Es ist Freitagmorgen. Im Klassenzimmer herrscht reges Treiben. Einige Kinder sitzen konzentriert an verschiedenen Plätzen im Zimmer und schreiben Namen auf kleine Kärtchen. Das bunt und nach zeitgenössischen Vorstellungen der Pädagogik eingerichtete Zimmer soll einen Namen erhalten. Im Moment ist die Abstimmung in vollem Gange. Zettel werden in einen Briefkasten geworfen. Minuten später sitzt die ganze Klasse im Kreis und die Namensvorschläge werden vorgelesen. Neben Namen wie «das Labor» oder «das Labyrinth-Zimmer», was sich eindeutig auf die Einrichtung bezieht, steht auch ein Name auf den Zetteln, welcher doch irritieren mag. «Das Gefängnis». Ist der Gedanke von Freiheitsentzug tatsächlich nicht so weit entfernt von dem der Volksschule? Was löst diese Verbindung bei Kindern aus? Was verbindet Gefängnis und Schule miteinander? Und wo sehen unsere Jüngsten diese Verbindung?

Von diesem Vorfall ausgehend, habe ich mich entschlossen, der Klasse einige Fragen zu stellen. Wie kommen Grundschulkinder darauf, dass sich Elemente des Gefängnisses in der Schule finden lassen? Es muss folglich bereits eine Vorstellung der Freiheitsstrafe in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler vorhanden sein. Ansonsten wäre der Vergleich nicht möglich. Aber wie kommen Kinder in Berührung mit dem Thema? Natürlich gibt es Familien, in denen das Gefängnis einen grossen Platz im Alltag einnimmt. Kinder, welche die Eltern nur während den Besuchszeiten sehen dürfen. Glücklicherweise ist dies immer noch ein Sonderfall. Die meisten Schülerinnen und Schüler kennen das Gefängnis wohl eher aus Büchern, Comics, Film und Fernsehen. Auch Erzählungen von Erwachsenen sind massgeblich bei der Konzeption von Gefängnis. Im Gespräch mit den Kindern wird schliesslich deutlich, welche Vorstellungen vom «Kittchen» bereits vorhanden sind – und warum es mit der Schule verglichen wird.

Sind Schule und Gefängnis vergleichbar?

Dies ist die erste Frage, die ich in die Runde stelle. Die prompte Antwort, die ich zu hören bekomme, kommt von einem Jungen. Er sagt, dass man nicht ausschlafen könne. Ein anderer Junge ergänzt, dass man in der Schule und im Gefängnis nicht einfach abhauen könne. Ein Mädchen hakt ins Gespräch ein und sagt, dass die Schule kein Gefängnis sei, ausser man würde gerade Prüfungen schreiben, weil man da «ganz still sein muss und nichts Dummes tun kann.»

Aufgrund der Antworten in dieser ersten Runde kann man durchaus erkennen, dass sich für die Kinder Parallelen zwischen Gefängnis und Schule in Bezug auf den Freiheitsentzug feststellen lassen. Dabei gibt es eine Differenz zwischen der Freiheit, zu tun, was man möchte, und der Bewegungsfreiheit. Man muss in der Schule bleiben, was die Bewegungsfreiheit auf das Schulhaus, im besten Fall auf den Pausenplatz, beschränkt. Ebenso ist die Vorstellung verankert, dass man im Gefängnis sowie in der Schule nicht tun kann, was man möchte. Wie im Falle des Mädchens, welches sagt, dass man, zumindest während den Prüfungen «nichts Dummes» machen kann. Die Verhaltensweisen sind eingeschränkt, was man durchaus mit den Regeln innerhalb eines Gefängnisses vergleichen kann. Ebenso vergleichbar ist die Bewegungsfreiheit: Den Ort der Haftstrafe kann man nicht so leicht verlassen.

Die Konzeption von Gefängnis in der Vorstellung der Kinder

Auf die Frage «Was bedeutet Gefängnis für euch?» antworten die Kinder unterschiedlich. Ein Mädchen sagt, dass das Gefängnis der Ort sei, an dem die schlimmen Menschen seien, die etwas Böses getan hätten. Man könne von dort auch nicht weg gehen und es sei nicht so toll dort drinnen. Ein anderes Kind ergänzt, dass man im Gefängnis auch viele Stunden arbeiten und sich konzentrieren muss. Ein weiterer Kommentar eines Jungen beschreibt das Gefängnis als einen Ort, an dem die Freunde nicht bei einem seien. Ein Mädchen erklärt, dass man im Gefängnis nichts habe bis auf ein «schlechtes Bett» und man von überall Geräusche und Schreie höre. «Keiner ist bei dir, zum Beispiel die Eltern. Und irgendwann sind alle gegen dich». Anhand dieser Aussagen kann man sich durchaus eine grundsätzliche Vorstellung ausmalen, welche die Kinder vom Gefängnis haben. Ein Ort, an dem das Böse und furchterregende Überhand hat. Ein Ort, an dem man alleine ist und an dem man nichts mehr hat. Eine ziemlich bedrückende Vorstellung, die sich so früh bereits festgesetzt hat.

Besondere Beachtung verdient der Kommentar eines Mädchen. «Nicht nur das richtige Gefängnis kann Gefängnis sein.» Wenn man zuhause schlecht behandelt würde, könne sich dies auch wie Gefängnis anfühlen. Sie habe schon oft in Filmen gesehen, dass es zum Beispiel eine «böse Stiefmutter» gebe. Man könne sich dann auch gefangen fühlen. Das Mädchen löst das Gefühl, welches dem Gefängnis entspringt – das Gefangensein – aus dem Gefängnisgebäude und gibt ihm einen neuen Ort, der nicht unbedingt auf die Gefängnismauern beschränkt sein muss. Anscheinend kann er sich auch verlagern. Wenn sich die Gefühle, welche an diesem Ort herrschen, in die normale Lebenswelt der Kinder verlagern, fühlen sie sich wie in einem Gefängnis. Entscheidend ist die Frage, ob die Schule den Kindern auch diese Gefühle des Bösen, der Furcht, der Einsamkeit und der Macht- und Besitzlosigkeit vermittelt.

Nachdem mit den Kindern diese Definition von Gefängnis erarbeitet wurde, sind einige von ihnen weiterhin der Meinung, dass die Schule ähnlich sei. Ein Kind sagt, es sei in der Schule auch so, dass man nicht viel Freiheit habe. «Es ist ja irgendwie wie eine Freiheitsstrafe. Man muss arbeiten und dann hat man nicht so viel frei.» Auch das zweite Kind thematisiert die Freiheit: «Man kann nicht einfach so aus dem Klassenzimmer gehen, höchstens, wenn 10 Uhr Pause ist.» Das dritte Kind erläutert: «Ich finde nicht gerade so, dass die Schule ein Gefängnis ist, aber wenn man eine Prüfung machen muss, dann muss man diese machen und kann nicht entscheiden. Man kann auch nicht einfach irgendwo anders hingehen, man muss dableiben. Man kann auch nicht etwas machen, was man will, man muss diese Aufgabe machen.»

Interessant an diesen Aussagen ist, dass sie sich auf die Handlungs- und Bewegungsunfreiheit in der Schule beziehen. Keine der Antworten lässt darauf schliessen, dass die Kinder unter Gefühlen der Furcht, der Angst, des Umgebenseins des Bösen oder der Einsamkeit leiden. Auch Besitzlosigkeit scheint kein Thema zu sein. Ein Mangel an Macht jedoch scheint durchaus vorhanden zu sein. Dies kommt vor allem zum Vorschein, wenn wir die Antworten der Kinder auf die letzte Frage genauer betrachten.

Was müsste sich ändern, damit die Schule weniger dem Gefängnis ähnelt?

Aus der kindlichen Sicht wurde diese Frage sehr klar beantwortet. Vier Kinder, die zuvor der Schule eine Ähnlichkeit zum Gefängnis zugeschrieben haben, geben die folgenden Antworten: «Dass man ein bisschen mehr raus geht.», «Dass man kommen kann, wann man will.», «Dass wir länger ausschlafen dürfen.», «Dass wir weniger Prüfungen haben.»

Es gibt konkrete Auslöser für den Gefängnisvergleich. In diesen Punkten scheint unsere Volksschule, die in allen Kantonen mit festen Zeiten und der Pflicht zur Leistungsüberprüfung ausgestattet ist, tatsächlich die Ideologie des Freiheitsentzuges als Strafe zu reproduzieren.

Fazit

Die Bewegungsfreiheit, die Gebundenheit an das Klassenzimmer ist den Kindern ein Dorn im Auge. Die festen Zeiten, zu denen man zur Schule kommen muss, schränken die Freiheit in den Augen der Kinder ein. Zu guter Letzt werden die Leistungsüberprüfungen und Aufgaben, die man machen muss, als eine Art Freiheitsentzug empfunden.

Weiter ist ersichtlich, dass die von den Kindern beschriebenen Gefühle der Angst, der Einsamkeit und der Besitzlosigkeit sich in der Schule demnach nicht reproduzieren. Die Schülerinnen und Schüler haben sehr prominent das Thema der Bewegungs- und Handlungsfreiheit als störenden Faktor und dringendsten Änderungswunsch genannt.

Mit dem Bewusstsein dieser Vorstellungen der Kinder kann die Lehrperson in der Schule Massnahmen ergreifen, um sich zu vergewissern, dass diese Gefühle verringert werden, bis sie nicht mehr vorhanden sind. Die Schule muss kein Ort des Bösen sein. Ausserdem könnte es eine Aufgabe für die Pädagogen und Pädagoginnen der Zukunft sein, dem Gedanken, dass Schule eine Freiheitsstrafe ist, entgegenzuwirken. Es gibt bereits viele kreative Ansätze in der Pädagogik, welche die Bewegungsfreiheit betreffen und den Kindern ein wenig mehr Verantwortung und Freiheit entgegenbringen. Die Pädagogik weiss um die Thematik und reagiert bereits darauf. Die zukünftigen Entwicklungen sind mit Spannung zu erwarten.

Bereits dieser eine Blick in dieses eine Klassenzimmer gibt uns eine Ahnung davon, wie das Bild des Gefängnisses bereits in den Köpfen unserer Jüngsten verankert ist, und dass sie durchaus Parallelen in der Art und Weise, wie unsere Schule aufgebaut ist, erkennen. Ungefragt haben die Kinder während des Gesprächs auch dargestellt, wieso die Schule für sie persönlich wichtig ist. Zwei Aussagen der Kinder möchte ich als Abschluss für sich selbst sprechen lassen.

«Die Schule ist nicht so wie ein Gefängnis. Die Lehrer sind netter, sie lassen uns manchmal spielen und helfen dir und nach der Schule hat man auch Freizeit. Deshalb, weil im Gefängnis darf man nicht nach Hause.»

«Wir machen das, um unser eigenes Leben zu verbessern, damit wir einen guten Job haben, wenn wir Kinder bekommen, dass wir sie ernähren können.»

Yannick Schmid ist Primarlehrer. Zurzeit studiert er im Master Soziologie und Geschichte, arbeitet jedoch nebenher weiterhin als Klassen- lehrperson, da die Leidenschaft für den Beruf zu gross ist, um diesen ganz ausser Acht zu lassen. 

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