Im September 2014 traf der Münchner Fotograf Juri Gottschall für die Süddeutsche Zeitung sechs angehende Studentinnen und Studenten und fragte sie, was sie sich vom bevorstehenden Studium versprechen. Ein Jahr später traf er sie erneut, um zu hören, was aus ihren Erwartungen geworden war. Was als einmalige Geschichte gedacht war, ist zum Langzeitprojekt geworden – Jahr für Jahr trifft Gottschall seither seine Protagonisten und dokumentiert ihre akademische Entwicklung schriftlich und fotografisch. Die Uni Zürich stellt das Projekt nun an drei verschiedenen Standorten unter dem Titel «Im richtigen Studium?» aus.

Diesen Geschwindigkeitsdruck und dieses Effizienz-Diktat gab es, als ich jung war, noch nicht.

Mercedes Lauenstein: Seit vier Jahren begleitest du Studierende bei ihrem Weg zur akademischen Selbstfindung. Was lernt man dabei über die Menschen?

Juri Gottschall: Wie unterschiedlich sie alle sind. Alle starten mit dem gleichen Ziel: Etwas zu studieren, das «richtig» für sie ist, in dem sie aufgehen, das sie irgendwie weiterbringt und sie im besten Fall eines Tages zu einem Beruf führt, der sie erfüllt. Ihre Wege durch das Studium verlaufen ab diesem Zeitpunkt dann aber komplett unterschiedlich, weil dieses «richtig» natürlich für jeden etwas anderes ist.

Gibt es eine Person, die dich von allen am meisten fasziniert?

Im ersten Moment würde ich sagen: Thomas. Der Medizinstudent, der gleichzeitig Balletttänzer, Musiker und mit 22 schon Doktorand in der Krebsforschung ist. Der hat in seinem bisherigen Leben schon mehr auf die Beine gestellt als ich mit 38. Der zieht alles, was er angeht, knallhart durch, ohne auch nur eine Sekunde mal an eine Pause zu denken. Ich frage ihn immer: Willst du denn nicht mal ausruhen, bisschen das Leben genießen? Aber ich glaube, und das ist das Verrückte, dass der diesen hyperstressigen Lebensstil braucht. Das erfüllt ihn anscheinend. Und so beängstigend das für jemanden sein kann, der nicht so zielstrebig ist, so motivierend ist das auch. Dieser Gedanke, was man alles so schaffen kann. Was alles reinpasst in so einen Tag. Man muss es einfach machen. Das beeindruckt mich. Aber jede Geschichte ist auf ihre eigene Art und Weise toll.

Zum Beispiel?

Naja, Marius, das absolute Gegenextrem, der jedes Mal, wenn ich ihn treffe, wieder was anderes macht und ganz unverhohlen und ohne jede Eitelkeit zugibt: «Hey das war echt so ein Scheiss, was ich da zuletzt gemacht habe, da hab ich mich richtig geirrt. Jetzt mach ich was Anderes und das wird der Hammer!» Angefangen hatte er mit Informatik, weiter ging es mit Gesundheitswissenschaften, dann Computerlinguistik, zwischendurch war er You-Tuber, momentan ist er Fitnesstrainer. Oder Vicky, die Theaterregisseurin werden will, und jetzt endlich nach langem Warten und einem Verlegenheitsstudium den ersehnten Studienplatz bekommen hat – auch wenn sie dafür in eine Stadt ziehen musste, die ihr nicht gefällt und sie zunehmend Angst hat, irgendwie viel zu lang für alles zu brauchen. Ich freue mich jedes Jahr, die alle wiederzusehen. Und ich frage mich immer, ob ich einfach nur Glück bei der Auswahl der Leute hatte oder ob es doch ein sehr repräsentativer Querschnitt an Charakteren und Wegen ist.

Was lehrt dich das Projekt über den Zeitgeist?

Manchmal beschleicht mich der Eindruck, dass in meiner Generation, also Mitte, Ende der Neunziger, alles noch entspannter war. Man hat sich nach der Schule viel mehr Zeit gelassen und sich nicht so unter Druck gesetzt, noch überhaupt nicht alles auf den Lebenslauf ausgerichtet. Meinen Protagonisten ist überbewusst, wieviele Möglichkeiten sie haben. Sie vergleichen sich auch extrem viel mit anderen und wollen dahinter nicht zurückstehen. Thomas, der Medizinstudent zum Beispiel promoviert natürlich auch deshalb schon jetzt, damit er sich noch aus dem Studium heraus auf offene Stellen bewerben kann. Diesen Geschwindigkeitsdruck und dieses Effizienz-Diktat gab es, als ich so jung war, noch nicht.

Jetzt werden die Bilder zum ersten Mal ausgestellt, was macht das für einen Unterschied zur bisherigen Veröffentlichung in der Zeitung?

Mit so einer mehrwöchigen, analogen Ausstellung in der Uni bekommt das Projekt endlich einmal den Rahmen, den es verdient und in dem es auch am meisten Sinn ergibt. In der Zeitung werden ja oft nur ein, zwei Beispielbilder abgedruckt, der Rest ist dann online und geht als eine Klickstrecke unter vielen unter. Jetzt werden die Protagonisten auf Fotos in Lebensgröße präsentiert, man kann ihnen direkt ins Gesicht sehen, eins zu eins, in den Hallen der Fakultäten. Das hat eine viel direktere Wirkung. Wer auch immer da durchläuft und vielleicht selbst gerade mit diesen Fragen kämpft – was werde ich, was soll ich nur studieren, und was mache ich eigentlich, wenn mein Studium mich enttäuscht, wie geht es weiter? – kann da sicher ein bisschen Halt und Trost finden. Die Geschichten sind ja in keinster Weise geschönt, sondern direkt aus dem Alltag gegriffen und bilden diese ganzen Unsicherheiten und Zweifel und das Ausprobieren in der Uni sehr ehrlich ab.

Wie lange wirst du das Projekt noch fortführen?

Die Frage ist vielleicht eher: Kann ich damit jetzt noch aufhören? Zuerst war es nur auf ein Jahr ausgelegt. Dann kam Jahr zwei, Jahr drei, jetzt Jahr vier. Bis zum allerersten richtigen Job muss ich jetzt schon noch weitermachen. Aber dann will man natürlich auch wissen, wie geht es danach weiter? Wann kommt vielleicht die erste Job-Krise, was wird der zweite Job, wie verläuft die Karriere, was kommt noch alles an persönlicher Lebensgeschichte dazu?

Denkst du, die machen alle so lange mit?

Das wird sich zeigen. Ich habe aber einen wirklich guten Zugang zu all meinen Protagonisten, wenn auch natürlich einen etwas absurden. Einmal im Jahr treffen wir uns, oft trinken wir nicht mal Kaffee zusammen, sondern sitzen maximal eine Stunde auf einer Bank im Park rum, ziemlich zwischen Tür und Angel, weil die ja alle auch immer irgendwas zu tun haben und es schon nur ein ziemlicher Aufwand ist, einen Termin zu finden. Und dann sage ich, Tschüss, bis nächstes Jahr und weiß ziemlich genau, die sehe ich auch wirklich erst nächstes Jahr wieder. Privat verbindet uns nichts, auch wenn das im Grunde eine ganz schön private, intime Geschichte ist, die auch mit jedem Jahr noch intimer wird.

 

Die Ausstellung «Im richtigen Studium?» ist zu sehen vom 21. bis 29. November in der Universität Zürich im Lichthof Zentrum, vom 30. November bis 10. Dezember im Lichthof Oerlikon-Binz, und vom 11. bis 17. Dezember im Irchel.

Mercedes Lauenstein ist Autorin und Journalistin. www.mercedeslauenstein.de

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