«Wie man sich bettet, so liegt man» heisst ein bekanntes Sprichwort. Es impliziert, dass wir für die Folgen unseres Tuns selbst verantwortlich sind. Und es verschweigt, dass es zuerst andere sind, die das Bett für uns machen: Wir werden durch Zufall in ein Land, eine Zeit oder eine Familie hineingeboren. Klar, was wir daraus machen, was wir werden können, liegt zu gewissen Teilen in unseren eigenen Händen. So ist es wenig erstaunlich, dass viele Menschen dazu neigen, Erfolge in ihrer Karriere auf ihr Können und harte Arbeit zurückzuführen. Erfolgreiche Menschen überschätzen jedoch in der Regel den Einfluss der eigenen Leistungen und Fähigkeiten – und unterschätzen die Macht des Zufalls. Denn ein sehr grosser Teil der eigenen Möglichkeiten wird schlicht durch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Herkunft bestimmt.

Dieser unterdrückende Prozess wird als Klassismus bezeichnet. Wie bei anderen Diskriminierungsformen wie dem Sexismus oder dem Rassismus bezeichnet auch der Klassismus eine Benachteiligung von gesellschaftlichen Gruppen oder Personen wegen zugeschriebenen und abwertenden Merkmalen – im Falle des Klassismus aufgrund des tatsächlichen, vermuteten oder zugeschriebenen sozial- oder bildungspolitischen Status. Dabei gibt es wohl keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von Klassismus geprägt ist. Das Spektrum der Gruppen, die davon betroffen sein können, reicht von der Arbeiterklasse bis zu den Superreichen. Letztlich sind es jedoch vor allem die sozial schwächeren Schichten, denen die Möglichkeiten fehlen, etwas gegen diese Diskriminierung zu tun. Sie besuchen schlechtere Schulen, bekommen weniger Unterstützung bei ihrer Berufswahl und kennen keine einflussreichen Unterstützer.

Das ökonomische System, in dem wir leben, hat einen unmittelbaren Einfluss darauf, ob und wie Klassen- oder Schichtunterschiede hergestellt oder abgebaut werden können. So wurde in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Lohnungleichheit lange Zeit geringer. Seit den 90er Jahren zeigt sich jedoch ein klarer Anstieg der Ungleichheit. Während in der Schweiz zwischen 1994 und 2012 die tiefen und mittleren Reallöhne im Schnitt um 18% angestiegen sind, hat bei den Top 10% der Reallohn um 41% zugenommen. Der amerikanische Investor Warren Buffet brachte diesen auch in Amerika stattfindenden Prozess bereits 2006 in einem Interview in der New York Times auf den Punkt: «Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen».

Während in den Sozialwissenschaften bereits seit langem erforscht wird, welche Faktoren auf der Makroebene die Möglichkeiten von gesellschaftlichen Schichten beeinflussen, ist es auf der individuellen Ebene oft nicht leicht, die Einflussfaktoren für gesellschaftlichen oder ökonomischen Erfolg oder Misserfolg von sich selbst oder anderen eindeutig zu identifizieren. Über Faktoren wie den familiären Wohlstand oder das Einkommen wird gerade in der Schweiz selten offen gesprochen. Und die weichen Faktoren wie Beziehungen und Netzwerke werden in der Regel marginalisiert – als individuelle Glücksfälle oder Verdienst durch individuelles Engagement. Dazu kommt, dass sich wohl nur wenige gerne als Sozialhilfeempfängerin oder Goldküstenjunge bezeichnen würden. Alle stellen sich lieber in die Mitte der Gesellschaft. Erstere aus Scham, Arm zu sein, letztere weil sie sich so die Frage nicht gefallen lassen müssen, weshalb sie nicht mehr tun für die Gesellschaft.

Zwar ist es gemäss den Grundrechten der schweizerischen Bundesverfassung verfassungswidrig, jemanden aufgrund der sozialen Stellung zu diskriminieren, dennoch ist Chancengleichheit auch hier kein Naturgesetz. Doch wie kann die soziale Mobilität gefördert werden, wie wird sie verhindert? Warum macht es Sinn, z.B. Genossenschaften beim Erwerb von Grundstücken zu unterstützen? Wie erlebt man als Kind aus einfachem Haus die Vorzüge der Bildungselite? Muss man sich prekäre Arbeit leisten können? Was sagen Samples in Musikproduktionen über den Status der Künstler aus? Und lassen sich gewisse Türen nur von innen öffnen?

Ivan Sterzinger ist ein ehemaliges Redaktionsmitglied der Fabrikzeitung.

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