Das Tagebuchschreiben praktiziere ich unregelmässig. Normalerweise lese ich meine Einträge erst Jahre später. Vielleicht, um zu sehen, was ich ab wann eigentlich schon wusste, was ich alles verdrängte, wo ich zu viel oder zu wenig Optimismus im Blut hatte, wem oder was ich mehr Zeit hätte widmen können. Ich schreibe im Tagebuch alles so, wie ich es im Moment fühle und analysiere es nicht. Mein Anspruch beim Tagebuchschreiben ist nicht, dass es stimmt. Diese Texte hält nichts zusammen, ausser einem Ich. Diesem Ich kann man folgen.

(Michael Stauffer, 20.04.2016, Biel)
01.04.2016

Ein Idiot hat eine Sirene gestohlen und lässt sie um ca. 00.21 Uhr laufen. Vermutlich denkt der Idiot, dass das ein guter Aprilscherz sei. Vielleicht ist es auch kein Idiot, sondern eine normale technische Störung. Da ich im Zivilschutz eine steile Karriere hinter mich gebracht habe, schalte ich trotz der ungenügend langen Alarmierungsdauer das Radio ein. Man müsste wissen, ob die allfällige Katastrophenmeldung, zum Beispiel der marode Atommüllhaufen Mühleberg sei explodiert, ob so eine Meldung auf einer bestimmen Frequenz gesendet würde oder überall, und auch im Internetstream. Als ich endlich auf einem Schweizersender lande, gibt es dort eine schlechte Sendung über die besten Aprilscherze. Irgendwann kommt eine Meldung, es handle sich um einen Fehlalarm. Ein Umschalten auf die französischsprachigen Sender ergibt nichts. Die Romands nehmen Fehlalarme nicht ernst, das tun nur Deutschschweizer.

Ich ziehe mir mein Hologrammhalsband an

02.04.2016

Eine Linie kommt auf mich zu. Ich bücke mich, ich krümme mich, die Linie geht nicht weg. Ich lasse mich fast überfahren, weil ich wie gelähmt die Linie anschaue. Ich bewege mich nur noch mikroskopisch. Ich ziehe mir mein Hologrammhalsband an und bekomme einen neuen Kopf; ich sehe aus wie ein Polizist, die Linien gehen sofort weg, ich bin gerettet.

03.04.2016

Eine Bekannte schreibt mir: Falls ich Ende des Monats kein Geld mehr haben sollte, könne ich meinen Sohn nach Neuchatel an den See bringen. Sie arbeite dort in einem Eiswagen. Mein Sohn dürfe dort so lange Gratiseis essen, bis er Diabetes bekomme.

04.04.2016

Informationsabend der KITA. Die KITA geht vier Tage in ein Pfadiheim, die Kinder, die älter sind als zwei Jahre, können dort übernachten. Jeder KITA-Mitarbeiter stellt etwas vor. Paul das Haus. Das Haus ist ein Pfadiheim, es heisst Orion. Es hat dort viele Räume, es hat einen Wald hinter dem Haus und keinen Verkehr. Vanessa stellt das Wochenthema vor. Das Wochenthema heisst Essen. Man werde sich in der Vorbereitung noch weiter mit dem Thema beschäftigen und mit den Kindern zusammen kochen und auch auf den Bauernhof gehen, um zu sehen, woher das Gemüse komme. Es komme ja nicht nur aus der Migros. Der Vater von einem KITA-Kind, dessen Ehefrau in der Migros arbeitet, zuckt kurz zusammen. Laura erklärt, man nehme die Spielsachen aus der KITA mit, die Eltern sollen den Kindern keine Spielsachen mitgeben, diese könnten sonst verloren gehen oder beschädigt werden. Marion erklärt, dass es am Schluss ein Fest geben werde. Die KITA werde Salat und Brot machen. Wenn man etwas grillieren möchte, könne man das selber mitbringen. Und wenn man etwas trinken möchte, ebenso. Hat sie nicht gesagt, aber ich habe es gedacht. Eine Mutter sagt, sie werde ihre dreijährige Tochter auf jeden Fall anmelden, denn sie hänge ihr immer noch an der Brust herum. Schade sei nur, dass das KITA-Lager von Montag bis Donnerstag stattfinde, da sei ja keine einzige Diskothek geöffnet. Ich schlage vor, eine Liste zu machen mit Eltern, die in dieser Woche tanzen wollen. Ich würde in meinem Garten ein paar Lautsprecher aufstellen. Die KITA-Leiterin sagt dann noch, man möchte nicht, dass Eltern im nahegelegen Wald mit Ferngläsern herumschleichen oder nachts mit Taschenlampe rund ums Haus.

05.04.2016

Schon wieder ein Artikel für mehr Toleranz und gegen Vorverurteilung einer ganzen Religion. Ein anderer Artikel darüber, dass man präventiv ein paar verdächtige Konten sperren und von diesen aus Finanztransaktion zurückverfolgen sollte. Dann fände man doch sofort heraus, woher die Spenden für den Werbeetat dieser ISIS-Terrororganisation kämen, die mich an den KKK erinnert.

Deshalb wähle man zum Beispiel Trump, trete dem KKK bei oder melde sich bei ISIS

06.04.2016

In einem Artikel hat jetzt einer herausgefunden, warum man sich radikalisiert. Weil man sich von denen, die «oben» sind, nicht vertreten fühlt, sondern verarscht, verlacht, ausgeliefert. Deshalb wähle man zum Beispiel Trump, trete dem KKK bei oder melde sich bei ISIS. Ich weiss schon lange nicht mehr, wo «oben» und wo «unten» ist. Ich werde deswegen doch nicht radikal. Ich werde höchstens kreativ und schreibe ein ganzes Buch zum Thema «Das neue Oben war das alte Unten.» Und dann gehe ich damit auf TV-Tournee.

07.04.2016

Wegen einer astralen Unausgewogenheit des Universums hat mein Sohn entschieden, um 03.45 Uhr aufzustehen. Die Eltern, also ich und meine Partnerin, machen abwechselnd einen Tanz um das Kinderbettchen, bis der Sohn schliesslich wieder einschläft. In der zwischenzeitlichen Insomnie habe ich auf der SBB-App Fahrscheine gekauft. Alle mit dem falschen Datum. Ich werde SBB bitten, mir die Fahrscheine zu erstatten.
Am Morgen stehen die zwei Eltern gut gelaunt auf, sehen aber aus wie zwei Mumien. Das Mumiendasein wird durch einen Waldlauf beendet.

08.04.2016

Es war einmal eine Zwei, die ging spazieren. Da hatten alle Bäume Angst vor ihr und die Zwei sagte: Bäume, Bäume, ihr müsst keine Angst haben, ich bin nur die Zwei, Angst haben müsstet ihr vor meiner Schwester, ZweiZwei.
Die Bäume: Ja, die ist voll schlimm, die reisst uns immer alle Äste und Blätter ab und spuckt uns auf die Rinde wie verrückt.
Die Zwei: Ja, die ZweiZwei ist wirklich schlimm.

09.04.2016

Auf dem Markt versuche ich bei einem Pilzhändler einzukaufen, der alle vier Wochen wegen persönlicher Probleme seinen Bruder schickt. Die Champignons waren dunkelbraun, die Austernpilze waren schimmlig und klebten ineinander. Ich werde meinen schlechten Eindruck dem Verband Schweizer Pilzproduzenten mitteilen.

Ich sprenge mich in die Luft, also bin ich

10.04.2016

Schon wieder ein Artikel: Es handle sich um Identitätsterrorismus. Ich sprenge mich in die Luft, also bin ich, meinen die das? Ich verstehe es einfach nicht.

11.04.2016

Noch ein Artikel: Es gebe: 1. Sozialrevolutionären Terrorismus. 2. Ethnisch-nationalistischen Terrorismus. 3. Religiösen Terrorismus. 4. Mischformen davon.

12.04.2016

Ich melde mich beim Departement für Public Relations und Information des Islamischen Zentralrates der Schweiz (IZRS). Man sagt mir, ich solle das nicht tun, so etwas tue man nicht.
Man solle für alles Verständnis haben und tolerant bleiben und vor allem solle man nicht auf das gleiche Niveau sinken. Meine Befürchtung ist aber, dass man langsam, aber sicher auf das gleiche Niveau sinken muss, damit diese Brüder und Schwestern einen überhaupt wahrnehmen können. Es ist ja nicht so, dass ich gerne so rede.
Der Pressestellenstudent darf sagen (wörtlich zu hören auf einem Beitrag auf Soundcloud): «ISIS muss aus der islamischen Welt heraus zerstört werden, andere dürften sich nicht einmischen.»

13.04.2016

Trinke ein Bier in einer Latinobar in Biel. Ein etwa zweijähriges Kind rennt herum und schreit. Einer repariert die Tür. Zuerst klebt er Abdeckband auf die obere linke Ecke, dann zerknüllt er ein Taschentuch und befestigt dieses am Abdeckband. So soll die Tür, wenn sie zufällt, nicht jedes Mal die Gäste aus ihrem Wachkoma wecken. Der Vater mit dem Kind will nach Hause. Man hilft ihm, das verstummte zappelnde Kind in den Wagen zu binden. Die anderen Barbesucher, ca. 4, gehen mit der gleichen Selbstverständlichkeit in die Küche und hinter die Bar wie die Frau, die serviert. Sie sind traurig, reden leise, haben trainierte Oberarme und bis zehn Zentimeter über dem Bauchnabel durch Aufbaupräparate geformte Oberkörper. Der Rest der Körper ist schwabbelig. Ein Gast verlässt alle vier Minuten das Lokal. Einmal folge ich ihm, er verschwindet hinter einer Hausecke, kommt nach einer Minute zurück. Zum Rauchen war das zu kurz. Ich versuche herauszufinden, was hier genau läuft. Es erschliesst sich mir nicht.

Die kocht nur Fertigmenüs, die kann nichts

16.04.2016

Nachbarin über eine andere Nachbarin: «Die macht immer ein Riesenchaos in der Küche, die kann überhaupt nicht kochen. Die hat kein System, die kocht nur Fertigmenüs. Die kann nichts. Die lebt wirklich in einer völlig anderen Welt.»

17.04.2016

Einer meiner diversen Arbeitgeber schickt mir eine Hochglanzbroschüre, die ca. 150’000 CHF gekostet hat. Die Broschüre soll mich motivieren, mich mit etwas zu identifizieren. Ich lese: «Die Firma XY ist mehr als die Summe ihrer Disziplinen und Leistungsbereiche. Die Firma XY engagiert sich für einen verantwortungsvollen Umgang mit Mensch und Umwelt. Die Firma XY pflegt eine verbindliche und verbindende Führungs- und Betriebskultur.» Und so weiter. Ich fühle mich nach dem Durchlesen als Fremdkörper.

18.04.2016

Jemand hört auf und sagt: Vielen Dank für die vergangenen zwei Monate. Ich habe euch sehr gern kennengelernt und wünsche euch alles Gute! Ich freue mich, euch bei der einen oder anderen Gelegenheit wiederzusehen.
Sein Chef sagt: Er hat heute seinen letzten Arbeitstag. Es hat sich gezeigt, dass die Stelle nicht zu seinen Kompetenzen und Zielen passt. Wir bedauern, dass wir uns von ihm als einem geschätzten Mitarbeiter trennen müssen. Wir bedanken uns bei ihm für die geleistete Arbeit und wünschen ihm, dass er eine Stelle findet, die mit seinen Zielen und Wünschen übereinstimmt.
Die haben aber einen guten Kommunikationskurs besucht!

19.04.2016

Protokoll aus dem Restaurant um 22.00 Uhr. Unterprivilegierte Schweizer, die schon einiges getrunken haben.

A: Warum läuft es bei uns so schlecht?
B: Wegen der Ausländer?
A: Nein!
B: Wegen den Finanzen?
A: Nein!
B: Wegen der Politik?
A: Nein!
B: Jetzt weiss ich auch nichts mehr.
A: Es läuft so schlecht, weil wir Schweizer nicht sagen können «wir»! Und vor allem, wir sind nicht mehr bereit, für dieses «wir» zum Beispiel wirklich in den Krieg zu ziehen.
B: Wir haben keinen Teamgeist! Das siehst du ja auch beim Fussball.
A: Ich würde auch Ausländer in die Fussballmannschaft nehmen und denen Geld zahlen, damit die ordentlich sprinten. Ich muss auch jeden Tag malochen und krampfen wie ein Ochs. Wenn du ein paar fürs Rennen und Krampfen zahlst, dann kannst du sicher sein, dass die anderen dann auch mitziehen.
B: Schmarotzer und Schwarzgeld sind nicht schlecht. Schlecht ist doch nur, dass man darüber immer alles wissen will. Das ist schlecht.
A: Ich kann auch nichts dafür, wie ich bin. Ich konnte nie einfach machen, was ich wollte. Ich wurde regelmässig mit dem Lederriemen auf den Ranzen geschlagen, das hat mir nichts geschadet.

Katzen schnurren, wenn sie wissen, dass die Welt in Ordnung ist

20.04.2016

Ich streichle eine Katze. Sie schläft im selben Bett wie ich. Sie hört auf zu schnurren, sobald ich meine fahrige, müde Bewegung aussetze. Ich dämmere vor mich hin und überlege mir Theorien zum Schnurren der Katze. Katzen schnurren, wenn sie wissen, dass die Welt in Ordnung ist. Ich schnurrte dann zusammen mit der Katze. Es hat sehr gut funktioniert, wir haben in einer Paar-Autosuggestion alles herbei suggeriert, was wir zum Schlafen brauchten.

01.05.2016

Ausflug zu Freunden.

02.05.2016

Ausflug in den Tierpark in Bern.

03.05.2016

Ich fragte einen, um einen ganz, ganz einfachen Gefallen.
Seine Antwort war getränkt von einem Hass, den man ihm und seinem sonst so charmant grinsenden Gesichtlein nicht ansehen kann. Ein Hass, der von innen und aussen an ihm frisst. Wieso? Wozu? Ich war schockiert. Er tat mir Leid. Und dann wollte er noch essen gehen mit mir? Warum?

03.05.2016

Manuskriptarbeit. Habe den ganzen Tag gute Laune gehabt.

05.05.2016

Mail erhalten: Hallo Herr Stauffer
W. bat mich, folgende Datei zu übermitteln. Sie hat momentan arge Probleme mit ihrer Rechentechnik… Glücklicherweise nur mit der Technik, nicht mit den Daten. Ich hoffe, das Format ist lesbar. Wenn nicht, bitte mit entsprechender Vorgabe (pdf, doc) bei mir anfordern. Es geht bei Ws. Computer wohl um einen analogen Fehler (defektes Kabel). Letzte Woche hatte ich den Rechner zur Reparatur; habe ihn auch halb auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt.
Viele Grüsse C.

05.05.2016

Anfrage: Ob ich bei einem Projekt mitmachen wolle, in welchem es einen Text eines Autors gebe, der dann ein Kunstwerk eines Künstlers auslöse und dann noch mal einen Text eines anderen Autors oder umgekehrt. Man wolle das Potenzial des Zusammen- und Wechselspiels von Literatur und anderen Künsten beweisen. Man kann eine Beschreibung eines möglichen Beitrags schicken. Ich schreibe sofort zurück: «Ja ich will! Der Titel meines Beitrags heisst: ‹Ich lege ein Feuer›». Weiter schreibe ich, dass ich dank meiner multiplen Künstlerpersönlichkeiten das Wechselspiel von Literatur und anderen Künsten vollkommen autonom durchführen könne.

06.05.2016

Ich habe einen Mann gesehen mit einer grossen Heckenschere. Da stand drauf: WIR SCHNEIDEN DAS RADIO- UND FERNSEHPROGRAMM DES SCHWEIZER STAATSSENDERS KURZ UND KLEIN, WEIL WIR ANGST VOR DEM STIMMBÜRGER HABEN, DASS DIESER UNS, WENN WIR NICHT IM VORAUSEILENDEN GEHORSAM AUFFÄLLIG SPAREN, DIE KONZESSIONSGELDER WEGNEHMEN WIRD. Dieser Mann vom STAATSSENDER macht einen Denkfehler, wenn er das Angebot so zurechtstutzt. Der Unterschied zum nicht-zwangsfinanzierten Mainstream wird damit immer kleiner und die legitime Frage, ob es für so einen Mainstream, den man locker mit Werbung finanzieren kann, noch Geld brauche, immer logischer. Doesn’t he get it?

06.05.2016

Ich esse oft zu viel. Es macht mir nichts. Ich muss dann nur wieder rennen gehen. Dann ist’s gut.

07.05.2016

Im Zug gefunden. Eine Fotokopie eines Reisepasses von Frau Baneckgba Andui Gautilde aus der République du Congo, auf der Rückseite: Langenthal, Langenberg, Langendorf, Langenmaulwurfhügel, Langenhöhle, Langenkiste, Langenstadt, Langennest, Langenmuschel, Langenröhre, Langentunnel, Langenstern. Vermutlich eine Notiz aus einem kreativen Sprachkurs für Asylsuchende.

Meditation zu Ehren des Eros mit anschliessender gemeinsamer Masturbation

08.05.2016

Mein Freund Armin will ein postmodernes Sexkloster eröffnen. Er meint damit Meditation zu Ehren des Eros mit anschliessender gemeinsamer Masturbation. Aphrodisische Mahlzeiten, Erforschung der erogenen Zonen im Duo, Trio oder Quartett. Performative Massagen, Kuscheltier-Workshops, Vorträge, tanzende Peitschen, Apotheose, Verquickung, Höhepunkte, Kulminationen. Ob ich da reingehen würde? Ich frage Armin, ob er die Preise schon festgelegt hätte.

08.05.2016

Mail erhalten: Lieber Herr Stauffer
Wir hatten vor einigen Jahren schon einmal Kontakt, als Sie 2011 auf unserem Festival aufgetreten sind (eine Lesung, die sich, so höre ich immer wieder, auf ewig ins Legendengedächtnis der Stadt eingebrannt hat, auch wenn die meisten Menschen dieser Stadt längst den Rücken gekehrt haben). Heute möchte ich Sie für das Projekt «GIVE A DOG A NAME» anfragen.
«GIVE A DOG A NAME» ist ein Projekt, das spielerisch nach dem Erzählen in der Transparenzgesellschaft fragt.
Ein HUND wird gebeten, sein Alltagsleben mit einer Minikamera zu dokumentieren, die alle 30 Sekunden automatisch ein Foto schießt. Das Material wird anschliessend an einen Autor übergeben, der daraus einen Text machen soll. Wollen Sie das machen?

09.05.2016

Mail erhalten: Sehr geehrter Herr Stauffer
Ich habe Ihnen vor einigen Tagen geschrieben, jedoch vermisse ich bis heute eine Antwort. Ich habe nun einen Anwalt eingeschaltet. Der Anwalt wird Sie kontaktieren, weil Sie Ihre ehemalige Studentin W., motiviert haben, ein Buch zu veröffentlichen.
In diesem Buch behauptet W., mein Ehemann sei schizophren. Dies, zugegeben, ist wahr, allerdings behauptet W. auch, mein Ehemann habe mich verlassen wollen – und dies ist eine Lüge. Um diese Geschichte aus der Welt zu schaffen, habe ich den besten Anwalt Hamburgs engagiert. Dafür werde ich mein Haus verkaufen müssen. Herr Stauffer, seien Sie versichert: Es wird teuer. Sie hätten W. nie loben oder ermutigen dürfen.
Mit Gruss
S.

Du bist Schreinerin und wohnst in einem Schrank

10.05.2016

Du bist Schreinerin und versuchst allen einen Schrank zu verkaufen.
 Du bist Schreinerin und wohnst in einem Schrank.
 Du bist Schreinerin und Medium und kannst mit Geistern reden, alle deine Geister leben in einem Schrank.
 Du bist Schreinerin und hast eine Schwester, die keine Schreinerin ist und sie hat einen schlechten Geschmack, was Möbel angeht. Du bist Schreinerin und machst gerne Fesselspiele mit deinen wechselnden Freundinnen und Freunden. 
Du bist Schreinerin und hast deine Schwester mit deren Freund betrogen. Sie weiss es nicht. Sie versteht auch nicht, dass du es nur getan hast, weil sie hässliche Möbel gekauft hat.

11.05.2016

Zusammenfassung von direkter Demokratie? Eine Meinung, keine Ahnung.

12.05.2016

Es gibt diskrete Schläfer. Gegen sie muss man sich wappnen. Ich gründe das Fledermauskommissariat.

13.05.2016

Kinder gehen zur Schule, jedes Kind lernt nur einen Buchstaben und auch nur den Namen eines Baumes, dann verlassen die Kinder die Schule. Sie haben je ein Buch unter dem Arm und einen Baum im Kopf. Wäre das so viel schlechter als das aktuelle Bildungssystem?

14.05.2016

Ein Artikel darüber, dass die Amerikaner einen Grossteil des in bar gehorteten Staatshaushaltes der ISIS bombardiert und flambiert hätten. Sie hätten es schonend versucht: Zuerst liessen sie eine Rakete über dem Bargeldlager in sicherer Höhe detonieren. Dann warteten sie, bis alle rausgerannt waren, und versenkten anschliessend eine Rakete richtig gut im Bargeldlager.

Dies wäre eine gute Gelegenheit für eine Gehaltserhöhung

15.05.2016

Mail erhalten: Lieber Stauffer. 
Ich möchte Dich daran erinnern, dass ich morgen Geburtstag habe. Dies wäre eine gute Gelegenheit für eine Gehaltserhöhung.
Lieben Gruss
 W.

16.05.2016

Ich soll spenden. Dafür bekäme ich eine CD und einen mir ewig nachschleichenden Dank.

17.05.2016

Pädagogik I: Falte den Schüler zuerst zusammen, nimm ihn dann wieder auseinander und zerreisse ihn am Schluss in kleine Papierflöckchen.

Pädagogik II: Zeige dem Schüler alles, was dieser sehen will. Mach ihm nichts vor. Hilf ihm nur, wenn er fragt. Lass ihn ansonsten in Ruhe.

17.05.2016

Mein Nachbar hat immer noch Pflaster auf dem Kopf. Die Ecken der Pflaster haften nicht mehr so gut, sie ragen wie kleine Hörner in die Höhe.

18.05.2016

Interview zu einem aktuellen Text.

– Dramaturgie des Textes?
– Ich habe mir die Seitenzahl zuerst vorgeben.
– Der Bogen?
– Von dir zu mir! Im Idealfall.
– Das Buch in fünf Sätzen?
– Kein Problem! 1) Das Buch beginnt. 2) Dann kommt eine Drehbühne, auf der ein Mann mit Napoleonhut draufsteht, die Drehbühne dreht sich etwa siebenmal, man sieht immer wieder den Typen mit dem Napoleonhut, wie er versucht, sich erfolglos einen runter zu holen, bei der achten Umdrehung gibts auf der Bühne ein Feuerwerk, Explosionen und es klappt. 3) Es folgen ca. 234 Seiten weiterer Text. 4) Verschiedene Formen der Erzählung werden gezeigt. 5) Einer wird geköpft, fertig.

Ich hasse Ichbineinearmewurstganz

18.05.2016

Ich hasse Arroganz.
Ich hasse Egoganz und ich hasse Narzissoganz und ich hasse Darstellungsganz und ich hasse Ichbineinearmewurstganz. Das alles hindert die Menschen nur daran, dass es ein Zusammenganz geben kann.

18.05.2016

Ein befreundetes Paar denkt, sie seien Stars. Sie kaufen sich einen Geparden als Haustier. Sie werden drogensüchtig. Sie wollen eine Autobiografie schreiben, sie wollen sich verhaften lassen, sie wollen in einem Film mitspielen, sie wollen dauernd umziehen, sie wollen sich umbringen, sie kaufen eine Würgeschlange.

19.05.2016

Europas Werte? Welche? Deine Augen? Wie wir reden? Was wir denken?

19.05.2016

Traum von einer Hexe, die ihren Sohn verhexte, sodass er elend krank wurde, ohne dass ihm irgendjemand helfen konnte. Die Nachbarin der Hexe wurde schwanger. Die Hexe verhexte dann die Brüste der Nachbarin. Der Sohn der Nachbarin trank aus diesen Brüsten und starb. Ich weiss nicht, wieso die Hexe so aggressiv war. Ich habe versucht, sie anzusprechen und zu fragen, warum sie das alles macht. Sie mich angeschaut und gelacht, an ihrem Verhalten hat sie nichts verändert.

01.06.2016

Ex-Zurich-Chef: game over. Hat sich in seiner Ferienwohnung erschossen. Gemäss BLICK berichten Anwohner: «Solche Leute wollen hier oben einfach ihre Ruhe. Sie fahren vor, verschwinden in der Tiefgarage. Dann sieht man sie nicht mehr.»

01.06.2016

Spaziergang gemacht. Mein Hirn wird durch die Atmung beim Spazieren besser beeinflusst als durch den Ruhepuls im Sitzen.

02.06.2016

Nichts.

03.06.2016

Schlafe zu lang, die Sonne scheint mir in die Nasenlöcher.

04.06.2016

Ich bin gerne zweisprachig, man kann dann alles doppelt sagen und doppelt verstehen und doppelt glauben und doppelt lieben kann man auch.

Sei reich!

05.06.2016

Traum. Ein Anlageberater fragt mich: «Mit Worten kann man Geld verdienen?»
«Ja, Worte machen reich», sage ich und schlage ihm vor, dass ich für ihn arbeite und Anlageberatungen für Worte durchführe. Ich stehe auf und gehe zur Flipchart, die in einer Ecke steht. Ich zeichne vier Diagramme in vier verschiedenen Farben, schreibe alles auf Englisch an, male Pfeile in alle Richtungen, mache vor der Flipchart stehend dirigentenhafte Handbewegungen und schaue dem Anlageberater immer wieder in die Augen. Dann mache ich eine kurze Pause und sage: «Mein Modell ist viel einfacher, als es auf den ersten Blick aussieht», streiche die vier Diagramme eins nach dem anderen durch, blättere die Seite um und schreibe auf das weisse Blatt: «Sei reich!»

06.06.2016

Nichts.

07.06.2016

Nichts.

08.06.2016

Nichts.

09.06.2016

Ich lege Karten. Die Karten sagen:
Ich bin jetzt bereit für einen neuen Zyklus.
Ich folge nur noch meiner Inspiration und meinen Bildern.
Ich bin in vollem Austausch mit der Aussenwelt.
Ich muss in der Freude entspannt sein, ich muss Energie kanalisieren und in der Nase bohren.
Ich bin im vollsten Besitz meiner kreativen und gestalterischen Potenz.
Ich habe die Sonne um mich. Ich habe Geld, es läuft bestens.
Das Geld darf nicht isoliert vom Rest des Lebens bleiben.
Ich kann ein neues System schaffen.
Ich kann ins System hineingehen und dessen Chef werden. (Demokratie)
Ich kann mich vollkommen aus dem System zurückziehen. (Romantik)
Ich kann die Massen im System manipulieren. (Faschismus)

10.06.2016

Es war einmal ein Mann, der kam besoffen nach Hause. Er hat auf dem Nachhauseweg beim Nachbar ein Büschel Blumen aus dem Garten gestohlen. Seit diesem Tag heissen diese Blumen «Betrunkener-Mann-Blumen» (lat. Flores ebriaci).

11.06.2016

Ich kenne die wesentlichen Fragen alle. Ich weiss aber keine einzige verdammte Antwort.

11.06.2016

Sprayernamen am Bahnhof Oerlikon: Gano, Rees, Sofe, Cesa, Etas. Bevor der Zug im Tunnel verschwindet, sehe ich noch 500 Quadratmeter jungfräulichen Beton.

Dann macht die Pflaume einen Flyer und schafft es, viermal ihren Namen auf dem Flyer zu platzieren

11.06.2016

Pflaumenkunde. Eine Pflaume unterrichtet an einer Hochschule Pflaumenkunde. Dann macht die Pflaume eine Festival für Pflaumenkunde und lädt sich selber und ein paar andere Pflaumen als Referenten ein. Den Studenten von der Hochschule sagt die Pflaume dann, ihr dürft auch an meinem Festival auftreten und ich moderiere euch. Dann macht die Pflaume einen Flyer und schafft es, viermal ihren Namen auf dem Flyer zu platzieren. Danach kommt ein Sturm und alle Pflaumen fallen vom Baum und verfaulen auf dem Boden.

11.06.2016

Eine Idee gehabt für ein Algorithmus-Gedicht. Weil mir Wörterbuch- und andere akademisch verquirlte Lyrik so gewaltig auf den Zeiger geht, dass ich denke, man muss das Gedicht retten vor der Vereinnahmung durch diese Sprachzerstörer.

12.06.2016

Frühstück mit den Eltern. Vater: «Der Zopf ist zu tangglig». Ein «Tanggu» ist ein Stück von etwas, das nicht genügend durchgekocht oder durchgebacken ist. Es gibt zum Beispiel einen grossen «Tanggu», wenn man Brotteig zu wenig bäckt oder wenn man Spaghetti 20 Minuten lang kocht. Dann schneide ich gemäss meinem Vater falsch Butter ab, gebe gemäss meinem Vater eine zu komplizierte Antwort auf eine Frage. Bald fährt zum Glück mein Zug.

12.06.2016

Lust = Lösung von Spannung.

Lösung = Lust von Spannung.

Spannung = von Lust Lösung.

Jede Gleichung findet ihren Idioten.

13.06.2016

Ich trete nach langen Jahren der Mitgliedschaft aus einem Verein aus.

14.06.2016

Eine Mitarbeiterin will Lohnerhöhung. Dort, wo sie lebt, sind die Lebenskosten 27% tiefer als dort, wo ich ihren Lohn ja zuerst selber verdienen muss, bevor ich ihn auszahlen kann.

14.06.2016

In der Sauna erklärt einer seine aktuelle Diät. Es gehe darum, innere Fettschichten abzubauen. Und er habe nach dem ersten Tag Kopfweh, das sei ein gutes Zeichen.

15.06.2016

Kalter Rücken, ich rolle mich zusammen wie eine Katze. Wenn ich eine Katze wäre, könnte ich mich mit diesem Zusammenrollen nicht in einen glücklichen Katzenrollzustand bringen.

15.06.2016

Eine rationale Person ist eine Person, die alles logisch miteinander verknüpfen kann und Begründungen liefert, die nicht auf Wahnvorstellungen basieren, kurz: Eine rationale Person ist jemand, der nicht verrückt ist. Jeder, der also behauptet, sein Verhalten, sagen wir: sein Geschäftsverhalten oder sein Sozialverhalten oder sein Verhalten als Chefin basiere auf realen Kriterien, sagt gleichzeitig, dass jeder, der dagegen etwas sagt, verrückt sei. Ich sage trotzdem: Solange ich Kunst machen kann, geht das nur völlig irrational unbegründbar und schon gar nicht in einem hierarchisch geordneten Sanktionszirkus.

So konnte der Dichter ganz knapp von seiner Arbeit leben

16.06.2016

Es gibt ein Dorf, in welchem zuerst die Hälfte aller Einwohner Dichter waren, die andere Hälfte Leser. Andere Berufe gab es nicht. Jedes Jahr erschien ein Buch mit allen Texten von allen Dichtern. Die Leser lasen alle Texte von allen, die Dichter waren. Alle zwei Jahre konnte jeder entscheiden, ob er Dichter oder Leser sein wollte. Nach zehn Jahren hatte sich 99.999 % der Einwohner entschieden, nur noch Leser zu sein. Das Dorf hatte dann 9’999 Leser und einen Dichter. So konnte der Dichter ganz knapp von seiner Arbeit leben und gelesen wurde er auch noch.

17.06.2016

Heute total nicht im Einklang mit dem Rest der Welt. Warum? Weil ich wieder eine Evaluationsüberdosis abbekommen habe. ALLES, was man in eine Excel-Tabelle eingeben kann und wo hinten dann ein Vierteljahresbericht oder Jahresbericht mit schönen Diagrammen rauskommt, ist gut. Alles, was man nicht erfassen kann, ist schlecht, respektive alles, was nicht evaluiert wurde, gibt es gar nicht.

18.06.2016

Mail geschickt: Sehr geehrte Frau WX. Dürfte ich Sie bitten, die folgende Mail an Herrn YZ weiterzuleiten. Es gelingt mir nicht, ihn zu erreichen. Urlaub? Riesenprojekt? Verunfallt? Hoffentlich nichts Schlimmes?

Mail zurück von Herrn YZ:

Lieber Michael
Tut mir sehr leid. Zwischen Riesenprojekten und Riesenabteilungsumbauten usw. Pipapo bin ich zu nix Vernünftigem gekommen.
Schöne Grüße

YZ

19.06.2016

Mail erhalten:

Sehr geehrter Herr Stauffer
Per Verfügung vom XX.XX.2013 wurde Ihnen ein Projektbeitrag von CHF XXXX.- an das Roman-Projekt «XXXX» zugesichert. Am XX.XX.2013 wurde Ihnen dieser Beitrag überwiesen. In der Verfügung haben wir Sie aufgefordert, uns bis Ende Juni 2014 einen kurzen Bericht über die Realisierung des Projektes zuzustellen.Da wir die Unterlagen (Bericht) jedoch bis heute nicht erhalten haben, bitte ich Sie nun, uns diese bis Ende Juni 2016 vorzulegen. Zum Abschluss Ihres Dossiers benötigen wir die Unterlagen und behalten uns vor, Ihr neues Gesuch mit der Dossier-Nummer XXXX.XXX-XXX.X/2016 erst zu bearbeiten, wenn das alte Dossier mit der Nummer XXXX.XXX-XXX.X/2013 abgeschlossen ist.

Antwort-Mail geschrieben:

Sehr geehrte Frau XXXX
Der Schlussbericht für das Dossier Nr.: XXXX.XXX-XXX.X/2013 muss irgendwo untergegangen sein. Das tut mir sehr leid. Es ist jedoch alles nach Plan verlaufen. Das Buch konnte u. a. dank Ihres Beitrages fertiggestellt werden. Das Buch erschien unter dem Titel «XXXX». Ich habe Ihnen gesondert noch die Infos des Verlages als PDF angehängt.

Sofort Mail erhalten:

Sehr geehrter Herr Stauffer
Vielen Dank für diese Dokumente.
Jetzt können wir deshalb Ihr neues Gesuch (Dossier-Nummer XXXX.XXX-XXX.X/2016) bearbeiten.

19.06.2016

Wenn man über diesen und anderen Bürokratiewahnsinn sprechen möchte, bekommt man immer gleich Ohrfeigen von links. Warum? Weil die Linken die Bürokratie völlig geblendet verteidigen, egal, ob diese beispielsweise mit der Finanzindustrie, der Gesundheitsindustrie oder der Versicherungsindustrie zusammenarbeitet. Wenn ein Linker dennoch etwas gegen die Bürokratie sagen will, muss er, weil er keine eigene Position haben darf, eine völlig verwässerte und umformulierte Rechtsposition übernehmen. Die Linken schmusen mit dem Markt und der Bürokratie gleichzeitig, die Liberalen üben wenigstens noch ein bisschen Kritik an der Bürokratie aus und die Rechtsfaschisten wollen, dass alle sozialen Errungenschaften nur den Inländern oder ihren «favorisierten ethnischen Gruppen» zugutekommen. Viel Spass.

Michael Stauffer ist Schriftsteller. www.dichterstauffer.ch

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