Man sieht mir meine Schwäche immer noch nicht an. Auch nach bald zwei Jahren Pandemie halten mich die meisten Menschen bei der ersten Begegnung für eine relativ junge, gesunde Frau.

Doch ich bin nicht gesund, ich gehöre zur sogenannten Risikogruppe. Wenn wieder einmal irgendjemand davon spricht, Covid sei vor allem für Menschen mit Vorerkrankung gefährlich, dann spricht er auch von mir. Von mir, für die eine Covid-Infektion zu grosser Wahrscheinlichkeit nicht einfach glimpflich ausgehen würde. Natürlich kann niemand genau voraussehen, wie schwer eine Infektion dann tatsächlich verliefe. Genauso wie auch Gesunde sich nicht sicher sein können, dass sie eine Infektion einfach so durchstehen und nicht doch am Beatmungsgerät enden würden. Doch wenn man schon mehrfach erlebt hat, wie der eigene Körper sich fast widerstandslos irgendeinem Bakterium hingibt und die anfängliche Erkältung innert weniger Stunden in einer Lungenentzündung und somit auf der Notfallstation endet, dann möchte man auch in Bezug auf Corona keinerlei Risiken eingehen. 

Ich bin nicht die einzige Risikoperson in der Schweiz. Genaue Zahlen gibt es dazu nicht. Klar ist: Wir, die besonders Gefährdeten, sind eine Minderheit. Die Gesunden und die, die sich gesund fühlen, dominieren die öffentliche Meinung und die Politik. 

Als ich mir Ende letzten Jahres nach langem Bangen endlich die neue Covid-Impfung spritzen lassen durfte, war das für mich und meinen Partner Jan ein geradezu feierlicher Moment: Wir lagen uns im Impfzentrum vor Erleichterung in den Armen. Wir hatten es geschafft, wir hatten mich geschützt, mich lebend durch eine Pandemie gebracht. Zwei Wochen nach der zweiten Dosis, als die Immunität aufgebaut war, schien es mir gar, als würde mit der neugewonnenen Freiheit ein ganz neues Leben beginnen. 

Ich bin nach Monaten der Isolation wieder in einen Zug gestiegen und quer durch die Schweiz gefahren. Allein das Umsteigen im Berner Oberland hat Glücksgefühle ausgelöst. Nach einer kurzen Weile der Gewöhnung traute ich mich, im Zugwagen die eng sitzende FFP2-Maske in eine leichte Stoffmaske einzutauschen und sie sogar ab und an für einen Schluck Kaffee abzunehmen. Ich habe meine Grossmutter im Altersheim besucht und mein Gottechind auf meinen Schoss klettern lassen. Meine Freund*innen konnten kaum glauben, dass wir uns wieder in die Arme schliessen durften.

Doch leider hielten diese angstfreien Momente nicht lange an. Bereits im Frühsommer erreichten uns Nachrichten aus Israel, dass dort die Infektionszahlen rasant ansteigen, und sich das Virus auch unter denen ausbreite, die doppelt geimpft sind. Noch wusste die Wissenschaft nicht, ob es die neue Delta-Variante ist, die auch Geimpfte ansteckt oder ob die Impfungen vielleicht doch nicht so lange wirken, wie man erst angenommen hatte. Beide Erklärungen liessen mich stutzen: War ich überhaupt noch vor einer Infektion geschützt? Meine zweite Impfung lag mittlerweile bereits sechs Monate zurück.

Als Israel dann im August als erstes Land der Welt entschied, sechs Monate nach der zweiten Dosis eine Auffrischungs-Impfung anzubieten, war das ein deutliches Zeichen, dass die Impfwirkung tatsächlich nach sechs Monaten nachlassen kann.

Das bedeutete für mich und andere Risikopersonen, dass die Angst vor einer Ansteckung wieder real wurde. Doch das interessierte hier in der Schweiz niemanden. Die offizielle Angabe des BAG war, dass die Impfung mindestens zwölf Monate wirken würde. Selbst Ärzt*innen hinterfragten diese Angaben nicht, denn was in der Schweiz vom BAG proklamiert wird, gilt, auch wenn andere Länder längst andere Erfahrungen machen. 

Wir Risikopersonen blieben also mit unserer Angst ziemlich alleine. Sie war zudem antizyklisch, die Mehrheit der Menschen hierzulande war erst im Sommer doppelt geimpft und mit der Immunität machte sich ein Gefühl der Unverwundbarkeit breit. Denn im Unterschied zur Corona-Zeit »vor der Impfung» fühlten sich nun auch diejenigen vor Covid sicher, die vorher noch eine diffuse Angst vor einer Ansteckung hatten. Jegliche Zweifel waren weggeblasen, man durfte wieder überall hin und hatte – verständlicherweise – zünftigen Nachholbedarf. Masken wurden vom Gesicht gerissen, die drei Küssli kehrten zurück und es wurde sich wieder aus nächster Nähe zugeprostet.

Wir Risikopersonen mussten aufs Neue damit beginnen, auf uns selbst aufzupassen. Aber wie passt man auf sich auf, wenn alle anderen keine Lust mehr aufs Aufpassen haben? 

Im Herbst traue ich mich nur noch zögerlich unter ganz bestimmten Bedingungen an Veranstaltungen oder in ein Restaurant. Natürlich nicht ohne FFP2-Maske und nur, wenn Frischluft-Zufuhr gesichert und es nicht doch zu viele Menschen in einem engen Raum sind. Auch Jan hält sich wieder strikt an alle Sicherheitsmassnahmen, auch wenn seine Impfung noch nicht lange zurück liegt. Die Zertifikatspflicht führt dazu, dass sich jeder und jede Geimpfte oder Genesene überall sicher fühlt. Es wurde ja auch versprochen, dass bei einer genügend hohen Impfquote eine Rückkehr zur Normalität gewährleistet sei. 

Bereits während der Zertifikatskontrolle heisst es dann »Sie dürfen die Maske jetzt abnehmen» und ich spüre die vielen musternden Blicke, die später noch an mir und meiner Maske hängen bleiben, als wäre ich ein störendes Element, das die Gesunden schmerzlich daran erinnert, dass da doch irgendwas war mit einer Pandemie.

Einigermassen geschützt fühle ich mich, wenn der Luftaustausch gesichert ist. So wählen wir möglichst immer die Plätze nahe bei der Türe. Im-Durchzug-Sitzen ist unsere neue Wohlfühloase geworden. Wenn man aber in einem Raum von Zertifikatsträger*innen bei  niedrigen Temperaturen ein Fenster öffnen will, wird es kompliziert. Lüften wird zum Politikum. Auch als Jan einer aufgebrachten Frau erklärt, dass er lüften möchte um mich, eine Risikoperson, zu schützen, reagiert sie mit aggressivem Unverständnis und knallt das Fenster knapp vor seiner Nase wieder zu. Sie sei getestet, schreit sie und als Jan antworten will, hustet sie ihm zum Beweis direkt ins Gesicht. Die Kellnerin, die uns zur Hilfe eilt, erzählt uns später, dass sie sich umschulen lässt – das Arbeiten in der Gastronomie sei unerträglich geworden, sie müsse sich jeden Tag wegen der Zertifikatspflicht grob beschimpfen lassen. 

Als die Fallzahlen im Spätherbst wieder rasant steigen, kann ich kaum glauben, wie sich alles ein weiteres Mal zu wiederholen droht. Kann kaum glauben, wie die verantwortlichen Politiker*innen unseres Landes untätig zuschauen wie eine weitere Corona-Welle auf die Schweiz zurollt und dabei ihre «Überraschung» kundtun. Während andere um die frühe Mittagszeit vielleicht langsam ein Bauchgrummeln spüren und hungrig ans Mittagessen denken, denke ich an die Pushnachricht mit den aktuellen Corona-Zahlen, die bald auf mein Handy gesendet wird und spüre ein Stechen in der Magengrube. Auch die vermehrten Nachrichten von Impfdurchbrüchen im nahen und fernen Bekanntenkreis lassen uns nicht ruhiger schlafen.

Während am Anfang der Pandemie alle von Solidarität gesprochen haben, davon, dass auch die Schwachen geschützt werden müssen, so spürt man davon zurzeit nicht mehr viel. Die meisten sind pandemiemüde geworden, sind der Einschränkungen überdrüssig, wollen ihr altes Leben zurück. Man habe genug lange Rücksicht genommen, lese ich immer mal wieder in einem Kommentar. So wird es für uns Risikopersonen schwieriger, die Arbeitskolleg*innen davon zu überzeugen, dass man die Sitzung doch wieder online machen könnte oder vielleicht trotz Impfung im engen Sitzungsraum Maske tragen sollte.

Als die Schweiz – viel zu spät – doch noch entscheidet, dass die Auffrischimpfung eine gute Idee ist, muss ich wieder darum bangen, ob ich als Risikoperson auch einen Booster bekommen kann. Für die meisten ist eine Schlagzeile «Booster gibts vielleicht nur für Personen 65+» tatsächlich nur eine Schlagzeile. Aber für mich ist es eine Antwort auf die Frage, ob ich es wert bin, geschützt zu werden. Es ist ein Ja oder Nein zum Schutz meines Lebens.

Der Begriff »Eigenverantwortung» wird im Zusammenhang mit Corona gerne und oft verwendet. Der Bundesrat tut es, wenn er die Verantwortung für die Pandemie-Bekämpfung an die Kantone abschieben will. Covid-Leugner*innen verwenden ihn dann, wenn sie so wenig Massnahmen wie möglich fordern. Doch während ihn die einen nur als Schlagwort benutzen, haben Angehörige der Risikogruppe in den vergangenen zwei Jahren schmerzlich lernen müssen, was der Begriff wirklich bedeutet. Eigenverantwortung bedeutet, dass ich mich selbst dort schützen muss, wo es der Staat nicht mehr tut, dort, wo er uns im Stich lässt.

Es bedeutet zum Beispiel, dass wir uns aus Vorsicht selbst testen lassen, auch wenn der Bund den PCR-Test nicht zahlt, weil er einmal festgelegt hat, dass Geimpfte sich nicht mehr anstecken können. Es bedeutet, dass man unzählige wissenschaftliche Studien und neuste Forschungsergebnisse studiert und sich ärztliche Zweit- und Drittmeinungen einholt. Es bedeutet, dass wir Unmengen von Geld ausgeben für teure FFP2-Masken.

Dass wir Massnahmen akribisch einhalten, auch wenn sie nicht vorgeschrieben sind. Und wenn in Zukunft neue Mutationen kommen oder auch die Booster-Wirkung nachlässt, bedeutet es vielleicht wieder den «freiwilligen» Rückzug in die totale Selbstisolation.

Ja, auch ich bin der Pandemie überdrüssig geworden. Aber es sind nicht die Massnahmen, die mich einschränken. Sondern das Gefühl, von einer Mehrheit abhängig zu sein, die über meinen Schutz entscheidet. Mich schränkt ein, dass meine Familie und meine Freund*innen Angst haben, dass sie mich anstecken könnten. Und dass wieder eine Zeit kommen könnte, in der mein Gottebueb nicht mehr mit mir spielen darf. 

In den sozialen Medien kursiert der Hashtag «Schattenmenschen» – er ist die Selbstbezeichnung von Menschen, die sich zum eigenen Schutz vor der Pandemie selbst isolieren müssen, weil sie vom Staat nicht genügend geschützt werden. Sie fühlen sich deshalb von der Öffentlichkeit vergessen, vollkommen im Schatten.

Während des ersten Lockdowns habe ich manchmal geträumt, dass ich in einer Menschenmenge sitze und deswegen meine, Corona sei vorbei, weil niemand eine Maske trägt und sich alle eng umarmen. Im Moment, als ich realisierte, dass die Pandemie ganz und gar nicht vorbei ist und mich alle anstecken könnten, bin ich jeweils schweissüberströmt aufgewacht. Dieser Alptraum ist für uns Risikopersonen nun fast wahr geworden. 

Dieser Beitrag erschien am 2. Dezember 2021 in der AZ Schaffhausen.

Deborah Neininger bewegt sich als Regisseurin und Autorin für Film, TV und Theater locker zwischen Performance-Kunst und populärer Unterhaltung. Gegenwärtig schreibt sie an ihrem ersten Roman «Auf der Suche nach den Krippenfiguren habe ich die Pistolen wiedergefunden». Sie lebt in Basel und arbeitet gerne in Tel Aviv (wenn nicht gerade eine weltweite Pandemie stattfindet).

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