GRM Brainfuck: So heisst der neue, 640 Seiten umfassende Roman von Sibylle Berg. Er handelt von vier Kindern, die in einer deprimierenden Stadt in Nordengland aufwachsen und nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates. Ihr Essen: von privaten Hilfswerken. Ihre Eltern: haben längst aufgegeben.

Die Brave New World findet bald statt, vielleicht hat sie auch schon begonnen; die Menschen werden durch Algorithmen und künstliche Intelligenz ersetzt. Die vier Protagonistinnen kehren dieser Welt den Rücken zu und flüchten sich in die Welt von Grime. Grime ist vielleicht die grösste musikalische Revolution seit Punk, ein aus London stammender Musikstil, der vor allem von Rap, Drum and Bass, Dubstep und Dancehall beeinflusst ist und sich durch seinen rohen, aggressiven und teilweise düsteren Sound auszeichnet. Er bringt fast täglich neue Youtube-Stars und Role-Models hervor und wird auch ausserhalb von England immer populärer.

Leonor Diggelmann: Frau Berg, wie sind Sie ausgerechnet zu Grime gekommen? Haben Sie einen persönlichen Bezug dazu?

Sibylle Berg: Während ich in England für das Buch recherchierte und dort vornehmlich den grossen Teil der vergessenen Bevölkerung besuchte – Menschen, die in der dritten Generation arbeitslos sind, die vom System nicht benötigt werden und die in untergegangenen Industriestätten in sogenannten Failing States leben – kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit Grime, der dort von fast allen Jugendlichen gehört und gesehen wird und dessen Stars Vorbilder für viele sind.
Ich liebe Rap, und habe dann angefangen, mich in Grime zu graben, durch die zahlreichen ausgezeichneten Artists und Tracks, bis ich T.Roadz, mit dem ich jetzt auftrete, entdeckt habe.

Um welche zentralen Fragen dreht sich «GRM Brainfuck»?

Es behandelt die Fragen, die sich im Moment viele stellen: Was wollen die populistischen, faschistischen Kräfte, die gerade weltweit einen Aufschwung erfahren? Welche Verbindung gibt es zwischen Neoliberalismus und der wachsenden Überwachung, der die meisten Bürgerinnen aus Angst vor dem Terror bereitwillig zugestimmt haben? Der Terror, der seltsamerweise plötzlich verschwunden ist. Das Buch spielt in England, das in Europa schon immer eine neoliberale Vorreiterrolle gespielt hat und auch mit der Überwachung seiner Bürgerinnen ganz weit vorne ist.

Wie begegnen sich die vier Heldinnen des Buches und warum stellen gerade sie sich gegen das System?

Die vier Jugendlichen im Buch wachsen in Rochdale auf – einem Ort, der besonders interessant ist. Er wurde zum wiederholten Mal zur deprimierendsten Stadt Englands gekürt. Sie wachsen alle in ähnlichen familiären Situationen auf, mit überforderten und meist alleinerziehenden Elternteilen, die ohne die Hilfe privatisierter Hilfseinrichtungen kaum überleben könnten, ohne jede Aussicht, aus ihrer sogenannten Klasse auszubrechen. Die Jugendlichen brechen nicht aus dem System aus, sondern sie hauen einfach ab, weil ihr Leben sie langweilt, und weil sie wissen, dass ihr Schicksal vorgezeichnet ist: Schlechte Schulausbildung, keine Jobaussichten, ein Kind mit 16 und Sozialhilfe, von der man kaum leben kann. Deshalb fliehen sie. Die Heldinnen des Buches sind keine Greta, die aktivistisch arbeitet. Sie sind Überlebende des Krieges gegen die Armut, der gerade erst begonnen hat.

Die meisten Menschen im Roman haben einen Registrierungschip unter der Haut. Können die Jugendlichen sich dieser Art der totalen Überwachung überhaupt auf legale Weise entziehen?

Am Tag ihrer Ankunft in London wird für alle Bürgerinnen des Landes das Anrecht auf den Erhalt eines bedingungslosen Grundeinkommens verkündet. Hurra, Geld für nichts. Der Empfang ist an eine biometrische Registrierung gekoppelt. Ein Chip, den sich übrigens viele im Norden Europas gerade ohne jeden Grund einsetzen lassen. Der Chip ist eigentlich überflüssig, denn die biometrischen Daten von uns allen sind ja bereits im Pass durch die Ein- und Ausreisekontrolle und die grossflächige Kameraüberwachung aktiv. Das Einsetzen des Chips deckt nur die minimale Möglichkeit ab, dass sich ein Objekt gerade in einem unbewachten Gebiet aufhält. Wichtiger ist aber: Wer lässt sich nicht registrieren? Diese Personen sind dann so suspekt für unseren Staatschutz wie die Menschen, die ihren Mailverkehr verschlüsseln.

Ist «GRM Brainfuck» ein Jugendbuch?

Was ist denn ein Jugendbuch? Das Buch ist für Menschen, die gerne lesen und sich dafür interessieren, was gerade in diesem Moment mit unserer Welt passiert. Und ja, die Leserinnen können jung sein, oder sehr alt. Im Buch werden viele aktuell relevante Fragen beantwortet; es ist der Versuch einer Zukunftsvision. Welche Gesellschaft erwartet uns, wenn vornehmlich männliche, weisse Programmierer sie entwerfen? Was machen grosse Teile der Bevölkerung nach dem Wegfall der Arbeitsplätze durch die Übernahme von Künstlicher Intelligenz und Algorithmen? Wie wird dieser Krieg, den wir auch in der Schweiz spüren – Superreiche gegen ärmere Teile der Bevölkerung (bei uns zeigt sich dieser durch den ständigen Abbau von Sozialleistungen, der übermächtigen Macht von Lobbyisten aus Wirtschaft und Versicherung, der Unbezahlbarkeit von Mieten und der Privatisierung gesellschaftlichen Eigentums) enden?

Nein, es ist weder ein Kinder- noch ein Jugendbuch, sondern es zeigt, wie die Generation Greta Thurberg – also all jene, die nach 2000 geboren wurden und in Kürze Jugendliche sein werden – vermutlich leben wird.

Was bedeutet «Brainfuck»?

Brainfuck ist eine Programmiersprache, in der sich die Künstliche Intelligenz im Buch unterhält. Animiert wurde ich von dem realen Fall der Algorithmen, die in der Black Box begonnen haben, eine eigenen Sprache zu entwickeln.*

Und natürlich ist es auch ein niedlicher Verweis an unser ADHS-Zeitalter, in dem das Denken vieler von Internetgiganten gehackt wurde.

Leonor Diggelmann hat Geschichte und portugiesische Sprach- und Literaturwissenschaften studiert und macht derzeit einen Master in Zeitgeschichte an der Universität Fribourg. Sie lebt in Zürich und arbeitet seit vielen Jahren in der Gastronomie.
«GRM Brainfuck» erscheint am 11. April 2019 bei Kiepenheuer & Witsch.
Der Performance-Lesung-Konzert-Videoabend zum Buch findet am 20. April um 20 Uhr in der Aktionshalle der Roten Fabrik statt. Mit: T.Roadz (UK), Prince Rapid und Slix (Ruff Sqwad/UK), Sibylle Berg, Otti Engelhardt, Antonije Stankovic, u.a.
Video: Chas Apetti und Alex Bunge, Regie: Sebastian Schwab
* Der Zeitpunkt, ab dem sich Maschinen mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) selbstständig machen und gar nicht mehr auf den Menschen angewiesen sind, wird von Expertinnen in nächster Zukunft erwartet. Bei einem KI-Experiment von Facebook, das vor wenigen Jahren durchgeführt wurde, fingen zwei Bots namens Bob und Alice an, sich in einer Art Geheimsprache zu unterhalten, die ihnen aus für die Wissenschaftler unklaren Gründen logischer und effizienterer erschien als die englische Sprache, die ihnen beigebracht worden war. Obwohl die beteiligten Wissenschaftler teilweise einen Sinn hinter der abgewandelten Sprache von Bob und Alice erkennen konnten, wurde ihnen das Experiment «zu bunt» und es wurde abgebrochen.
Die Autorin: Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 21 Theaterstücke, 14 Romane und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg fungierte als Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Wolfgang-Koeppen-Preis (2008), den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (2016) und den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2019).

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