Während bürgerliche Freiheiten auch offline immer weiter eingeschränkt werden, sollen manche fundamentalen Rechte wie Demonstrations- und Versammlungsrecht im Internet schon gar nicht eingeführt werden.

Bereits in den Anfängen des World Wide Web beunruhigte der neue Raum, der sich für Internetuser auftat, die staatstragenden Mächte und Sicherheitsbehörden. Als ab Mitte der 1990er Jahre das Internet langsam aber sicher zu einem neuen Massenmedium wurde, nahmen die Warnungen vor einem Cyberwar und dem Cyberterrorismus ebenso zu wie jene vor einem neuen Wilden Westen, in dem es keine Regeln gebe, vor allem da die Anonymität im Netz den gesellschaftlichen Zusammenhang bedrohe.

Zwar sollte das globale, grenzenlose Internet, das noch weitgehend in den Händen des Westens lag, aus politischen und ökonomischen Interessen heraus erhalten bleiben, aber es stellte auch die nationale Sicherheit etwa der USA in Frage, wie 1997 die von Bill Clinton einberufene Presidential Commission on Critical Infrastructure Protection warnte: «Die Cyberdimension stützt sich zunehmend auf unsere Infrastrukturen und erlaubt den Zugang zu diesen aus der ganzen Welt», was aber auch «traditionelle Grenzen und Rechtsprechungen» unterläuft. So wird nun innere Sicherheit von aussen und aus der Ferne bedroht. Der Schutz der wo auch immer verlaufenden Cybergrenzen, die Bekämpfung des Cyberterrorismus und der Einstieg in den Informationskrieg, die Angst vor neuer Kriminalität und einer unkontrollierten Meinungsfreiheit führte in den Nationalstaaten zu hektischen Massnahmen, während gleichzeitig internationale Abkommen blockiert wurden. Wie immer gehen Sicherheit und Wirtschaftsinteressen vor Menschenrechten und Demokratie.
Die Bedrohungskulisse wurde in der Folge weiter aufgebaut und die gesetzlichen Regelungen verschärft. Länder versuchen zunehmend, den Internetverkehr mit Überwachung und Filtern zu kontrollieren. Immer öfter wird das Internet blockiert oder ein nationales Netz aufgebaut, um einen Staat im Notfall aus dem Internet auszuklinken, es aber auf nationaler Ebene in Betrieb zu halten.

Was in der gesamten Entwicklung, nach 9/11 verstärkt und zunehmend durch die Cyberwar-Aktivitäten und -Ängste der Staaten, aus dem Blick gefallen ist, sind Bemühungen darum, das Internet demokratisch zu gestalten. Noch sind Demonstrationen, freie Meinungsäusserung, Kundgebungen und auch ziviler Ungehorsam möglich. Nicht nur, weil sie in demokratischen Rechtstaaten verfassungsgemäss eingefordert werden können, sondern weil es auch faktisch einen öffentlichen Raum gibt, der von Gemeinden, Ländern und Staaten etwa in Form von Strassen und Plätzen vorgehalten wird. Im Internet sind die Strassen und Plätze (Backbones, Internetknoten, Erd- und Seekabel, Richtfunk, Satelliten, Telefon-, Kabel- oder Mobilfunknetze) hingegen in privater Hand.
In den 1990er Jahren wurde noch um die Einrichtung von öffentlichen virtuellen Räumen gekämpft. Man wollte, wie es die frühe Internetkultur vorgelebt hatte, selbstorganisierte Gemeinschaften und eine eigentumslose Geschenkökonomie. Aber es ging auch darum, sich der öffentlichen privaten Räume zu bemächtigen, parallel zur Reclaim-the-Streets-Bewegung. Daraus entstand die Idee, die Sit-ins als Form des zivilen Ungehorsams aus den Protestbewegungen in den Cyberspace zu übertragen. Den Zugang zu einer Website zu blockieren, ist vergleichbar damit, eine Strasse, einen Platz oder ein Gebäude durch eine Sitzblockade zu blockieren. Die Bewegung der anderen Verkehrsteilnehmenden wird auch hier eingeschränkt, weil es der Sinn einer Demonstration ist, Aufmerksamkeit für ein Anliegen zu erzeugen.

1989 hatte eine italienische Gruppe, die sich Anonymous Digital Coalition nannte, nach einem Massaker an Indios in Chiapas zu einer neuen Form des kollektiven Protestes im Netz aufgerufen, die von Ricardo Dominguez und Stefan Wray vom Electronic Civil Disobedience (EDC) weitergeführt wurde: das gleichzeitige automatisierte Aufrufen einer Website durch massenhaftes Klicken des Reload Buttons als eine Strategie des «elektronischen zivilen Ungehorsams». Daraus entwickelten sich im Vorlauf zu den später praktizierten DoS- oder DDoS-Angriffen mit vielen Zombie-Rechnern Programme wie FloodNet, die man nur anklicken musste, um permanent eine Website zu einer bestimmten Zeit aufzurufen. Andere Programme versuchten durch massenhaftes Versenden von Spam-Emails ebenfalls eine Website lahmzulegen – sogenannte «Email-Bomben».

Protestformen, die im realen Raum geschützt sind werden im Cyberspace als Kriminalität oder als Terrorismus verfolgt.

Im Unterschied zu Hackern, die in Websites eindrangen und diese beispielsweise mit Botschaften überschrieben, legte der «elektronische zivile Ungehorsam» ohne Vermummung nur den Zugang zu einer Website lahm oder machte sie durch wiederholte Aufrufe langsamer. Der Unterschied zu Sit-ins im realen Raum ist, dass Menschen weltweit an solchen Protesten teilnehmen können, ohne vor Ort sein zu müssen, aber eben auch, dass es keinen öffentlichen Raum gibt. Die Staaten haben unter der neoliberalen Ideologie, der auch viele antistaatliche und anarchistische oder libertäre CyberaktivistInnen anhingen, keine Plattformen aufgebaut, die nationale oder globale öffentliche Räume mit den bürgerlichen Freiheiten garantierten. Deswegen wurden und werden Protestformen, die im realen Raum geschützt sind, im Cyberspace als Kriminalität oder als Terrorismus verfolgt. Sitzblockaden sind gerechtfertigt, wenn die menschlichen Körper die freie Bewegung der anderen gewaltlos verhindern. Das Aufrufen einer Website durch ein Programm wird hingegen als eine Waffe oder als Gewalt subsummiert, um solche Aktionen zu kriminalisieren.

Es gab in Deutschland im Juni 2001 eine Aktion, die das Problem deutlich gemacht hatte, aber weitgehend dem Vergessen anheimfiel. AktivistInnen von «kein mensch ist illegal» und «Libertad», die gegen Abschiebung von Geflüchteten protestierten, hatten zu einer zweistündigen Blockade der Website der Lufthansa aufgerufen. Über eine Mail wurde das virtuelle Sit-in gegen die Website Lufthansa.com auch bekannt gegeben und dem Ordnungsamt in Köln – dem Hauptsitz der Lufthansa – mitgeteilt. MitstreiterInnen sollten sich ein Programm des Electronic Disturbance Theatre herunterladen, das die Website immer wieder aufruft. Schon im Vorfeld des virtuellen Sit-ins gegen die Lufthansa, das als «Sitzblockade am Eingang des Internetauftritts der Lufthansa» ausgegeben wurde, hatte das Bundesjustizministerium erklärt, dass solche Aktionen kein legitimes Mittel zur politischen Meinungsäusserung seien und gleich mehrere Straftatbestände erfüllen könnten. Apodiktisch hiess es, dass das Versammlungsrecht im Netz nicht gültig sei: «Unser Haus hält es für zweifelhaft, dass sich die Initiatoren auf das Demonstrationsrecht berufen können.» Die im Artikel 8 Grundgesetz garantierte Versammlungsfreiheit beziehe sich nur auf die physische Anwesenheit «im realen öffentlichen, und nicht im virtuellen Raum». Das Ordnungsamt habe sich daher als «nicht zuständig» erklärt, sagte Strasser, und die AktivistInnen auf den Unterschied zwischen körperlichen und virtuellen Versammlungen hingewiesen und ihnen eine Rechtsberatung empfohlen.

Die Lufthansa sprach von «terroristischen Hackerschlägen» – und das war noch vor 9/11. Das virtuelle Sit-in, das von 150 Organisationen unterstützt wurde, war am Tag der Aktionärsversammlung insofern ein bisschen erfolgreich, als die Website trotz der Bemühungen der Lufthansa angeblich mehrmals für kurze Zeit schwer zu erreichen war. Dazu trugen freilich auch Internetuser bei, die zufällig zur Zeit des virtuellen Sit-ins auf die Website zugriffen. Das Ziel der Demo sei, so sagten Organisatoren, sowieso «nicht ein technisches Knockout des Servers gewesen, sondern durch eine massive Beteiligung und Berichterstattung die Kritik an den Abschiebeflügen zu verstärken». Es sollen sich allerdings nur 13.000 Menschen beteiligt haben.
Die Lufthansa stellte Strafanzeige wegen Nötigung, die Polizei sah einen «Aufruf zu einer Straftat», die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Computersabotage und Nötigung; der Staatsschutz durchsuchte die Räume des Mitorganisators «Libertad!» in Frankfurt am Main und beschlagnahmte die Computer. Das Frankfurter Amtsgericht verurteilte 2005 ein Mitglied von «Libertad!» wegen «Anstiftung zur Nötigung». Die Strafe von 900 Euro war zwar symbolisch, aber das Gericht wollte klar machen, dass es solche Protestformen im virtuellen Raum nicht geben darf. Die Richterin sprach von der «Kraftentfaltung des Mausklicks», durch den der Tatbestand der Gewalt «in seiner stärksten Form erfüllt» und «der Wille Anderer gebeugt» worden sei. Umstritten war juristisch, ob Online-Demonstrationen oder virtuelle Sit-ins nach dem Grundgesetz als Versammlungen gelten können. Juristinnen schlugen vor, solche Aktionen wie virtuelle Sit-ins als «massenhafte Inanspruchnahme der Meinungsfreiheit» zu sehen, wenn Versammlungen physische Anwesenheit vor Ort erfordern. Allerdings wäre auch das kollektiv wiederholte Aufrufen einer Website physisch im Sinne der Telepräsenz oder -motorik.
2006 sprach dann das Oberlandesgericht Frankfurt den Angeklagten frei. Onlinedemos seien keine Gewalt und Nötigung, auch keine Datenveränderung, sondern der Versuch einer «Meinungsbeeinflussung». Unentschieden bleib der Vorwurf der Ordnungswidrigkeit, die zum Zeitpunkt des Urteils bereits verjährt wäre. Die Begründung ist allerdings interessant: «Die Wirkung beim Opfer, dem User, erschöpft sich in dem Umstand, dass er die Website der A nicht aufrufen kann. Eine physische Beeinträchtigung ist damit nicht verbunden.» Es wird also gegen das Amtsgericht argumentiert, dass eine Onlineblockade keine physische Blockade ist, wie das bei der Sitzblockade der Fall ist. Das Amtsgericht habe ausgeführt, «dass die technischen Vorgänge in der Summe dazu führen, dass es unmöglich werde, die entsprechende Homepage aufzusuchen. Diese Ausführungen sind bereits im Ansatz verfehlt, da im Falle der Sitzblockade die Opfer in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, was im Fall der ‹Onlineblockade› nicht gegeben ist. Die Internetuser können sich weiterhin uneingeschränkt bewegen und fortbewegen.»

2012 erklärte die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken, dass bei «einer Nutzung von Computerprogrammen zur Herbeiführung einer ‹Denial-of-Service-Attacke›» eine Strafbarkeit wegen «Computersabotage» in Frage komme. Auch wer solche Programme verbreite, könne strafbar werden. Entlarvend ist jedoch schon die Terminologie, von einer «Attacke» zu sprechen. «Massen-Email-Proteste» seien aber legitim und würden nicht mit der Absicht einhergehen, anderen Schaden zuzufügen. Sie sind von der Meinungsfreiheit gedeckt. Betont wird aber, dass im Sinne des Artikels 8 des GG virtuelle Versammlungen keine verfassungsrechtlichen «Versammlungen» seien. Denn solche würden eben «die gleichzeitige körperliche Anwesenheit mehrerer Personen an einem Ort» voraussetzen.

Art. 8 GG lautet: «Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.» Hier ist keine Rede von physischer Anwesenheit; die einzige offene Frage ist, ob eine Online-Blockade als «Waffe» zu werten ist. Wenn man von «Attacke» spricht, tendiert man dazu, kollektive DDoS als Gewalt zu betrachten. Versammlungen und Demonstrationen im realen Raum schränken die Bewegungsfreiheit anderer Menschen ebenfalls ein und fügen kommerziellen Interessen womöglich Schaden zu. Es wäre also höchste Zeit, dass Regierungen von demokratischen Rechtsstaaten die Räume juristisch und virtuell schaffen oder freigeben, um Versammlungen, Demonstrationen oder Sitzblockaden online zu ermöglichen.

Ein Grundproblem ist freilich, dass sich das deutsche Grundgesetz auf deutsche StaatsbürgerInnen bezieht. Das deutsche Versammlungsgesetz räumt aber die Versammlungsfreiheit «jedermann» unabhängig von der Staatsangehörigkeit ein. Nachdem man seit einigen Jahren die Angst vor Destabilisierungs- und Desinformationskampagnen schürt und Informationen als Waffen (weaponized information) bezeichnet, werden hier wohl weitere Beschränkungen aufgebaut. Auffällig ist vor allem, dass die Parteipolitik dieses wichtige Thema in einer digitalen Gesellschaft vermeidet. Auch die neuen Protestformen wie die Gelben Westen, Fridays for Future oder Extinction Rebellion sind auf diesem Auge blind.

Florian Rötzer ist ein deutscher Journalist. Er studierte in München Philosophie, Pädagogik sowie Psychologie und ist Chefredakteur beim Online-Magazin Telepolis, zu dessen Gründern er gehört.

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