Sara Arzu Hardegger: Willkommen in unserer Chaos-Oase…

Christof Hagen: Das ist wie in der Natur, ein organisiertes Chaos. Wenn man eine Zeit lang in der Natur war, erkennt man, dass alles einen Sinn hat. Nachdem zum Beispiel der Schnee über dem Laub im Wald geschmolzen ist, haben die Blätter eine ganz bestimmte Ausrichtung. Wenn dann ein Lebewesen durch das Laub geht, sind die Schritte für das geübte Auge lesbar. Dann weiss man: Hier ist ein Tier durchgelaufen. Ähnlich ist es auch in diesem Büro: Wenn du einen Stift auf dein Pult legst, und jemand anders benutzt ihn und lässt ihn an einen anderen Ort, dann merkst du das.

Survival bedeutet für mich bewusstes Leben

So sind wir bereits mitten im Thema: Herr Hagen, Sie gelten als Survival Experte. Darf man das so sagen?

Experte ist vielleicht das falsche Wort. Je länger man sich mit etwas beschäftigt, desto eher merkt man, dass man nur wenig darüber weiss. Ein Beispiel: In der Schweiz gibt es 3000 verschiedene Wildpflanzen. Diese mag einer alle kennen, doch in den verschiedenen Jahreszeiten sehen sie jeweils anders aus und sie riechen auch anders. Eine Pflanze in allen Jahreszeiten zu kennen ist anspruchsvoll. Wenn jemand aber zusätzlich noch wissen will, wofür die jeweilige Pflanze gebraucht werden kann, dann betritt er ein noch viel grösseres Gebiet. Ich glaube, man ist immer Teil-Experte von etwas. Survival in dem Sinne ist ein weiter Begriff.

Gehen wir an den Anfang Ihrer Geschichte. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Survivalist werden wollen?

Ich wusste das schon als kleines Kind und habe alle belästigt damit: Eltern, Lehrer und Freunde. Ich wusste aber, dass es dafür keine Ausbildung gibt, deshalb wurde mein Weg auch etwas länger. Als ich 14 war, gab es erst wenig Literatur über Survival. Ich habe diese Bücher gelesen und die Autoren angeschrieben. Ich wollte mich weiterbilden, von ihren Erfahrungen lernen. Die meisten haben nicht geantwortet. Also habe ich eine Lehre gemacht und Architektur studiert. Während des Studiums habe ich zum Beispiel gelernt, klassische Inuit-Iglus aus unserem Voralpen-Schnee zu bauen. Das war die gelebte Architektur. Nach dem Studium, habe ich im Kanton Freiburg in der Bauernhausforschung gearbeitet. Dort haben wir Bauernhäuser und Alphütten architektonisch untersucht. Dabei merkte ich, dass auch für solche Bauten Materialien aus nächster Nähe verwendet wurden. Das waren Häuser, die 300-400 Jahre alt waren! Wenn wir das mit Bauten von heute vergleichen… Ein Flachdach hat innert 20 Jahren garantiert einen Wasserschaden. So konnte ich durch die Architektur viel über Survival lernen.

Gab es also eine Zeit in der Menschheitsgeschichte, die Ihnen besser entsprochen hätte?

Ich könnte keine benennen. Ich bin aber der Meinung, dass besonders heute jeder Mensch wissen sollte, was wichtig ist, um zu überleben. Was würde es zum Beispiel in diesen Breitengraden bedeuten, keine Heizung zu haben? Wenn ich den Pfahlbauer vor 7000 Jahren vergleiche mit dem Menschen vor 300 Jahren, als solche Bauernhäuser gebaut wurden… Dazwischen sind nicht viele Schritte passiert. Der Mensch von heute aber lebt in einer total anderen Welt. Ich glaube, heute fehlt uns das Bewusstsein dessen, was eigentlich wichtig ist im Leben. Wobei mich das persönlich auch etwas entfremdet hat von der Gesellschaft. Ich habe immer wieder längere Zeit draussen gelebt. Da wird man langsam komisch. Draussen ist wichtig, dass man sensibel ist gegenüber dem, was man sieht, riecht oder schmeckt. Wenn man aber danach zurück in die Gesellschaft kommt, dann fehlen einem plötzlich die Eigenschaften, die zum Überleben unter Menschen wichtig sind. Intellektuelle, mathematische, physikalische… was auch immer. Das hat mich gestört. Ich habe aber nicht das Gefühl, früher hatten es die Menschen besser als heute.

Die Kurse, welche Sie anbieten, nennen Sie SOS-Kurse, also Notfallkurse. Wie könnte ein solches Notfallszenario aussehen?

Eine unserer Partnerschulen in den Staaten heisst «Earth-Skill». Ich persönlich finde diesen Namen besser: «Die Fähigkeit mit der Erde zu leben». Survival bedeutet für mich bewusstes Leben. Wenn ein Vogel am Morgen zu pfeifen beginnt, weiss er nicht, ob er am nächsten Tag wieder pfeifen wird. Er muss sich jeden Tag der Frage stellen, ob er genug Futter finden wird, damit er nicht tot vom Himmel fällt. Das passiert bei den Vögeln. Jeden Tag so zu leben, als wäre es der letzte!

Ich habe immer wieder draussen gelebt. Da wird man langsam komisch.

Geht es bei Ihren Kursen also vor allem um das Individuum im Bezug zur Natur oder auch darum, in einer Gruppe etwas zu meistern? Bildet sich dadurch eine Art Parallelgesellschaft?

Nein, überhaupt nicht. Eine Parallelgesellschaft finde ich nichts Erstrebenswertes. Es gibt für mich nicht eine richtige und eine falsche Welt. Wir bieten Gruppenkurse an, die zeigen sollen, dass in gewissen Situationen als Gruppe vieles einfacher ist. Damit man an diesem Kurs teilnehmen kann, muss man aber schon andere allein-meistern-Kurse besucht haben. Man muss sich erst sehr stark mit sich selber befasst haben, bevor man in einer Gruppe funktionieren kann. Ein paradoxes Phänomen der heutigen Zeit ist die Tatsache, dass viele Leute nicht alleine sein können. Das ist aber eine Voraussetzung, um in einer Gruppe zu funktionieren. Manchmal melden sich Gruppen an, die zum Beispiel zusammen auf Expedition wollen. Bei mir bereiten sie sich vor allem technisch vor. Ich versuche aber auch, in solchen Kursen Leadership zu kultivieren. Als Gruppe zu funktionieren wird schwierig, wenn man sich nicht gut kennt. Vor allem in Situationen von Hunger oder Angst. Unsere Gesellschaft funktioniert sehr stark nach dem Prinzip: Einer sagt, die anderen machen. Ich finde das grundsätzlich nichts Schlechtes. Leader kann aber jeder sein, und das muss fortlaufend thematisiert, kultiviert und hinterfragt werden.

Auf Ihrer Webseite benutzen Sie das Wort «Naturtech». Können Sie mir etwas dazu erzählen?

Naturtech setze ich dem Hightech gegenüber. Hightech ist alles, was ich nicht fähig bin, alleine herzustellen. Ein moderner Hobel ist Hightech. Wenn ich aber einen Hobel aus einem kantigen Stein mache, dann ist das Naturtech. Es verwendet nur Materialien aus der Natur mit ebensolchen selbst gemachten Werkzeugen. Wir zeigen, wie man aus Naturgegenständen Wasserfilter, Kleider, Unterkünfte und Werkzeuge selber herstellt.

Was steht dabei im Vordergrund: Der Schutz der Natur oder der Schutz des Menschen?

Obwohl ich als Zwölfjähriger mein kleines Taschengeld beim Naturschutz eingezahlt habe, bin ich heute nicht unbedingt Befürworter solcher Naturparks. Dahinter stecken primär kommerzielle Gedanken. Naturschutz ist natürlich wichtig. Aber genauso wichtig ist es, den Menschen darin mit einzubeziehen. Der Mensch kann die Natur erst schützen, wenn er sie versteht. Dazu muss man draussen gelebt haben. Der Mensch ist nicht ein Besucher der Natur, der Mensch ist die Natur! Wenn wir uns aussperren aus diesen Gebieten, kann ein Bezug zur Natur gar nicht erst kreiert werden.

Gehen wir davon aus, ich würde an einem Ihrer Kurse teilnehmen. Was wäre für mich die grösste Herausforderung und wie würde ich scheitern?

Als ich hierher gefahren bin, habe ich viele Gerüche wahrgenommen. Der See, die Strasse, auch dieser Raum… Gerüche nehmen wir meist nur im Unterbewusstsein wahr. Das Hirn kann gar nicht so viele Eindrücke verarbeiten. Unsere Sinneswahrnehmung ist total überreizt durch die vielen Bilder, die uns täglich vor Augen kommen. Diese Reizüberflutung wird den meisten Menschen in der Natur zum Verhängnis. Draussen muss man lernen, seine Sinne umzuprogrammieren. Ich hatte einmal zwei Gymi-Schüler bei mir im Kurs, die ihre Maturaarbeit zum Thema Survival schrieben. Während ihrer Zeit in der Wildnis ist aber nicht das erwartete Spektakuläre passiert. Es ist kein Luchs aus dem Gebüsch gesprungen. Beim Survival geht es sehr stark darum, eine Sensibilität für das Unspektakuläre zu entwickeln. Im Morgengrauen zu sehen, wie sich Farben verändern, wie sich ein Tautropfen auf einem Blatt bildet oder wie sich zu früher Stunde der Geräuschpegel ändert. Die beiden Maturanden hatten das Gefühl, solche Erlebnisse nicht aufschreiben zu können, weil sie das viel zu langweilig fanden für die anderen. Dabei steckt so viel Wissen dahinter. Wenn man also aus der Zivilisation in die Natur kommt, denken viele nach einem Tag: «Jetzt hab ich’s gesehen.» Dann schaltet man ab und schaut nur noch gegen innen, in sich hinein.

Jeder kann Leader sein

Sie haben, als ich Sie für dieses Interview angefragt habe, mit Ihrer Zusage gezögert. Warum?

Generell finde ich die Medien zu kurzatmig und oberflächlich. Also nicht alle. Max Frisch ist für mich ein grosses Vorbild. Wir waren im Gespräch, um ein Buch zu machen zum Thema Survival. Schreiben ist eine Kunst. Survival auch. Es ist nicht einfach, das Erlebte in Worte zu fassen, damit andere verstehen, um was es geht. Ich hätte gerne gewollt, dass er besser fassbar macht, was es heisst, draussen zu leben. Leider ist Max Frisch kurz nach unserem Gespräch gestorben.

Ich habe mal bei einer SRF-Sendung mitgemacht. Da wurde nur an der Oberfläche gekratzt. Aber unsere Schule wird natürlich für viele Medien spannend in einer Zeit, wo die Ressourcen knapp werden. Dann dreht sich aber alles nur um Lebensmittel, die lange halten. Das ist ein eher unbeholfener Umgang mit dem Thema. Oder es werden Bücher geschrieben, wie man diese Ungeheuer überlebt… Wie heissen die noch mal? Diese degenerierten Menschen, die man auch in Filmen sieht? Zombies! Im Grunde existiert Survival, seit es Menschen gibt. Der steinzeitliche Mensch musste sich auch mit Existenz-fragen auseinandersetzen. Es gab auch Zeiten, als den Bauern im Muotathal die Gefahr drohte, dass die Russen kommen und alle umbringen oder berauben. In der Schweiz wurden in Folge des zweiten Weltkrieges viele Bunker gebaut, aus Angst vor einem Atomkrieg. Das ist alles dieselbe Situation, einfach in verschiedenen Zeiten.

Sara Arzu Hardegger lebt und arbeitet freischaffend im Bereich Grafik Design in Zürich.
Christof Hagen ist Survival Experte und Gründer der «SOS – Survival Outdoor Schule» in Zürich.

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