Das letzte Jahr sei ein ausserordentlich gutes gewesen für den Schweizer Tourismus, dementsprechend hoffnungsvoll sei man, dass die Schweizerinnen und Schweizer auch diesen Sommer im Land blieben. Woher die Tourismusbranche diese Hoffnung nimmt, ist fraglich. Bis auf einige wenige kleine schöne Regionen besteht die Schweiz zu einem grossen Teil aus dem Mittelland, das für seine Hässlichkeit bekannt ist. Genauso die Innerschweiz. Was die Innerschweiz vom Mittelland unterscheidet, ist, dass die Menschen dort denken, bei ihnen sei es schön. Eine Illusion, der sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Mittellandes wenigstens nicht hingeben.

Warum also hofft Schweiz Tourismus, dass sie in diesem Sommer, da die Grenzen, wenigstens zum nahen Ausland, wohl angenehm quarantänefrei sein werden, wieder so viel Anklang bei der hiesigen Bevölkerung finden werden? Weil die SchweizerInnen noch nie Berge gesehen haben? Oder etwa wegen der Gastfreundschaft? Nach über einem Jahr Ferien in der Schweiz muss ich das klar verneinen. Das Verhalten der Einheimischen gegenüber Auswärtigen scheint sich auf ein Phänomen zusammenzufassen: den Swiss Stare. Ein Begriff, der nicht von mir stammt, sondern von einem guten Freund, der unser Land vor über acht Jahren aus guten Gründen verlassen hat.

Die stärkste Ausprägung des Swiss Stare erlebte ich im Kanton Schwyz auf dem Mostelberg, welcher offiziell Tourismusgebiet ist. Denn der Mostelberg ist nicht nur Endstation des Stuckli-Rondo, der ersten Drehgondelbahn der WELT, sondern auch Ausgangsort des SKYWalk, der einst längsten Fussgängerhängebrücke Europas! Die Spaziergänge durch das architektonisch verschandelte Dörfchen waren geprägt von Fenstern, in denen sich die Vorhänge sofort schlossen, wenn der Blick darauf gerichtet wurde.
Es war mein erster Aufenthalt in der ländlichen Innerschweiz. Mein Freund, der behauptete, in diesem Gebiet bewanderter zu sein, versicherte mir, man müsse einfach freundlich grüssen. Und während er freundlich grüsste und die Einheimischen nie zurückgrüssten, sondern ihn mit dem Swiss Stare bestraften, beschloss ich, dass dies die angemessene Art ist, um sich auf dem Land einzufügen. Von da an grüsste ich nie wieder, sondern starrte die Person einfach an, als wäre ihr Körper von schrecklichen Geschwüren überwuchert, als würde ihr Kopf lichterloh brennen und als würde sie zusätzlich gerade in diesem Moment von einem UFO in den Himmel gezogen. Dazu wird der Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Das ist der Swiss Stare. Ob der wirklich beliebt ist bei TouristInnen, bezweifle ich. Vielleicht bei Fans von Edvard Munch.
Einer der schönsten Swiss Stares bekamen ich und meine Mitreisenden in Staffelbach, Kanton Aargau. Ja, auch im Aargau kann man Ferien machen! Und wenn man eine der wenigen Einheimischen, die sich im Freien aufhält und nicht zuhause vor dem Fernseher sitzt, nach einem schönen Ort in ihrem Dorf fragt, dann, nun ja, folgt ein ausgedehnter Swiss Stare. Wobei das dann irgendwie auch schon wieder härzig ist, denn die gute Frau wusste wohl einfach nicht, was man motivierten Ausflüglerinnen aus der Stadt so anbieten könnte. Um so schöner war denn auch ihr Tourismustipp: «Dört obe heds es Bänkli. Dört chönned Sii sitze.»

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Filmwissenschaften, Drehbuch und Literarisches Schreiben in Zürich, Ludwigsburg und Biel. Gründete 2013 zusammen mit dem Künstler Simon Krebs das Büro für Problem.

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