Die Urgrossmutter meiner Kinder ist letzten Sommer gestorben. Hundert Jahre hat sie gelebt. Bevor sie gegangen ist, hat sie ihren Schmuck, gründlich und zärtlich wie sie war, auf die Frauen der Familie verteilt. Mir hat sie ihre feine, bronzene Kette geschenkt, an der eine winzige Mesusa hängt. Die Mesusa, jene kunstvolle Schatulle, die Juden*Jüdinnen an die Türpfosten ihrer Räume anbringen, hütet das wichtigste Gebet, das Schma, welches auf Pergament geschrieben und dann in die Mesusa gelegt wird.

Die stecknadelkleine Mesusa lässt sich öffnen: Auch sie birgt ein Schma. Meine Jüdin schläft wie dieses Schma in einer verschwindend kleinen, aber kostbaren Kapsel, die dann und wann geöffnet wird. Meine Jüdin schläft in einem Thoraschrein, in einer vergessenen Synagoge einer vergessenen Stadt. Meine Jüdin begegnet mir, wenn ich nach langer Zeit in einen Spiegel schaue und mich erst dann an die tiefe Falte neben meinem Mundwinkel erinnere. Eine Asymmetrie, die sich mit den Jahren in mein Gesicht gegraben hat. Meine Jüdin schläft so tief, dass sie erschrickt, wenn sie geweckt wird und sich erst einmal zurechtfinden muss.

Fürs Theaterspielen, war ich immer mutig genug. Doch lange war ich zu ängstlich, mich einer Gruppe anzuschliessen. Bis ich es nicht mehr ausgehalten habe ohne Bühne und mich für diesen Kurs angemeldet habe.

Wir stehen im Kreis und ich bilde mir ein, dass mich alle anschauen. Das Fenster steht offen, die Spätsommerluft hat sich im Proberaum gestaut. Im Innenhof sägen und klopfen gläubige Juden*Jüdinnen. Es ist so laut, dass wir rufen müssen, um uns zu verständigen.

«Die bauen etwas für irgendein Fest», sagt jemand. «Aber muss das so laut sein?» fragt jemand anderes genervt. «Sie bauen Laubhütten für das Laubhüttenfest, Sukkot», erkläre ich. «In den Hütten trifft man sich, isst, betet, singt zusammen – eine Art Erntedankfest. Ich weiss nicht viel mehr darüber…aber das Dach darf nicht ganz zugedeckt sein, damit man ein Stück Himmel sehen kann.» Jemand der Thomas heisst sagt, das klingt eigentlich ganz friedlich.

Ich werde diesen Thomas auf die Bühne ziehen, wo ein Tisch und zwei Stühle stehen. Wir werden uns auf die Stühle setzen.

Lea: Wieso sollten unsere Feste nicht friedlich sein?

Thomas: Das Sägen und Klopfen ist unfriedlich. Das Fest, für das gesägt und geklopft wird, klingt friedlich.

Lea: Sägen und Klopfen ist harmlos im Vergleich zu dem, was wir sonst so machen. Das wolltest du mir doch sagen.

Thomas: Was wollte ich dir sagen?

Lea: Ich sage dir, was ich denke: Das Dach muss offenbleiben, damit man ein Stück Himmel sieht. Ich will, dass alle ein Dach haben. Und alle müssen den Himmel sehen.

Thomas: Einverstanden.

Lea: Siehst du.

Thomas: Ich habe doch gar nichts gesagt.

Lea: Da ist eine grosse Angst in meiner Familie, die sickert durch alle Generationen, auch meine Kinder haben Angst.

Thomas: Wovor hast du Angst?

Lea: Ich habe Angst vor dir. Ich habe Angst vor deinen Fragen. Ich habe Angst vor mir. Dass ich mich vor euch ausgezogen habe. Am ersten Abend, an dem wir voneinander nicht wissen, wer wir sind. Jetzt denken alle, das ist, weil ich Jüdin bin. Wenn ich etwas Kluges sage. Wenn ich eine Szene spiele, in der ich reich bin.

«Lea!» ruft Thomas. Ich tauche auf und erschrecke. «Zu spät!» ruft Ingmar. «Eine Runde durch den Saal!» Offensichtlich spielen wir ein Spiel, um unsere Namen zu lernen. Langsam laufe ich durch den Saal und beobachte die Gruppe, um die Spielregeln herauszufinden. «Wenn wir scheitern, freuen wir uns!», ruft Ingmar und lacht mir ins Gesicht. Auch ich lache allen ins Gesicht. Mein Kiefer schmerzt, so sehr lasse ich mein Lächeln nicht los. Weil Ingmar die Gruppe sanft führt, weil heute Abend alles sein darf. Wenn ein böses Wort fällt, dann ist es ein böses Wort im anderen Leben, im Theater, da, wo ich immer schon sein wollte. Zum Abschluss finden wir uns wieder im Kreis. Wir sollen einzeln in den Kreis treten und sagen, welcher Moment heute Abend schön für uns war. Ich glaube, dass niemand mehr nur mich anschaut. «Es war schön, mich heute Abend vergessen zu haben», sage ich.

Aber schon am nächsten Tag habe ich mich wieder. Mich zu haben kann so sein, wie wenn ich nach einem langen Winter das Dach zur Seite schiebe und glaube, ich habe dem Himmel sein Blau selbst angemalt. Oder Freundinnen hätten das für mich getan. Oder ich habe es mit den Freundinnen gemeinsam getan. Mich zu haben kann so sein, wie wenn ich denke, die Freund*innen würden nie mehr etwas Gemeinsames mit mir tun wollen. Dass mir der Platz unter dem Himmel nicht zusteht. Deshalb müsste endlich etwas Schreckliches passieren. Meinem Mann. Meinen Kindern. Meinem Hund.

«Und diese Ängste werden schlimmer?», fragt die Ärztin. Ein schwerer, säuerlicher Duft liegt in der Praxis. Ihre Praxis, ein Geheimnis in Weinrot und Gold. Alles hier verspricht Heilung. «Ja», sage ich. «Seit wann haben Sie Ängste?» «Bevor ich in den Kindergarten gekommen bin, habe ich in der Wohnung geübt, schnell wegzurennen. Falls mich die Kinder dort verhauen wollten.» Sie notiert. «Seit wann werden die Ängste stärker?» «Ich glaube, mit der Hormonumstellung werden sie schlimmer.» «Das ist nichts Ungewöhnliches. Dagegen kann ich etwas tun», verspricht sie. «Können Sie mir etwas über ihre Familiengeschichte erzählen? Es ist wichtig.» Ich öffne den Thoraschrein meiner vergessenen Synagoge. Meine Jüdin beginnt und es ist, als ob eine andere die Geschichte erzählen würde. Wie ihre Urgrosseltern die fünf Kinder aus Deutschland weggeschickt haben, in alle Winde, nach Australien, in die USA, in die Schweiz. Wie es diesen Kindern nicht möglich war, die Eltern, die Grosseltern meiner Mutter, aus dem Land zu bringen. Es war ein Abschied für immer. Ich
erzähle und denke bei jedem Wort, dass diese Geschichte nicht hierhergehört. Ich weiss nicht, wohin sie gehört – aber an einem gewöhnlichen Morgen in einer Praxis, die nach Heilkräutern riecht, meinen Thoraschrein zu öffnen? Als ob ich etwas verschenken würde, was nur für mich bestimmt war. Hinter meinem Rücken wird es seltsam warm. Ich drehe mich um: Ein bronzener Buddha sagt, es ist gut. Es ist gut.

Nach der Behandlung mit Nadeln ziehe ich meine Strumpfhose und mein Kleid an. Bei meiner letzten Akupunktur hat sie die Nadeln durch die Strumpfhosen gestochen, weshalb ich dachte, ich ziehe lieber ein Kleid an. «Ich weiss gar nicht», überlegt sie. «Habt ihr Juden eigentlich eigene Spitäler?»

Es war das Kleid, fällt es mir ein. Sie dachte, ich lebe nach dem jüdischen Glauben, weil ich das Kleid getragen habe. Die Ärztin hat nicht verstanden, dass sie meine Jüdin aus dem Tiefschlaf gerissen hat. Ich bin enttäuscht. Ich bin müde. Ich friere an diesem kalten Tag, ein Wind zerrt die letzten Blätter von den Bäumen, weht mir um die Strumpfbeine, weht mir mein Haar ins Gesicht. Es riecht säuerlich und schwer. Ich trage meine kalten Füsse nach Hause und denke, meine Ängste reifen, graben sich tiefer, wie die Falte neben meinem Mund, die ich manchmal vergesse. Ich kann gar nicht geheilt werden. Ich habe Angst, ich falle in diese Grube, ich schwanke über den Brettern, die sie für Passanten über die Grube gelegt haben. Die Nadeln haben Stürme ausgelöst. All meine Kraft muss ich aufbringen, um Widerstand zu leisten. Früher hat sich die Angst so verhalten, wie es sich für sie gehört. Sie kam, wenn mir der unbekannte Sitznachbar im Tram seine Hand auf meinen Oberschenkel gelegt hat. Wenn ich in eine demonstrierende Menschenmasse geraten bin und nicht gleich herausfinden konnte, wogegen sie demonstrieren. Wenn jemand der Familie schon längst zuhause sein sollte und das Handy noch nicht erfunden war. Das Handy ist erfunden, aber manche meiner Freund*innen melden sich nach Tagen nicht, weil ich ganz bestimmt etwas gesagt oder geschrieben habe, dass sie sauer gemacht hat. Ist jemand sauer auf mich, lösche ich mich für eine Weile aus. Bis ich Nachricht erhalte und nie jemand sauer auf mich war. Dann fliege ich auf, fliege hoch, ein Phönix.

Meine Angst ist aus der Mesusa entwichen, hat sich aufgebläht wie ein Dschinn, den jemand versehentlich aus der Lampe befreit hat. Manchmal kommt sie auch jetzt, wenn ich einfach nur lesen will. Sie löscht die Sätze aus meinem Buch. Sie setzt sich auf meine Brust, auf mein Herz. Sie will mich ganz für sich allein haben.

Hätte sie nicht meinen älteren Verwandten zugestanden? Sie haben mit den Kibbuzniks ihre Kräfte zusammengelegt um der Angst Arbeit, Ideen, Tänze, Lieder, Freundschaft und Liebe entgegen­zusetzen. Sie haben die Angst zusammen mit dem Unkraut aus der Erde gerissen, von Bäumen gepflückt und ich bin sicher, sie ist der einen oder dem anderen mit in den Korb geschlüpft.

Ich muss ihr etwas Kraftvolles entgegensetzen, etwas, womit ich ihr entfliehen kann. Etwas, dass stärker ist als ich. Vielleicht geht es vielmehr darum, den Mut nicht zu verlieren, nicht zum Schatten meiner Angst zu werden, sondern die Angst an ihren Platz zu verweisen: Als Schattenwurf, im Dunkeln nicht zu identifizieren. Ha!

Ich glaube, in der Angst wohnt der Mut. Wird die Angst grösser, wächst der Mut mit. Es macht keinen Sinn, diesen verschwisterten Gefühlen zu entfliehen. Die Angst fährt mit und der Mut pfeift ab und zu ein Lied in den Fahrtwind.

Die Urgrossmutter meiner Kinder hat ein christliches Kreuz um ihren Hals getragen. Damals hat sie in Paris gelebt, wohin sie mit ihrer Familie vor den Nazis geflohen war. Die Nazis holten sie ein. Wenn einer von ihnen die junge Erwachsene gefragt hat, ob sie nicht ein Judenmädel sei, hat sie ihm das Kreuz unter die Nase gehalten und gesagt: «Ich? Ein Judenmädel? Ich bin dick katholisch.» Meine Grossmutter, die von den Nazis in die Schweiz geflüchtet war, soll, als ihr Sohn von einer Lehrperson geohrfeigt worden war, ins Zürcher Schulhaus gestürmt sein, und solch einen Radau gemacht haben, dass nie wieder jemand meinen Onkel auch nur berührt hat. Über ihre Fluchtgeschichte weiss ich wenig. Aber auch sie hat eine Familie gegründet, sie hat weitergelebt, gelebt!

Meine Jüdin schläft oft und oft schläft sie unruhig. Ich wecke sie sanft und sage ihr: Deine Angst ist dein Mut.
Vergiss das nicht. Und jetzt schlaf weiter, schlaf ruhig weiter.

Bis bald.

Lea Gottheil schreibt Romane, Gedichte, Theaterstücke und Lieder und ist als Schreibcoach u.a. im JULL (Junges Literaturlabor) tätig.

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