein Gesicht wirkt für den Körper zu jung und etwas teigig. Dass er keinen erkennbaren Bartwuchs zu haben scheint, unterstreicht diesen Eindruck zusätzlich. Hätte man einen unscheinbaren Peversling für einen Psycho-Thriller gesucht, wäre er sicher in die engere Auswahl gekommen. Der andere ist ein schwarz gekleideter, übergewichtiger Student mit Pferdeschwanz und Bart. Am Fenster sitzt eine Frau mit dünnen, schlecht gefärbten Haaren und einer Sonnenbrille, obwohl es draussen nicht besonders hell ist. Sie wirkt ausgezehrt, wie eine erfahrene Burnout-Kandidatin. Mir ist jetzt alles egal und ich setze mich dazu. Ich gluckse immer wieder, während sich die beiden Männer darüber unterhalten, was sie mit ihrem Wissen Hilfreiches zu einer mittelalterlichen Gesellschaft beitragen könnten. «Also ich kann mit blossen Händen keinen Fernseher oder Computer bauen», gesteht der dicke Student. «Stimmt», erwidert das Kindergesicht, «ich benutze das meiste auch einfach so, ohne darüber nachzudenken. Ich könnte vielleicht Lesen und Schreiben unterrichten, aber in Mathe war ich nie besonders gut», «Das hätte die Kirchenobrigkeit nie zugelassen, dass ihr jemand die Wissenshegemonie aus den Händen reisst!», kontert der Student selbstgerecht. Er pausiert kurz und sagt dann energisch: «Hygiene! Ich würde ihnen Hygiene zeigen!» Als er das ausspricht, gibt die Frau am Fenster einen spöttischen Laut von sich, und tatsächlich ist dieser Mann nicht gerade das, was man als Paradebeispiel für Hygiene anführen würde. Gleichzeitig gluckse ich sehr laut wegen des Schluckaufs und die beiden Männer schauen mich an. Mir fällt nichts ein und ich sage spontan: «Büroklammer.» Eine unangenehme Stille entsteht, zum Glück hält der Zug. Das Kindergesicht und die Burnout-Frau brechen auf. Von der Seite sehe ich, dass der Sonnenbrille der Frau rechts ein Bügel fehlt. Der dicke Student, ich und mein Schluckauf bleiben zurück.

Das Gespräch nimmt eine wunderliche Wendung

«Ganz schön unangenehm so ein Schluckauf, passen Sie auf wegen des Refluxes», spricht er mich nach einigen Minuten an. «Das kann einem schon mal die Speiseröhre verätzen.» Ich habe auf das Gespräch keine Lust und frage leicht gereizt, ob er wohl etwas wisse, was helfe. Das Gespräch nimmt eine wunderliche Wendung, denn er bietet mir an, für mich zu beten. Nun gibt es kein Zurück, ich zucke die Achseln: «Warum nicht, wenn’s hilft?» Er legt mir die Hand auf die Brust und ruft Jesus an. Er spricht den Namen englisch aus, dankt ihm dafür, am Kreuz gestorben zu sein und bittet darum, dass der Schluckauf von mir genommen wird. Ich gluckse ein letztes Mal und weg ist er. Mit wissendem Lächeln blickt er mich an und spricht: «Ich glaube, Sie brauchen jetzt ein bisschen Ruhe.» Er hat Recht und verlässt das Abteil.

Endlich bin ich in Karlsruhe angekommen. Hier muss ich umsteigen und nutze die Zeit für einen Kaffee und ein Brötchen. Beides schmeckt in Ordnung, entlarvt aber die Werbebotschaft des Ladens als glatte Lüge: «Frische ist unsere Leidenschaft!» Ich muss feststellen, dass ich eigentlich gar nicht möchte, dass jemand Frische als Leidenschaft haben muss. Da schmeckt mir das Brötchen ein bisschen besser. Im Kiosk kaufe ich mir noch eine «Damals», ein Magazin für Geschichtswissenschaft, das mich einmal hat betreiben lassen, weil ich angeblich ein Abo abgeschlossen hätte, das ich nie bezahlt habe. Das Magazin finde ich aber ganz gut. Auf dem Cover ist Karl der Grosse abgebildet, das ist Kaufgrund genug. Ich klemme das Magazin unter den Arm und schlendere zum Gleis. «Die Menschen schauen so aufmerksam zu mir», denke ich beim Gehen und lasse meine Schritte leicht federn. Als der Zug einfährt, sehe im Zugfenster mein Spiegelbild. Auf der Rückseite des Magazins, das ich immer noch im Arm geklemmt habe, prangt in mächtigen Lettern: «Die Geheimnisse der Waffen-SS».

Schnell stopfe ich das Magazin in meine Tasche und steige ein. Der Zug fährt los.

 

2.

Der Zug nach Nürnberg ist alt. Man riecht, dass er früher Raucherabteile hatte. Einmal Raucher, immer Raucher. Oder war das mit dem Alkohol? Spielt an dieser Stelle keine Rolle.
Es ist Pendlerzeit, und ich bin auf dem Weg nach Stuttgart. Der Zug ist voll. Die Reisenden scheinen sich alle zu kennen und setzen sich wie selbstverständlich an ihren Platz und beginnen ihre Routinen: Musik hören, lesen, essen oder sich leise unterhalten. Eigentlich ganz angenehm, wie diese Menschen ruhig und rücksichtsvoll miteinander umgehen.
Nur zwei Stimmen stechen leider verständlich aus dem Gemurmel heraus. Die erste gehört einer sehr jungen, bunt angezogenen Frau mit Mütze und einem Rucksack auf den Knien, darauf ein Block, auf dem sie herummalt und schreibt. Sie unterhält sich mit einem deutlich älteren Kerl, der kaum noch Haare und ganz grobe Hände hat. Er trägt Schuhe, an deren Seiten Flammen zu sehen sind. Es geht um eine Liebesgeschichte: Offenbar hat sein bester Freund ein Verhältnis mit dem bunten Mädchen, aber es gibt irgendwelche Schwierigkeiten. An seinem Blick wird klar, dass er selbst in sie verliebt ist und nun den Spagat versucht, die Anliegen seines Freundes zu vertreten, denselben gleichzeitig subtil in ein schlechtes Licht zu rücken und sich selbst als verständnisvollen, sensiblen Typ und guten Freund zu präsentieren.
Er redet beschwörend auf sie ein, sie lächelt nur verlegen und antwortet einsilbig. Zwei Dinge sind klar: sie interessiert sich weder für ihn noch für seinen Freund, aber sie geniesst die dadurch entstandene Aufmerksamkeit. In Pforzheim steigen die beiden aus, als sie draussen am Fenster vorbeigehen, redet er immer noch auf sie ein.
Auf dem Sitz bleibt der Zettel mit ihren Kritzeleien. Ganz oben steht in türkiser Tinte: «Eines Tages schwebe ich über der nächtlichen Stadt und mein Körper explodiert. Mikroskopisch kleine Blutstropfen fallen auf die Dächer der Menschen, die mein Blut für Regen halten, wenn es auf ihre Dächer prasselt.» «Ganz schön heftig» , denke ich. Zum Glück steht weiter unten: «I am Kingg of Rap» . Die zwei Gs beruhigen mich wieder.

Halbnackte griechische Superkrieger kämpfen gegen eine Übermacht orientalischer Soldaten

Jetzt wird es still, nur noch wenige Menschen sind im Zug. Ein offensichtlich dem rechten Spektrum zughöriger Kerl meines Alters setzt sich zu mir. Er trägt Tarnkleidung, als ob er in den Krieg ziehen möchte, dafür wirkt er aber viel zu dick und im Grunde auch zu gutmütig. Wir schauen gemeinsam einen Film auf seinem Laptop. Er hat leider nur einen Kopfhöeranschluss, was mich nicht stört, da der Film keine Handlung und keine Dialoge hat: Halbnackte griechische Superkrieger kämpfen gegen eine Übermacht orientalischer Soldaten. Die Superkrieger sind durchtrainiert und metzeln sich in einem Rausch durch die unterlegenen Angreifer aus dem fernen und nahen Osten. Ich frage mich, ob sich der Möchtegernkrieger neben mir der starken homoerotischen Komponente des Films im Klaren ist. Ich habe noch nie so viele eingeölte muskelbepackte Männer in Action gesehen, und die Rechten sollen ja doch meist ein eher traditionelles Rollenverständnis vertreten. Amüsiert stelle ich mir vor, wie ein Psychonanalytiker unseren wackeren Freund nach langen zähen Gesprächen unter Tränen dazu bewegt, sein wahres Ich zu offenbaren und zu erkennen, warum er jahrelang seinen Selbsthass auf andere gelenkt hat. Danach wird er nach Berlin ziehen und sein Glück finden – oder vielleicht auch nicht. Er steigt aus und ich bedanke mich, dass ich zuschauen durfte. Dabei zwinkere ich ihm zu, um zu sehen wie er reagiert. Er tut nicht dergleichen.

Das ist die letzte Haltestelle vor Nürnberg gewesen. Ich dämmere weg und erinnere mich, dass mir ein Amerikaner einmal erzählt hat, dass ihn der Name «Nürnberg» schon in eine peinliche Situation gebracht habe. An dieser Stelle muss ich ausholen und etwas in die Vergangenheit reisen: Ich sass beim Frühstück in einer Pension in Vancouver, die eigentlich ein sehr gutes, kleines Hotel war. Es nannte sich aber Pension, um weniger rechtliche Bedingungen erfüllen zu müssen. Es hiess «Biene und Distel», was ich etwas albern fand. Verheerend war aber, dass es keine Schlüssel gab, sondern Zahlenschlösser an den Türen – auch an der Eingangstür. Dies wurde mir zum Verhängnis, da Heydan oder Heddis, den richtigen Namen habe ich vergessen, jedenfalls die Aushilfskraft an der Rezeption, einen folgenschweren Fehler beging. Eigentlich wollte sie ja Schauspielerin werden, was sie mich in einem ausführlichen, über-euphorischen Plädoyer schon während des Eincheckens wissen liess. Sie war sehr hübsch, aber leider auch der Typ, dessen Gesicht man sofort wieder vergisst – durchaus brauchbar für eine Daily Soap, aber für eine grosse Schauspielerkarriere nicht geeignet.
Auf jeden Fall hatte sie abends «Acting-Class». Rasch schrieb sie mir den Nummerncode für die Tür auf einen Zettel und verliess die Pension mit einer vollgepackten Sporttasche, aus der eine Yogamatte schaute. Was sie in der Eile vergessen hatte, war, dass sie den Code tags zuvor geändert hatte – mir gab sie den alten. So stand ich dann nach einem abendlichen Spaziergang durch ein ruhigeres Viertel Vancouvers vor verschlossener Tür. Es war Oktober und recht kalt, in bester Einbrechermanier hantierte ich am Schloss, also am Tastenfeld an der Tür herum. Auch das Klingeln blieb erfolglos. Als letzte Möglichkeit blieb mir nur anzurufen. Durch die Tür hörte ich, wie es klingelte. Ich beschloss mich in einer Bar aufzuwärmen und mein Glück später noch einmal zu versuchen. Meine Stimmung war sehr gedämpft und ich entwarf Notfallpläne, für den Fall dass Heydan oder Heddis nicht mehr zurückkam.

Sie entschuldigte sich sehr leidenschaftlich

Ich setzte mich in die nächste Bar, die zum Glück nur zehn Minuten zu Fuss entfernt lag. Ein übles Klischee einer kanadischen Bar: An jeder Ecke hing ein Flatscreen, der Eishockey übertrug. Drinnen sassen echte Kerle in Daunenjacken, die Bier aus grossen Krügen tranken, es war auch hier drin recht kalt. Da ich kein Bier mag, bestellte ich einen Apfelwein und versuchte dem Hockeyspiel zu folgen. Das Spiel war sehr schnell und mir wurde vom Zuschauen und dem Apfelwein schwindlig. Ich wankte nach einer halben Stunde wieder in Richtung Pension und sah schon von Weitem, wie Heydan oder Heddis ihr Fahrrad die Strasse hinauf schob. Ich rannte los.
Sie entschuldigte sich eindringlich, sehr leidenschaftlich. Wegen der «Acting-Class» war ich argwöhnisch und vermutete, dass sie das hier als willkommene Chance sah, ein Drama aufzuführen. Im Grunde wollte ich bloss in mein Zimmer und heiss duschen, aber sie überredete mich, dass sie mir als Wiedergutmachung ein «unforgettable Breakfast» zubereiten wollte. Dass sie mich stets «Honey» nannte, obwohl sie jünger war als ich, machte die Sache nicht besser.
Nach einer traumlosen aber warmen Nacht, war es dann soweit: Sie hatte Scones für mich gebacken und meinen Platz im kleinen Frühstücksraum mit Blumen geschmückt, was mir ziemlich peinlich war. Die Scones waren so unfassbar trocken, dass ich Unmengen Kaffee trinken und beim Gang zur Thermoskanne immer an einem älteren amerikanischen Ehepaar vorbei musste. Der Mann schaute in meine Richtung und es war klar, was folgte: Er wollte sich unterhalten. Seine Frau hörte seinen Ausführungen schon lange nicht mehr zu, nickte aber aus Gewohnheit, wenn er Luft holte.
Er erzählte viel – sogar sehr viel, vor allem über seine Geschäftsreisen nach Deutschland. Dass ich aus der Schweiz kam, schien ihn nicht weiter zu stören. Diese Reisen führten überall hin, natürlich auch nach Nürnberg. Und hier schliesst sich der Kreis: «Nürnberg means nur ein Berg – just a mountain», erklärte er mir. Das war mir tatsächlich neu. Es ging aber weiter, da er es von seinen deutschen Geschäftspartnern erfahren hatte, als er von der Burg auf Nürnberg blickte. Gewitzt wie er war, war ihm aufgefallen, dass da aber nicht nur ein sondern zwei Berge in Nürnberg sind. Er fragte seine Geschäftspartner, wie im präzisen Deutschland ein so offensichtlicher Fehler vorkommen konnte. Ob einer oder zwei, das mache ja schon einen Unterschied. Der Deutsche antwortete kleinlaut, dass der zweite Berg die Trümmer des von den Alliierten zerbombten Nürnbergs sei, die man dort zusammengeschoben und aufgetürmt hatte. Die peinliche Pause danach kann man sich gut vorstellen. Es tue ihm heute noch leid. Aber immerhin hätten die Alliierten Deutschland befreit, fügte er trotzig hinzu. Ich stimmte energisch zu. Doch schon waren wir bei der amerikanischen Innenpolitik, Fischködern und diversen anderen Themen, die ich vergessen habe. Der Monolog endete mit dem Satz: «Did you know, that you can buy Ritalin in the US without prescription?». «No, I did not», war mein einziger Beitrag und letzter Satz.
Ich verabschiedete mich, packte den Rest des Scones ein und verfütterte ihn eine Stunde später den Möwen und einer Otterfamilie im Stanley Park. Als ich die Scones in kleine Bröckchen zupfte, merkte ich, dass meine Hände vom vielen Kaffee zitterten.

Es ist ja nur ein Berg

Zum Glück wache ich rechtzeitig kurz vor Nürnberg auf. Das letzte Mal umsteigen. Ich habe Nürnberg nie gemocht, wobei mir die Gründe nicht ganz klar sind. Ist es die Nazi-Vergangenheit, die heute noch manches Gebäude, das von den Alliierten verschont blieb, ausstrahlt? Eines heisst sogar Aufmarschgelände! Der fränkische Dialekt? Die Fussballfans? Alles zusammen? Heute bin ich bereit, die Probe darauf zu machen. Ich habe mir absichtlich eine Stunde Aufenthalt eingeplant. Ich gehe ein paar Schritte aus dem Bahnhof und kaufe mir eine Pizza auf die Hand. In dem Moment schreit ein Verwirrter mit «Du Hure Babylon!» eine unsichtbare Person an, und zwar so laut und plötzlich, dass mir vor Schreck das Pizzastück aus der Hand auf die Pflastersteine fällt. Die Tauben lassen sich nicht lange bitten und ich trotte zurück in den Bahnhof. Nein, Nürnberg meint es nicht gut mit mir. Ich steige in den früheren Regionalexpress ein und fahre über Fürth und Erlangen Bamberg entgegen.
Ich glaube nicht, dass ich viel verpasst habe, es ist ja nur ein Berg.

 

3.

Ich komme in Bamberg an und freue mich sofort: Die Nähe zu Osteuropa hat in Franken eine ganz herrliche Konsequenz: Es gibt Langosch. Ein ungarischer, in Öl ausgebackener Weissmehlfladen, der mit Knoblauch, Paprika oder etwas Süssem bestrichen wird – in diesem Fall direkt am Bahnhof. Es steht allen gegenwärtigen Gesundheitstrends diametral entgegen und macht keinen Hehl aus dieser Tatsache, was mir irgendwie gefällt. Ich bin nach ein paar wenigen Bissen satt und verstaue den Rest für später in meiner Tasche.
Bamberg ist eine schöne Stadt, man könnte sie als Venedig des Frankenlands bezeichnen. Umgekehrt scheint es mir aber nicht passend, Venedig als Bamberg Norditaliens vorzustellen… Nichtsdestrotz, für Freunde der barocken Architektur – und wer ist das nicht – wird allerhand geboten. Die vielen Studenten sorgen dafür, dass es auch einen Plattenladen und einige nette Cafés, mit schlecht abgewischten, klebrigen Tischen gibt.
Aus Neugier gehe ich in den Plattenladen und schaue, was es so gibt. Es läuft eine Dance-Nummer. Ein Kunde fragt den Ladenbesitzer laut, was da gerade laufe. Auf seine Antwort entgegnet er ohne Witz: «Ah ja, ich bin echt nicht mehr im Biz – früher hätte ich ihn locker an den Hihats erkannt.» Das macht mich fertig. Schnell kaufe ich einen «LeTigre»-Button für einen Euro und verlasse den Laden.
Ich gehe weiter und knipse ein paar Fotos, bis ich vor einem ehemaligen Kolonialwaren-Kaufhaus stehen bleibe. Mir ein bisschen kalt und ich beschliesse, mir den Laden genauer anzuschauen. Drinnen riecht es nach Tee und Schokolade, die im Erdgeschoss verkauft werden. In den oberen Etagen sind allerlei Einrichtungsgegenstände und Möbel. Es ist verwinkelt, kitschig und hübsch. Ich lasse mir Zeit und ein schlechtes Gewissen kriecht in mir hoch, wie immer, wenn ich zu lange in einem Geschäft bin. Eigentlich will ich hier nichts kaufen, aber ich habe mit meinen fettigen Langosch-Fingern schon in so viele Kissen reingedrückt, dass es nur recht und billig wäre, ein bisschen Geld dazulassen. Meine Rettung ist das Dachgeschoss, in dem sich ein kleines, enges Café befindet, das genau so aussieht wie man es hier drin erwartet hätte: Alte Glühbirnen, dunkle Tropenholz-Möbel, ungewöhnliche Colas und ein dampfendes Edelstahlbiest einer italienischen Kaffeemaschine.
Die Maschine fällt mir sofort auf, die kenn ich von damals, als ich beim Jubiläumsfest der Universität im «Etymologie-Café» mitgearbeitet habe. Eigentlich habe ich eher allein gearbeitet, da ich mir die Schicht mit einer jungen Frau aus der Mongolei teilen musste. Das klingt erfunden, ist aber die reine Wahrheit. Sie hatte Germanistik studiert, verstand aber kaum Deutsch, Schweizerdeutsch schon gar nicht. Ausserdem war sie ausgesprochen zierlich und erzählte mir, dass sie in einer Jurte aufgewachsen war. Das war Grund genug sie zu bitten, sich auf eine Getränkekiste zu setzen und mir auf Englisch von der Mongolei zu erzählen, während ich mich um den Kaffee, die Kunden und alles andere kümmere. Ich wusste nicht, dass man bis heute nicht weiss, wo das Grab von Dschingis Khan liegt. Ich wusste auch nicht, dass es dermassen anstrengend ist in einem Café zu arbeiten. Vom Tragen der Kisten hatte ich noch eine Woche später blaue Flecken an den Oberschenkeln.

Doch zurück nach Bamberg: Die junge Bedienung steht in einem Kämmerchen hinter dem Café und sieht erschöpft und müde aus. Sie streckt den Kopf mit den strähnigen Haaren heraus und schaut mir lange auf die Brust, zu lange. Ich schaue auch und sehe, dass ich mit Langoschkrümel übersät bin. «Na gut, na schön», denke ich und bestelle einen Espresso, während ich mich sauberklopfe. Dann passiert es, ich sage tatsächlich: «Du, ich kenne die Maschine, ich kann ihn mir auch einfach selbst machen.» Ich bin über drei Dinge gleichzeitig überrascht: Dass ich sie einfach geduzt habe, meinen Mut zu fragen und dass sie nickend einverstanden ist. Sie geht wieder ins Kämmerchen und überlässt mich der Maschine.

Soy-Latte zu machen, ist wie Fahrrad fahren

Im glänzenden Chrom spiegelt sich das Kämmerchen und darin die junge Frau. Neben ihr lehnt ein Rucksack. Er ist grün und gelb und der eine Schulterriemen sieht so aus, als ob er bald ausreisst. Sie fischt umständlich ein Handy aus dem Rucksack und beginnt zu tippen, wobei sie sich wie der Rucksack an die Wand lehnt. Ihre Schultern senken sich etwas, sie scheint sich tatsächlich zu entspannen. Das Licht des Displays lässt ihre Augen feucht erscheinen. Ich empfinde Mitleid mit der armen jungen Frau, als mich eine Stimme aus den Gedanken reisst: «Eine Soy-Latte, aber wirklich ganz ohne Milchreste.» Ich warte vergeblich auf ein «Bitte». Da ich noch hinter dem Tresen stehe und die Bedienung noch in der Kammer am Handy sitzt, mache ich sie dieses Mal zu meiner mongolischen Prinzessin und, anstatt sie zu rufen, mache ich mich daran, eine Soy-Latte zu zaubern. Soy-Latte zu machen ist, das weiss auch der Volksmund, wie Fahrrad fahren: Das vergisst man nicht, leider.
Der Schwindel gelingt und ich zeichne mit einem Holzstäbchen ein Herz in die aufgeschäumte Soyamilch und überreiche es der Kundin. Ich habe natürlich keine Ahnung, was eine Soy-Latte kostet. Ich könnte mich einfach umdrehen, denn dort sind an einer alten Tafel alle Preise mit Kreide geschrieben. Ich entscheide mich aus Wagemut alles auf eine Karte zu setzen, Kompetenz vorzuspielen und behaupte: «Vier Euro sechzig.» Direkt danach fällt mir ein, dass das für Deutschland ziemlich viel ist. Doch meine Kundin reicht mir direkt einen Fünf-Euro-Schein und sagt: «Stimmt so!» Sie ist nicht alleine und innerhalb von zehn Minuten versorge ich sieben ältere, gut situierte Damen mit Soy-Lattes, Cappuccinos und so weiter.

Nachdem alle bedient sind, höre ich zu, worüber sie sich unterhalten und schweife in Gedanken ab, während ich eine Edelstahl-Milchkanne poliere. Ich stelle mir alle diese Frauen in einem klassischen Konzert vor. Alle nicken sich wissend zu und bestätigen sich gegenseitig ihren Bildungsstand. Sie sind ganz kurz davor, die Melodien mitzusummen und mitzupfeiffen oder voller Verzückung zu klatschen und sich in einem Strudel der wohligen Selbstaffirmation zu suhlen. Ganz, ganz schlimm. Doch was ist der Ausweg? Man neigt in diesem Moment immer zu einer Betrachtung der Extremwerte und versucht, alles zu zerstören, was einen an diesem wohl- und selbstgefälligen Wichtigtuertum so missfällt. Nur leider, wenn man sich ins komplette Gegenteil flüchtet, ist man schnell ernüchtert. Man steht dann irgendwo auf einem ehemaligen Bauernhof auf dem Schweizer Land, in dem damals junge, heute immer noch ambitionierte Aussteiger einen Veranstaltungsort aufgezogen haben. Dort spielt dann Kim Gordon von Sonic Youth mit einer Japanerin, als fleischgewordenes Yoko Ono Zitat für anstrengende Kunst, stundenlang Krach auf einer verzerrten Gitarre, im Hintergrund läuft eine undurchschaubare Video-Installation. Und es passiert genau dasselbe, man nickt sich wissend zu und hält sich für einen elitären Kreis. Diesmal allerdings nicht in durch Tradition zementierte Harmonie, sondern in der Zerstörung derselben, was der ganzen Angelegenheit eine trotzig-kindliche Dümmlichkeit verleiht, die genau so schlimm oder sogar noch schlimmer ist.

Ich kreuze das mittlere Smiley an, das mit seinem Mund ein Minus formt

«Was denken Sie, was Sie hier tun?», unterbricht mich jäh die junge Bedienung. Ich will ihr antworten, ihr meine hochtrabenden Gedanken erklären – aber ich sage dann nichts, das wäre ja auch ganz schrecklich. Ich verlasse wortlos die Theke und fülle das Feedback-Blatt des Cafés aus. Dort kann man mit Smileys bewerten, wie man den Service findet. Lachendes Smiley heisst: «weiter so!», das traurige heisst: «wir müssen etwas verändern!». Ich kreuze das mittlere an, das mit seinem Mund ein Minus formt: «Geht so.»
Vielleicht ist es genau das: Man sehnt sich nach der Mitte, vielleicht sogar der Mittelmässigkeit, verabscheut sie aber gleichzeitig, weil man sie mit einem «gehts so», der Vergessenheit überantworten darf. Und wer will schon vergessen werden.
In diesem Moment fällt mir ein, dass ich mir am Tag vor der Abfahrt ein ABBA-Album auf meinen iPod geladen habe. Das ist jetzt genau das Richtige: Popmusik! «As good as new» heisst der erste Track, und genau so fühle ich mich jetzt auch. In dieser Stimmung kaufe ich vier Tischsets, auf denen je ein Kätzchen mit Zylinder und einem Monokel zu sehen ist, die eine Sprachblase loslassen: «Mister Buttons is hungrrrrrrry!»
Ich habe sie dann nie benutzt, weil der Langosch-Rest in meiner Tasche einen Fettfleck auf einer Katze hinterlassen hat, und zwar genau unterhalb das Näschens, so dass es aussieht wie ein Hitlerbärtchen.

Das Ende der Geschichte ist schnell erzählt: Wie bereits im Untertitel beschrieben, konnte ich nicht an Veranstaltung teilnehmen. Das mag als Leser enttäuschend sein, dass hier keine grossartig aufgebaute Pointe mehr kommt. Aber so ist das eben gewesen. Ich bin komischerweise gar nicht sehr enttäuscht und verbringe den Abend im Hotel und überlege mir, ob mein Lieblingstier das Eichhörnchen oder der Delfin ist, während ich mir ein Schaumbad einlasse.

 

Pascal Reber, 1979 geboren in der Schweiz, aufgewachsen in Deutschland. Journalistisches und Prosa zum Thema Rückkehr in die Schweiz: die Sprache nicht mehr richtig zu können und überall Dinge zu entdecken, die fremd und seltsam waren, und auch selbst als fremd und seltsam wahrgenommen zu werden. Derzeit wohnt er in Basel und arbeitet in der Berufsbildung, schreibt und zeichnet Illustrationen.
Aktuellste Literatur in drei Teilen. Die dritte Fortsetzungsgeschichte in der Fabrikzeitung.

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