Aviv Szabs, eine aparte und sanfte Person, sitzt in einem lauschig begrünten Wohnzimmer. Ihr Lachen erfüllt immer wieder den Raum, während sie von ihrer Kunst, Mutterschaft und vom Schweizer Landleben erzählt.

Aviv, deren Name «Frühling» auf Hebräisch bedeutet, beschreibt sich als Mutter, Performancekünstlerin, Textil­designerin und Immigrantin aus Tel Aviv. Sie ist verheiratet und spricht ein wenig Deutsch. Während ihres Studiums wurde Aviv auf die Schweiz aufmerksam, weil sie sich für einen Austausch im Ausland interessierte. So kam sie vor fünf Jahren zum ersten Mal für sechs Monate nach Luzern. Während ihres Austauschs entwickelte Aviv ein fotografisches, partizipatives Projekt, das verlassene Matratzen in Strassen aller Welt dokumentiert und deren Geschichte (nach)erzählt. Später erarbeitete sie zum Thema Mutterschaft und Migration eine Ausstellung, in der sie auf einem Wäscheberg mit Bébé im Arm liegend portraitiert ist. Aktuell kreiert sie aus unzähligen Zettelchen von Kleidungsstücken, sogenannten Textilpflegesymbolen, ein Schweizer Kreuz, das die verschiedenen Menschen unterschiedlichster Nationalitäten repräsentiert, die in der Schweiz leben und arbeiten.

Heute lebt Aviv im Oberaargau auf dem Land und beo­­bachtet dabei, dass mit dem Landleben eine Fokussierung statt­findet: im künstlerischen wie familiären Sinne. Im Vergleich zur Stadt sind in einem Dorf wenige Menschen versammelt. Sie pflegen ihren eigenen Raum und achten sehr genau auf ihre Mitmenschen. Das Leben im Dorf fühlt sich anders, ruhiger an. Es ist in ikonischem Sinne die Basis der Schweiz, um deren Kultur näher kennenzulernen und von ihr lernen zu können. Auf dem Land denkt sie selten, dass sie nicht von hier ist. Es ist eine Art Schutz; sie sieht nicht sonderlich viele Menschen und fühlt sich nicht anders. In der Stadt fühlt sie sich anders, weil dort Menschen ihre Andersartigkeit befragen und verbalisieren. Auf dem Land kann sie anders sein und es zeigen. Freitags grüsst sie hier mit «Shabbat Shalom».

Jüdischkeit und Fluidität

Auf die Frage, wie Aviv in der Schweiz als Jüdin wahrgenommen wird, antwortet sie, dass nicht viele Menschen konkret danach fragen. Die wohl am häufigsten gestellte Frage von nicht-jüdischen Menschen, wie Shabbat gefeiert wird, beantwortet Aviv folgender­massen: Das Anzünden von Kerzen am Freitagabend und Abschalten der mobilen Geräte ist für sie nicht religiös motiviert, sondern es handelt sich um ein Ritual, das sie seit der Geburt ihrer Tochter praktiziert, um für eine bestimmte Zeit vollkommen präsent für ihre Familie zu sein. Aviv erklärt, dass dieser Zeitraum der Ruhe für Menschen so notwendig geworden ist, da ständig alle mit ihrem Handy verknüpft und erreichbar sind. Aviv mag es nicht, wenn ihre Religion nur anhand der Dinge definiert wird, die sie selbst nicht praktiziert. Sie möchte von ihren tatsächlichen Handlungen repräsentiert werden. «Shabbat Shalom» beispielsweise ist eine Formel des Verbindens. Aviv sagt, dass es heute stark um das Verbinden von Menschen gehen muss. Die Erfahrungen in der Schweiz, die Aviv aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit oder Nationalität macht und die daraus resultierende Fremdzuschreibung lösen in ihr ein kämpferisches Gefühl aus. Aviv möchte erreichen, dass Menschen nebeneinander sein und leben können, ohne dass sich die andere Person anders fühlt. Sie will nicht immer als anders wahrgenommen werden und sich erklären müssen. Es geht nicht einmal darum, dass das Judentum anders ist. Es ist einfach eine Minderheit. Punkt.

Wir sprechen über Assimilation, über das vielbesprochene Buch «Desintegriert euch!» von Max Czollek und seine Gedanken zum «Gedächtnistheater». Demnach bestehe die Funktion von Juden*Jüdinnen für die nicht-jüdische Gesellschaft vor allem darin, «die Wiedergutwerdung» nach der Shoah zu bestätigen, indem sie die Rolle der «guten und reinen» Opfer spielen sollen. Aviv sagt, dass das «Holocaust-Theater», wie sie es nennt, Rollen vorschreibt, die keineswegs der Realität entsprechen. Menschen verändern, entfalten und entwickeln sich konstant. Alles ist im Fluss. Aviv ist nicht die gleiche Person, die sie vor der Geburt ihrer Tochter war. Grosse Ereignisse im Leben sind prägend und verändernd. Der Umstand, in der Schweiz zu leben und Immigrantin zu sein. Menschen zu schubladisieren und der Versuch, sie in eine bestimmte Form zu pressen, ist eine konservative Form des Einordnens.

Die Schubladisierung und Benennung werden der Fluidität der Menschen nicht gerecht und konstruieren eine Andersartigkeit. Aviv mag es nicht, ständig als jüdische Person bezeichnet oder vorgestellt zu werden. Sei authentisch; was bedeutet das? Sich der Jüdischkeit ergeben und ein nebensächliches Grundthema zur Hauptsache werden lassen? Viel spannender ist es, Aviv als Künstlerin einzuordnen und zu erfahren, dass sie beispielsweise ein permanentes Projekt mit verlassenen Matratzen kreiert hat. Hier stellen sich die Fragen: Was repräsentieren sie? Wie kommt Aviv zu diesem Projekt? Warum lädt sie nur mündlich andere Menschen zum Partizipieren ein? Bei «Horizontal Mattress» geht es darum, die Symbolik dieses essenziellen Gegenstandes künstlerisch zu erforschen. Auf Matratzen wird geschlafen, geliebt, krank gelegen, gestorben. Aviv hat diesen intimen Raum mit anderen Menschen erforscht, denen sie mündlich das Finden und Fotografieren von verlassenen Matratzen aufgetragen hat.

Das Judentum ist für Aviv eng mit Spiritualität verbunden. Menschen, die Spiritualität mögen, sagen ein Gebet auf, bevor sie sich zur Ruhe legen. Aviv lernte von ihrer Grossmutter ein Gebet, das sie frei weiterentwickelte und bis heute als Nacht-Ritual verwendet. Ein Gebet, das zur Aviv-Religion gehört. Aviv sagt gerne in den Momenten, in denen sie glücklich und stolz ist, dass sie jüdisch ist.

Dialekt: eine unsichtbare Grenze

Wir sprechen über Sprache und landen bei Grenzen. Unsichtbar, aber hörbar. In letzter Zeit ist Aviv oft auf ihren Akzent angesprochen worden. Dass er israelisch klinge, oder französisch. Ihr gefällt es, wenn sie als Französin gelesen wird. Und stellt sich gleichzeitig die Frage, warum sie es mag, Französin zu sein, aber Mühe damit hat, als Israelin eingeordnet zu werden. Interessant ist, wie Menschen sensibel auf unter­schiedliche Dialekte und Akzente reagieren. Beispielsweise in der Schweiz: Sofort wird eine Zuordnung vorgenommen, ob eine Person aus dem Raum Bern, Basel oder dem Wallis kommt.
In Israel ist es weniger einfach zu bestimmen, ob ein Mensch in Tel Aviv oder Haifa aufgewachsen ist. Es gibt keine Dialekte im schweizerischen Sinne. Vielmehr sind verschiedene Generationen und Sprachhintergründe wie Russisch oder Arabisch im Ivrit herauszuhören. In der Schweiz ist es gut möglich, dass nicht jede Person alle Wörter in einem schweizerdeutschen Lied versteht, wohingegen in Israel häufig jedes Wort verständlich ist. Aviv sagt, dass der Dialekt eine unsichtbare Grenze in der Schweiz darstellen kann. Sie denkt über Grenzen nach und fragt sich, ob es gewollt und sinnhaft ist, dass Grenzen so prompt und so hörbar sind. Sprachliche Grenzen sind zwar unsichtbar, aber hörbar.

Markierungen

Als Aviv 16 war, reiste sie durch Italien und trug zu Beginn eine Halskette mit einem grossen Davidstern. Mit der Zeit trug sie ihn weniger und weniger. Gleiches mit einer Tasche, auf der mit einem Schriftzug klar wird, dass Aviv jüdisch ist. Allein trägt sie diese, würde sie jedoch nicht tragen, wenn sie mit ihrer Tochter unterwegs ist. Aviv lacht und meint, dass es kein Trauma ist, sie aber kein Risiko auf sich nehmen mag. Und sie glaubt nicht, dass es jemals anders wird. Aviv gibt zu, dass es ihrem Leben nicht schadet. Sie vergleicht es vielmehr mit dem Tragen von kurzen Röcken. Heute trägt sie diese nicht mehr, weil sie nicht möchte, dass ein Mann sie so betrachtet, wie sie es nicht mag. Nichts­destotrotz kämpft sie, wenn ein Mann im Bus zu einer Frau mit kurzem Rock eine entsprechende Bemerkung macht.

«I don’t like to shout.»

Aviv spürte nie, dass Jüdischkeit in ihrer Kunst erwartet wird. Sie liebt Rituale und findet sich deshalb in der textilen Welt wieder. Auf verschiedenen Reisen tauchte sie in unterschiedliche Formen von Materialität ein. Wie Tücher hergestellt und Fäden verwoben werden. Alle Materialien werden von anderen oder ähnlichen Ritualen bedingt, die als unausgesprochene Sprache verstanden werden können. Aviv verliebte sich in die Poesie des Webens.

Die Frage, wie Textilien verwendet werden, zieht sich wie ein Faden durch ihr Schaffen. Diese ungesagte Sprache fasziniert sie. Der Stoff und die Materialität der Textilien sind die spirituellen Elemente, die Avivs Arbeit prägen. Ihre Identität war lange kein Thema in ihrer Kunst. Bis jetzt. Mit ihrer Ankunft in der Schweiz begann das Interesse an Identität. Aufgrund der neuen Umgebung und der Gesellschaft, die ständig darauf hinweist, dass Aviv jüdisch ist. Diese Energie von aussen forciert Aviv, Identität künstlerisch umzusetzen. In ihr entsteht ein grosses Bedürfnis, darüber zu sprechen, wer sie ist, was sie eigentlich gar nicht will. Viel wichtiger ist Aviv, zu zeigen, dass Menschen sich respektieren und freundlich miteinander sein sollen. Ohne dabei schreien zu müssen, wer sie ist. Sie mag es nicht, zu schreien.

Unser Gespräch ist Teil der Befragung von Avivs Identität und erkundet ihre Gedanken zu ihrer Jüdischkeit. Aviv meint, dass es auch schöne Seiten hat, über ihre eigene Identität zu sprechen. In Israel wird nie darüber gesprochen, weil es so offenkundig ist. Aviv beschreibt das Sprechen über ihre Jüdischkeit als kraftvoll und das Selbstbewusstsein stärkend. Die Zugehörigkeit zum Judentum kann zwischen Menschen sehr verbindend sein.

Die Verabschiedung nach dem Gespräch ist herzlich und die Gedanken zu spürbaren, aber unsichtbaren Grenzen, zur Selbstfindung innerhalb einer Gesellschaft und zur Kunst als elementares Ausdrucksmittel, begleiten uns noch lange.

Anaïs Steiner studiert im Master Jüdische Studien und Deutsche Philologie an der Universität Basel, arbeitete für das queer feministische Luststreifen Film Festival und kuratierte die queere Kunstausstellung Lust*Art. Aktuell moderiert sie Lesungen und Filmpremieren, ist in der Redaktion des queeren Magazins Glitter, untersucht «female gaze» auf photographischer Ebene und arbeitet für kfka – Kollektiv für kulturelle Aufgaben.
Aviv Szabs widmet ihre Praxis als Künstlerin dem Prozess der Verankerung sozialer Werte durch tägliche Aktivitäten und in ihren Projekten. Sie performt, aktiviert Menschen, fertigt Skulpturen an und fotografiert. Sie nutzt den öffentlichen Raum als ihr Atelier. Mit ihrem Lebenspartner und der gemeinsamen Tochter lebt sie in einem Loft.

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