Sie sind bereits unter uns: Menschen, die auf ihr Handy starren; nicht nur in der U-Bahn, sondern auch beim Gehen in der Stadt. Leute, deren «ambient attention» nicht weiter reicht als bis zum nächsten Hindernis. Widerstand, gar ein trotziges In-den-Weg-Stellen, wenn diese Smartphone-Zombies – «Smombies» – seltsam mechanisch durch überfüllte Strassen schleichen, wirkt da hilflos aggressiv. Die Untoten scheint das nicht zu kümmern: Sie weichen aus ohne aufzublicken. Da bleibt nur die Schadenfreude, wenn sie vor lauter Abwesenheit den Fahrstuhl zu früh verlassen oder die falsche Toilette aufsuchen.

Selbst in beschaulichen Schweizer Städten ist das Problem inzwischen angekommen. Die Lausanner Polizei erregte im Mai 2015 mit einem Video Aufsehen, das vor dem Texten im Gehen warnt. «Zaubertrick mit dem Smartphone im Strassenverkehr» heisst das Video über Jonas, 24 Jahre alt, Rap- und R&B-Fan, der unterwegs gern mit seinen Freunden textet. «Jonas hat keine Erfahrung mit Magie», so der durchtrieben wirkende Erzähler, «und doch wird er gleich vor euren Augen verschwinden. Schauen wir genau hin!» Dann tritt Jonas textend an die Strasse, blickt kurz in die falsche Richtung und wird, als er sie betritt, von der anderen her rasant durch ein Auto aus dem Bild gestossen. Es folgt Geschrei und Entsetzen der Passanten und der zwinkernde Gruss des Erzählers, der sich als Besitzer eines Bestattungsunternehmens erweist: «Hey, bis bald!»

Die Polizei dramatisiert das Phänomen in betriebseigener Logik als Unfalltod. Das Verschwinden der Menschen hinter den Smombies beginnt aber lange vor dem Aufprall: Wenn sie nämlich auf dem Weg von A nach B den Raum dazwischen nur noch als Zeit betrachten und sich für die Überbrückung derselben in die Parallelwelt der sozialen Netzwerke begeben. So ist man verschwunden, selbst wenn man noch da ist; Smombies sind nicht Untote, die zurückkommen, sondern Abwesende, die ihre Körper zurücklassen.

Aber was ärgert, ja provoziert uns, wenn wir ringsum Menschen in ihre Geräte versunken sehen? Hofften wir auf Gesprächspartner und sind nun enttäuscht, dass sie den Cyberspace vorziehen? Verübeln wir ihnen die Einsamkeit, in die sie uns stossen? Oder verstimmt uns nur die Impertinenz, mit der sie erwarten, dass wir aus dem Weg gehen?

Weniger selbstmitleidig lässt sich diese als Zurückweisung empfundene Versenkung in die Bildschirme als Konsequenz der Mediengeschichte lesen. Das Smartphone vollendet ein Verschwinden des Raumes, das spätestens mit den modernen Verkehrsmitteln begann. Während die Landschaft an der Eisenbahn immerhin noch vorüberzog, war sie mit dem Flugzeug schliesslich fast ganz verschwunden. Nun konnte um die ganze Welt gereist werden, ohne etwas anderes von ihr zu sehen als Flughäfen. Wegbewältigung hiess nicht mehr Raumbegegnung. Für Johann Gottfried Seume, den bekanntesten Spaziergänger der deutschen Literaturgeschichte, war Anfang des 19. Jahrhunderts schon die Kutsche Verrat am Raum: «Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein in’s Angesicht sehen, wie man soll.» Erfahren kann man nach Seume die Welt nur im Gehen.

Seit es mobile Medien und soziale Netzwerke gibt, gilt das Begegnen von Angesicht zu Angesicht selbst für Fussgänger nicht mehr. Zwar waren manche schon seit dem Walkman irgendwie in ihrer eigenen Welt; diese sahen damals aber immerhin noch, was sie nicht mehr hören wollten. Das Smartphone geht einen Schritt weiter, indem es eben den Raum völlig auf eine Distanz zum Zielort reduziert. So lässt der Bildschirm in der Hand den Raum ebenso verschwimmen wie die Kutsche, das Auto und das Flugzeug. Das Smartphone wird zum Fahrzeug.

Das Smartphone verwandelt den Umgebungsraum in einen Nicht-Ort für den Menschen, dem, versunken im Cyberspace, die kulturelle Eigenheit seiner Umgebung entgeht: Die Häuserstruktur, die Graffiti, die spielenden Kinder, das besondere Licht in der Platanen-Allee. Raum ist immer auch Zeitraum im Sinne der Dauerhaftigkeit. Die Baustile, die Strassennamen, die Denkmäler – es sind Phänomene vergangener Zeiten, die uns der Raum gegenwärtig macht.

Der Entzug des Raumes erfolgt banal, wenn GPS uns der Orientierung beraubt. «In zwanzig Metern links abbiegen!» Was weiss man über einen Raum, dem man so begegnet? Fände man zurück, wenn das GPS versagt? Die Gefahr liegt nicht im leeren Akku, sondern in der Folgsamkeit, mit der wir die Vorschläge der App behandeln, statt eigensinnig eine Strasse zu erkunden, die interessant erscheint. Das Problem ist, dass wir der Technik – und den Menschen hinter ihr – die Macht geben, unsere Begegnung mit dem Raum zu bestimmen: Von den Wegen, die wir gehen, bis zu den Orten, die wir aufsuchen.

Der Verlust des Raumes betrifft auch die «Kultur der Stadt», die laut Walter Siebel eine Kultur der Diversität ist. Die Kreativität, die aus der Befragung des Eigenen in der Begegnung mit dem Anderen folgt, wird überschrieben durch das, was kontrolliert auf dem Bildschirm erscheint. Das «Fahrzeug» Smartphone trennt auch von den Menschen, die einem unterwegs begegnen könnten. Obdachlose, Strassenmusikerinnen, UNICEF-Aktivisten, andere Smombies – sie alle verkommen in der ambient attention der ins Smartphone Starrenden zu Objekten, mit denen es eine Kollision zu vermeiden gilt.

Die Stadt verliert so ihr kosmopolitisches Potenzial, das sie vom Konservatismus der kleinen Orte abhebt. Dieser Verlust droht auch dann, wenn die virtuelle Parallelwelt ein soziales Netzwerk ist. Denn dieses ist trotz seiner globalen Struktur oft nicht mehr als ein Dorf, in dem man sich kennt, prinzipiell einer Meinung ist und Fremde nur zulässt, wenn sie sich entsprechend assimilieren. Die Filterblase der «eigenen Leute» negiert das Angebot des öffentlichen Raumes, an denen zu wachsen, die einem mit anderen Erfahrungen und unversuchten Perspektiven begegnen mögen. Das Problem ist nicht das Netzwerk an sich, sondern dessen Produktion im Zeichen des Einklangs, des Beifalls und des Abgleichs.

Das Problem ist der Algorithmus, der die Wahl, die sich schon immer dem Eigenen zuneigte, optimiert. Je mehr Interaktion digital erfolgt, umso effektiver die Beseitigung des Zufalls. «User-friendliness is a terrible, terrible idea», sagt der Stadtsoziologe Richard Sennett mit Blick auf Facebooks Filterblasen. In seinem Essay «The fight for the city» (2019) setzt er auf den städtischen Raum als Schule der Komplexität, die Menschen hilft, gelassen zu sein, wenn sie «plötzlich eine schwarze Person oder einen Flüchtling auf der Strasse sehen». Der Rückzug aus dieser Herausforderung in den Komfort der Personalisierung, so Sennett, bewirke einen Grossteil der politischen Prob-leme, die wir gegenwärtig erfahren. Das Handy verstärkt, als Ausweitung der Komfortzone in den städtischen Raum, dieses Problem.

In den 1960er Jahren streunten manche Menschen ziellos durch die Stadt. Sie waren Teil einer Performance, die den Trott des Alltags durchbrechen und einen neuen Blick auf das mehr oder weniger bekannte Umfeld ermöglichen wollte; eine Politisierung der Geste des Flaneurs zum Akt der Bewusstwerdung. Das Konzept dieses Umherstreifens und Sich-Treiben-Lassens entwickelte Guy Debord 1956 in seiner «Theory of the Dérive», in der sich bereits die Gesellschaftskritik kundtat, die 1967 sein Manifest «The Society of the Spectacle» bestimmte. Das Dérive ist ein planloses Durchstreifen des öffentlichen Raumes in kleinen Gruppen oder auch allein. Es zielt auf die Zufallsbegegnung mit dem Raum und seinen Menschen, auf die Schaffung unkontrollierter Situationen, die eine Unterbrechung des Alltäglichen, Normalen, Normativen versprechen. Es war die Überführung des öffentlichen Raums in einen Ort revolutionärer Erfahrung, die Verbindung von Kunst und Leben.

Es erstaunt wenig, dass gerade in einer Zeit, da sich die mobilen Medien zunehmend zwischen die Begegnung der Menschen mit dem Raum und miteinander schieben, die politische Philosophie verstärkt den öffentlichen Raum entdeckt. So ist die «Politik der Strasse» bei Judith Butler das Stichwort einer «performativen Theorie der Versammlung», die das politische Potenzial physischer Präsenz im öffentlichen Raum untersucht. Dabei geht es nicht nur um Demonstrationen, Parkbesetzungen und Strassenkämpfe. Es geht auch um die unmittelbare Begegnung, die der öffentliche Raum bereithält, es geht um die unkontrollierten Energien, die er erzeugen kann. Denn das Glück des Öffentlichen ist eine Dimension menschlicher Existenz, die sich dem Subjekt erschliesst, wenn es mit anderen interagiert.

Letztlich geht es um die Wahrnehmung der Realität jenseits der Kommunikationsbedingungen des Digitalen. Auf der Ebene der politischen Symbolik ist das Smartphone in der Hand der Passanten die Abwehr des Dérive. Das Smartphone ist – selbst wenn sich damit gelegentlich Menschen zu politischen Aktionen verabreden – der Blitzableiter öffentlicher Energien. Es sei denn, man installiert die Dérive-App von Eduardo Cachucho and Babak Fakhamzadeh auf dem Gerät und folgt der Anweisung, die auf dem Bildschirm erscheint: «Find shade», «Take a seat in a park», «Follow a mini-bus taxi» – oder dem weissen Kaninchen. Vielleicht ist es das, was uns wirklich ärgert, wenn ein Mensch am Handy uns ausweicht ohne aufzuschauen, wann immer wir uns ihm trotzig und hoffnungsvoll in den Weg stellen: Dieser leichtfertige Verzicht auf einen abgrundtiefreichen Möglichkeitsraum.

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler. Er wohnte einige Zeit in Basel und pendelt nun zwischen Rio und Berlin. Sein neues Buch «Sozialmaschine Facebook. Dialog über das politisch Unverbindliche» (in Zusammenarbeit mit Ramón Reichert) erscheint im Frühjahr beim Verlag Matthes & Seitz. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus seiner Essaysammlung «Death Algorithm and Other Digital Dilemma», die im Dezember 2018 bei MIT Press erschien.

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