Das Schiff, in der Saison eine Touristenfähre, war beinahe leer. Wir, keine Handvoll Passagiere, sassen in grosszügigen Abständen voneinander entfernt im Unterdeck, das angenehm, nicht zu sehr, geheizt war. Es kamen keine lästigen Durchsagen über das Bordmikrofon, wo man hinfahre, was man sehen werde, wie die Inseln beschaffen seien, nichts davon; es war alles klar. Kultur, Geologie, Geschichte, Kunst ist letzten Endes immer nur Zeug für Touristen und solche, die sich nicht eingestehen wollen, welche zu sein. – Einem bündigen Knistern und fast zärtlichen Knacken folgt lediglich die kurze, irgendwie müde, aber aller-sachlichste Bekanntgabe des Inselnamens und dazugehörigen Hafenortes, an dem in Bälde angelegt wird.

Wir alle sind ignorant, nur das müssen wir irgendwann wissen; oder eben nicht, aber dann erst recht.

Ich schrieb irgendwas auf den Zettel, der auch mein Billet war, weil ich gehört hatte, dass die Handschrift verkümmerte, mehr noch, abhanden komme; man das Mit-Der-Hand-Schreiben schlichtweg verlernte… Aber wer schreibt denn überhaupt noch mit der Hand im Alltag?, ausser die eigene Unterschrift; das Datum maximal und den Ort, wenn nicht gegeben. Weil ich nicht weiter weiss, was ich noch schreiben soll neben dieser Raum/Zeit/Namen Trinität, beginne ich das Billet abzuschreiben, bis es sich auf der Hinterseite gespiegelt wiederfindet.

Ein Typ Lolita Mädchen, hochgewachsen, blonde Haare bis zur Hüfte, Sonnenbrillen mit rosaroten Gläsern, zu beiden Seiten aufgeschwungen wie Vogelwimpern, earpods; eine, die sich nicht die Zeit mit Kreuzworträtsel vertreibt, schaut das erste Mal auf aus ihrer Pose, die ihre Person ist, und geht plötzlich stracks nach draussen ans Heck. – Ich warte ein wenig, dann gehe ich nachsehen; was gibt es dort? Wind und Motorentosen, ein saufarbener Himmel. Sie steht da und macht Fotos: Ein Rudel Delfine folgt uns hüpfend, wie vor Glück, wohl um sich im Wirbelwasser zu bespassen, welches in bizarren Schaumkronen fortlaufend zerstiebt. Ich sage nichts, schaue aber bald wieder hineinzugehen, nachdem die Flipper verschwunden sind, um nicht aufdringlich zu wirken. Dann, ein ordentlicher Knall. – Fucking Hell! – Noch ein anderer Passagier war, ohne dass ich es gewahrte, nach hinten ans Heck gekommen. Er wollte anscheinend über die rückläufigen Stiegen ans Oberdeck und ist dann mit dem Kopf gerade dort angerannt, wo ein Schild mit «Attenzione alla testa // Watch your head» angebracht war. Er wollte jaulen, das sah man, verkniff es sich aber, biss die Zähne auf die Zähne; krümmte sich und wankte zugleich von einem Bein aufs andere.

Ich hatte ihn gleich zu Anfang bemerkt, wie er vorige Station zugestiegen war. Er hatte die Haare zu einem engen Zopf gebunden, trug ein basecap, Bart, grosse dicke Sonnenbrille, ein graues Sweatshirt und einen austauschbaren schwarzen Kapuzenpullover darüber – also verdächtig normal und extra anonym, wie in der Öffentlichkeit getarnte Promis, die offensichtlich unerkannt bleiben wollten und dabei immer genau so aussehen. Klarerweise stellte sich bald heraus, dass er ein relativ bekannter amerikanischer Schauspieler war. – Ich liebe im Ausland allein-reisende Amerikaner, dafür gibt es unendlich viele Gründe. Zum Beispiel, dass sie aufmerksam sind, und bedächtig und gebildeter als ihr Klischee und alles ehrlich super finden, aber auf eine einfache Weise, die sich nur aus komplexen Gefühlen ergibt.

Zusammen mit Lolita, die sofort und cool reagierte, brachten wir ihn hilfeleistend zu seinem Platz. Ich fragte ihn Fragen, wie ich das von Rettungskräften gehört hatte. Wie heissen Sie, Was machen Sie, Wie alt sind Sie, Ist Ihnen schwindlig, Haben Sie getrunken? Die letzte Frage war sicherlich indiskret unangemessen, er verneinte lässig. Vielleicht glaubte er, ich wäre Arzt oder so. Ein gescheiter Blutfaden rann ihm kerzengerade vom Schädel, teilte die Stirn, floh über die Nase, von wo es abtropfte. Ich glaube aber, es sah schlimmer aus, als es war. – Lolita kam gleich mit Verbandszeug, Desinfektionsmittel, einer Flasche Wasser und einer Flasche Vodka. Eiswürfel gab es keine. Sie hatte sichtlich alles im Griff; verpflegte den Verletzten so sorgfältig und professionell wie ich es so nur aus Filmen kannte.

Bald sassen wir also beieinander, quatschten und tranken aus der Flasche. Einmal begab sich der Kapitän zu uns herab, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei; alles in Ordnung; und dann: Ob wir nicht ein paar Gläser wollten aus der Bar? Lolita bedankte sich, ihm unumwunden die Flasche hinreichend, er huschte aber doch zur Bar, kam mit einem Glas zurück, schenkte sich rührig ein, prostete uns zu, salute, salute, salute, und musste dann auch wieder. – Lolita fragte, ob wir Musik hören wollten. Wir bejahten, eher unmotiviert. Es spielte Musik, die man wirklich am besten aus Handys hört, irgendwie dreckige, einfältige und direkte, schon fast vergessene, aus irgendeiner Jugend- oder Vorjugendzeit, etwas das man gleichsam nicht abstreifen kann; klebrig im Inhalt, perfekt in der blechern-scheppernden Form der miesen Lautsprecher.

Ich war schon wärmlich beflügelt und an der Reihe, am Zug, einen Zug aus der zügig leerer werdenden Flasche in mich hinabzugiessen, die jedesmal gluckerte beim Weitergeben, als hätte sie selber einen Durst. Dem Amerikaner schien es pro Schluck sogar klarer zu werden, er rekurrierte mittlerweile über dies und das und sogar darüber hinaus; immer zurückhaltend sympathisch, wie jemand, der zuhört, ohne unbedingt verstehen zu müssen, während er redet. – Er nervte mich irgendwie, seine Coolness war ein fader Abgang… nur wovon? Wie sich seine Persönlichkeit zusammensetzte war mir völlig schleierhaft, er tarnte sich scheinbar auch von innen, und anscheinend besser als von aussen wenigstens. Lolita war gewiss die brillanteste Rednerin; antwortete genau, ohne auszuführen, griff vor, rhythmisierte die Sequenzen durch alle Zweifel wegfegende Kritik, die sich auf etwas sehr Abstraktes wie «Humanismus» beziehen liess (besser kann ich es nicht bezeichnen), war dabei aber nie unkonkret, also immer zutreffend und anschaulich, aus dem Leben – für das Leben. Langsam interessierte es mich, ihre Augen unter der Brille zu sehen.

Die Musik brach ab, plötzlich, auf einmal, es gab kein Netz mehr. – Der Amerikaner holte sein Handy heraus, um dasselbe erfolglos zu probieren. Er war ein höfliches Aas und reichte es mir, kurz bevor er was eintippte, ich sollte etwas spielen. Als Hintergrundbild war ein Foto des Gemäldes «Der arme Prolet» von Carl Schlichtweg eingestellt. Das wunderte mich, aber spezifisch. Ich sprach ihn darauf an. Er holte aus. Der Biedermeier wäre seine absolute Lieblingsepoche der Malerei. Bereicherte die fadenscheinigen Argumente mit einigen belanglosen Bemerkungen. Lolita sagte nichts, sie war gerade aufgestanden, aber schon wieder da mit einer zweiten Flasche Vodka und ein paar Sandwiches. Ich erzählte von meinem Onkel, den ich hier nicht beim Namen nenne, während wir willig die Brote mampften, die ausgezeichnet, aber nach gar nichts schmeckten.

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