Ivona Brdjanovic

Andreas sagt, er wurde überredet dort zu tauchen. Unmittelbar nach der Prüfung. Genauer, nachdem er seine Taucherprüfung in einem Bilderbuchmeer abgeschlossen hatte. Ausgerechnet da habe ihn einer überredet. Hochmotiviert sei der Andreas gewesen. Es gäbe da interessante Schiffwracks auf dem Seegrund, habe der andere gesagt. Also, los. Jedenfalls. Für ein angebliches Wrack, das eher einem Kanu glich in diesem trüben Gewässer, das habe sich kein bisschen gelohnt. Aber wer will Ägypten mit der Schweiz vergleichen?

Sascha Rijkeboer

Chiara, meine Mitbewohnerin, die war mit ihrer Frau mal am Walensee. Das war glaub sogar ihr erster Ausflug zusammen. Rachel war total geflasht, weil die hatte in Malta ja noch nie einen Berg gesehen – und dann noch See und dann noch Süsswasser! Sie schickten mir eine Karte von dort. Es war die erste Karte, die ich von ihnen beiden zusammen bekam.

Ivona Brdjanovic

Ich fuhr mal mit einem gänzlich unbegabten Schauspieler nach Chur. Das war einer dieser Menschen, die irgendwie immer untröstlich und alleingelassen tun. Und ständig nannte er mich «brutal» und lachte danach. Nur weil ich nicht an einem Gespräch interessiert war. Aus brutal wurde irgendwann kalt und kühl. «Warum bist du so kalt?» Dabei hatte ich ihm, bereits als er den Waggon betrat und mich begeistert ansah, auf die Frage, ob er sich zu mir setzen dürfe, geantwortet:
Lieber nicht, ich sollte noch arbeiten. Es gibt Menschen, die gehen von Waggon zu Waggon, bis sie jemandem begegnen, den sie kennen. Das passiert vor allem vor der Weihnachtszeit zwischen Zürich und Chur. Er gab nicht auf; je mehr ich versuchte zu arbeiten, desto mehr dürstete es ihn nach meiner Aufmerksamkeit. Als wir am Walensee vorbeifuhren, schrie er: «Schau! Schau da! Da hat es am längsten Sonne! Siehst du, dieser Fleck, da! Da! Da hat es ganz lange Sonne! Da solltest du dich mal hinstellen, vielleicht würdest du auftauen!»

Sascha Rijkeboer

Ich habe meinen Chef gefragt, ob er schon mal am Walensee war. «Bodesee?», ruft er mir durch die Zigarrenschwaden und die Jazz-Musik im Hintergrund entgegen. «Neii, Waläsee», rufe ich über den Tresen zurück. «Badensee?», lacht er. «Nei, Waläsee», wiederhole ich. «Aha. Wo isch dee nomol?» – «Äh shit, jo das hani eich nochegluegt, aber jetzt weiss igs au nümm. Wartschnäu.» – «Da isch doch döot bi Zug odo?» – «Neinei, Schwyyz. Äh, nei, zwüschä Züri und Chuur». Ich schlage Walensee nochmal auf Google-Maps nach und strecke ihm mein iPhone entgegen. «Aha. Jo, da isch jo grad bi mio. Do bin i sicho scho mol gsi iogendwenn emol. Abo i chami nöd erinnere. Peogge?» – «Ah. Perché! Ähm, muess mit de Kollegin öppis übere Walesee schriibä». «Hm. Säb isch e komischi Ufgoob.» – «Jäjo» – «Io chönntet jo öppis übo s’Loch Ness schriibe. Weisch Nessi, da Monschto. Eifach eis im Walesee.» – «Jo, das chönntemer» – «Da isch doch e gueti Idee, do chasch öppis eofinde!» «Jaja, danke für die gueti Idee».

Ivona Brdjanovic

Gestern ging ich halbgrippal auf einen virtuellen Ausflug. Bei Google-Maps. Apropos : Google-Maps hat vielen jungen Menschen aus Ländern, die Ausreiseverbote haben, eine Art Ausflug ermöglicht. Man gibt sich dem Monitor hin und geht auf einen virtuellen Spaziergang, stellt sich vor, es wäre echt. Eigentlich ist es auch echt. Ich habe einige Freundinnen und Cousinen, die sprechen über Rom oder Buenos Aires, als hätten sie mindestens ein Austauschsemester dort gemacht. Man muss die Lüge nur konsequent genug umsetzen, man muss ganz fest an die Lüge glauben, man muss Lüge werden. Für die, die da waren gibt es ja nur diese eine Wirklichkeit, und da ich in einer anderen Wirklichkeit schreibe, kann ich an deren Wirklichkeit rumschrauben. Hier eine Schraube lockern, da eine Schraube anziehen. Ich bin eben fest davon überzeugt, dass meine Vorstellung viel wirksamer sein kann als die Erinnerung von jemand anderem. Ich sage: Der Walensee ist nicht blau. Der Walensee tut mediterraner als er ist.

Sascha Rijkeboer

Walter: «Walensee, da bin ich schon tausendmal durchgefahren. Früher war da immer Stau.»
Heinz: «Stimmt, früher gabs da immer Stau.»
Walter: «Drum hat man dem ja Qualensee gesagt.»
Heinz: «Stimmt! Qualensee! Das habe ich ganz vergessen!»
Walter: «Wieso gab es da eigentlich immer Stau?»
Heinz: «Na, weil es die Autobahn noch nicht gab.»
Walter: «Stimmt, als es den Gotthard noch nicht gab.
Wir fuhren da lang ins Tessin.»
Heinz: «Stimmt! Den San Bernhardino, den gabs da schon!»
Walter: «Ach… das Tessin.»
Heinz: «Stimmt! Den San Bernhardino, den gabs da schon!»
Walter: «Ach… das Tessin.»
Heinz: «Ach ja…»
Walter: «Weisst du noch, da haben wir uns manchmal in den Alfa Romeo gesetzt und sind ins Tessin Pizzaessen gefahren.»
Heinz: «Und da fuhr man dann ja an den Churfirsten vorbei, da auf der linken Seite da.»
Walter: «Ja und rechts dann der Flumserberg.»
Walter: «Sag, wie hiess nochmal der Riesenslalomfahrer von da? Der in Walenstadt starb.»
Heinz: «Na, Edy Bruggmann natürlich!»
Walter: «Edy!»
Heinz: «Und Heini Hemmi!»
Walter: «Von dem hatte ich mal ein Renndress!»
Heinz: «Im Ernst?»
Walter: «Jaa!»
Heinz: «Wunderbar! Aber der Edy, der wurde ja Kombifahrer.»
Walter: «Stimmt! Der wurde Kombifahrer.»
Walter: «… Walenstadt. Da war doch der Schiessplatz. Walenstadt, das verbinde ich mit dem Militär. In jungen Jahren habe ich da Schiessübungen gemacht.»
Heinz: «Daran erinnere ich mich gar nicht. Ist da immer noch eine Kaserne?»
Walter: «Das weiss ich nicht, aber früher, da kamen die Militär Attachés dahin, um uns zuzusehen wie wir das machen, wir Schweizer Burschen. Ui, da sahen wir noch fesch aus!»
Heinz: «Ja, du vor allem! Mit deinem Ranzen, du kannst jetzt nicht einmal mehr Skifahren!»
Walter: «Haha.»
Walter: «Jedenfalls kamen dann die Russen und die Amis und sahen uns zu. Wie wir unsere Übungen machten. Wir waren ein Vorzeigeobjekt, wir haben Übungen geschossen mit scharfen Schüssen. WK und dann schon Gefechtschiessen! Das haben die Amis und die Russen nicht verstanden.»
Heinz: «Stimmt, bei den Amerikanern, da sind die Vorschriften ja viel strenger.»
Walter: «Ja, bei uns mussten wir zwei Fingerbreit über den Kopf eines Kameraden legen und durften schiessen. Das
hat den Amis Eindruck gemacht.»
Heinz: «Ach, das Militär. Da haben wir Indianer und Poli gespielt.»
Walter: «Heisst das nicht Räuber und Poli?»
Heinz: «Jaja, doch.»
Walter: «Ich googele das jetzt einmal, ob da immer noch die Kaserne steht.»
Heinz: «Ja, tu du nur wichtig mit deinem Telefon!»
Walter: «Schau! Die Kaserne, die gibt’s noch! Wenigstens das noch.»
Walter: «Einmal, da waren wir mit dem Militär vier Wochen
in den Flumserbergen im Schnee oben. Haben uns den
Ranzen abgefroren. Und ein paar von uns, die wollten dann wieder einmal einen Rock sehen. Die sind dann den Berg
runter und alles wieder hoch, nur um einen Rock zu sehen.»

Ivona Brdjanovic

Schon über ein Jahrzehnt vegetiert die ehemalige Raststätte Walensee an der Autobahn A3 vor sich hin. Beliebigen Ort einfügen am Walensee, ein abgeschiedener, malalal-allah-rischer Ort, etwas langweilig, ja. Eine Kneipe, ja. Mein Zimmer, Aussicht, Besucherinnen, eine abgemagerte Hauptstrasse, ein Kanal, der irgendwie Moosgrün simuliert, ein Städtchen, ein Furzseelendorf, Stadt der empörten Männer, Stadt der isolierten Menschen, der Blinden, Tauben, Überraschten. Oder: Hier glauben die Menschen noch an beliebige Glaubensansätze und / oder Überzeugungen einfügen. Die, die das ALLES NICHT FASSEN KÖNNEN. Die Stadt der Flüstergassen, der Spielchen, der schwitzenden Fassaden, der Wohnzimmer wie Kartons. Der Verkehr plätschert, von den Balkonen schauten einst Köpfe runter wie Ballons und Antennen wie Nadeln.

Sascha Rijkeboer

«Hey, wart ihr schon mal am Walensee?» «Ja! Grad letzte Woche waren wir da. Viertelvorelf sind wir auf den Zug. Ich dachte schon, wir seien viel zu spät. Bahnhof, Eingang Sihlpost alles tot. Aber im Zug dann, ich sagst dir! Der war pumpenhagelvoll! Alles Sonntagsausflügler, genauer Rentner, und ich dachte schon: ui näi! Die gehen alle auch an den Walensee. Aber sie stiegen zum Glück in Pfäffikon aus. Alle trugen weiss-gelbe Stricksocken und hatten sie in klobige Wanderschuhe gesteckt oder so Gesundheitssandalen drübergeschnallt. Im Abteil neben uns sass eine piekfeine alte Dame mit ihrem Enkel, der hat die ganze Fahrt über nichts gefragt. Sie sprach mit der Pfarrerin, die ihr gegenüber sass, über die Wanderwoche von letzter Woche. Das sei also eine Freude gewesen, dass niemand pausieren musste und sie alle durchhielten. Eine Freude seien aber also auch ihre rot-weissen Geranien, die kommen immer noch, das sei ein Wunder! Das müsse am Klima liegen. Die piekfeine Dame, der brave Enkel und die Pfarrerin, die stiegen ebenfalls in Pfäffikon aus. Die Pfarrerin gehe jetzt noch in eine andere Gemeinde eine Messe halten, «Jetsetten», sage man dem heute, erklärt die Pfarrerin. Die piekfeine Dame rümpfte die Nase, das möge sie nicht, so englische Begriffe. In Ziegelbrücke sind wir umgestiegen und da haben sich zwei mittelalte Frauen mit roten, frechen Stirnfransen zu uns gesetzt. In Quinten sind wir dann den Marktleuten begegnet, bei denen ich dienstags oder freitags auf dem Helvetiaplatz das Gemüse kaufe. Der Bauer, der sei aus Unterterzen, erklärt er uns. Er sei also heimisch da und es sei schwer gewesen, die Gegend zu verlassen. Wieso er gegangen sei, fragt ihn Nick. Na, er habe da keine Arbeit gefunden, sei dann immer am Wochenende dahin, immerhin, aber heute sei es weniger geworden. Unterterzen, sagt er zum Abschied, das sei flächenmässig die grösste Gemeinde der Schweiz gewesen.
Wir haben dann in Quinten noch einen Kaffe getrunken, wo wir den zwei Frauen mit den frechen Fransen aus dem Zug wieder begegnet sind. Sie assen zwei Riesenteller Frittiertes: Fischknusperli, Fritten, Schnitzel und Nuggets. Das sei der Sonntagsausflug in die Dorfbeiz und dann gehe es wieder zurück nach Zürich. Rassige Girls, ganz peppig war der Service, junge Frauen, alle blond mit zusammengebunden Haaren, ein Lachen im Gesicht, als gäbe nichts Schöneres, als Gäste am Sonntag zu bedienen. Im Boot sassen dann zwei alte Männer bzw. ein Schweizer Paar, das ein deutsches Paar zu Besuch hatte. Die Frauen schwiegen, die Männer raunten unter sich über das Leben in der Pension. Der Schweizer, der habe nun wirklich was auf die Seite getan, damit er die Pension geniessen könne und zum Glück habe er auch immer noch ein bisschen was zu tun, aber es sei also echt scheisse, er habe einfach kein Hobby. Den steilen Wanderweg hoch ging niemand ausser uns. Waldenstadt, Dorf: 5h 10min, sagte uns das Schild. Wir sind dann bis zur Station Walenstadt, Berg hochgelaufen und von dort mit dem Autostopp runter, weil das Postauto erst in einer Stunde gekommen wäre.»

Ivona Brdjanovic

Ich schreibe in der Tradition: Die Welt dort zerrissen, da ein Sprung, hops, dort ein Durcheinander. Aber nicht hier. Hier zwitschert alles von oben herab. Von innen nach außen. Was seht ihr? Ihr seht ins Grüne, Kreuzung, Geschichten. Klänge. Wow. Wandern. Das Abbild von euren Eindrücken, fremden Eindrücken, Erinnerungen. Ihr seht einen von Gestalten und Individuen besiedelten Raum, die sich für etwas halten, was sie gar nicht sind. Oder als etwas dargestellt werden, was sie doch sind, jedoch nicht sein möchten. Ein Bild. Eine Abbildung. Ein Andenken und Anecken. Eine Skizze, ein Skizzchen. Eine Behauptung. Zum Beispiel: Ein Paar, das sich übergibt. Das Abteil, in dem alles beginnt. Eine Tinderdatepaarung übergibt sich unmittelbar nachdem sie betrunken in eine längst geschlossene Raststätte eingebrochen sind, weil sie dort ein bisschen rummachen wollten, aber es stank überall nach abgestandener Bierpisse.

Ist uns beiden schon mal passiert.

Ivona Brdjanovic hat am Schweizerischen Literaturinstitut studiert und abgeschlossen. Sie arbeitete in Spitälern, Bäckereien, Bars, Baustellen und Tankstellen und studierte Umweltingenieurwesen. Sascha Rijkeboer mag Ordnung, lebt in Olten und studiert in Basel und Zürich, interessiert sich für Feminismus, schreibt leidenschaftlich Texte, repariert Smartphones und definiert sich als nicht-binär.

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