Der Soundtrack der 80er-Bewegung? «Züri brännt» und «Razzia» von TNT, klar, «Züri Punx» von Sperma, Stücke von Kleenex/Liliput, den Bucks, Mother’s Ruin und anderen mehr. Aber es gibt auch «Zurich» von Jim Page, in dem der US-Folksänger vom Aufruhr der Jugend über Wasserwerfer und Gummigeschosse, «Anarchie auf den Strassen aus Gold» bis zum Autonomen Jugendzentrum AJZ sehr genau die Stimmung und Ereignisse jener Tage beschreibt. Das Folgende ist die Geschichte eines Songs, den fast niemand kennt, und die seines Komponisten.

Jim Page, Jahrgang 1949, wuchs in der Bay Area in Kalifornien auf. «Ich war ein Kid aus dem Mittelstand», betont er im Gespräch. Aber ein Kid, das sich fortan immer entlang der Gegenkulturen bewegte. Nach dem Schulabschluss kam er 1967 mitten hinein in die Flower-Power-Hochblüte und begann sogleich, mit der akustischen Gitarre aufzutreten: «Gruppen wie Jefferson Airplane oder Grateful Dead hatten ja auch Wurzeln im Folk. Doch ich konnte mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, einer Band beizutreten.» Also spielte er alleine – an Protesten gegen den Vietnamkrieg und auf den Uni-Campus. «An den Universitäten gab es viele aktive Studentengruppen – Anti War, Black Student Union, Chicano Students, Native Americans und so weiter – und ich ging zu all den Treffen, Reden und Diskussionen. Das war meine politische Bildung.»

Daneben war er als Strassenmusiker unterwegs: «Ich habe sehr schnell gelernt, dass die Leute zuhören, wenn man über sie singt. Und ich habe geschaut, dass ich jede Woche mindestens ein neues Lied hatte. Je mehr ich sang, desto mehr lernte ich. Was als eine Überlebenstechnik begann, wurde zu einem Lebenswerk.»

1971 zog Page nach Seattle, wo er bis heute lebt. Er setzte sich aktiv für die Rechte von Strassenmusikerinnen ein, arbeitete mit der Black Panther Party und nahm 1975 sein erstes Album «A Shot of the Usual» auf. 1977 folgte die Einladung ans Cambridge Folk Festival und die erste Reise nach Europa. «In England ging da gerade Punk los. Auch wenn ich andere Musik machte, konnte ich den Antrieb dahinter sofort verstehen und fühlte mich ihm verbunden.» Daneben engagierte sich Page weiter für die Rechte der Native Americans und schrieb den «Song for Leonard Peltier» über den Aktivisten des American Indian Movement, der 1977 in den USA wegen Mordes an zwei FBI-Beamten zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und seither im Gefängnis sitzt. «Der Song zirkulierte auf Kassette im ganzen Indian Movement. Auf einer Tour bin ich dann in Europa mehr zufällig Floyd Westerman über den Weg gelaufen, dem Dakota-Sioux-Sänger», erzählt Page. «Ein Juwel von einem Mann mit einer Stimme wie Johnny Cash. Fortan haben wir oft Doppel-Konzerte gegeben.» Westerman starb 2007. Davor hatte er nach dem Film «Dancing with Wolves», in dem er den Häuptling Ten Bears spielte, noch eine erfolgreiche Zweitkarriere als Schauspieler gestartet. Zusammen mit Westerman sei er dann auch erstmals in der Schweiz aufgetreten, sagt Page. An die einzelnen Konzertorte könne er sich leider nicht mehr im Detail erinnern, er sei damals ständig auf Tour gewesen. Geblieben sind ihm aber die persönlichen Begegnungen: «Viele der Konzerte wurden von der Schweizer NGO Incomindios organisiert, die sich für die indigenen Völker einsetzt.» Besonders engagiert sei eine junge Kunststudentin namens Anna gewesen, die ihn regelmässig für Auftritte gebucht habe. «Sie und ihre Freunde waren alle intelligent, künstlerisch und politisch sehr aktiv. Einmal sagte sie zu mir: ‹Eigentlich bin ich eine Anarchistin!› Das entsprach mir, ich mochte diese politische Energie.» Dann kam der 30. Mai 1980 in Zürich. Page erfuhr vom Opernhauskrawall durch die US-Medien. «Es war auf den Titelseiten, auch der Aufmacher in den Fernsehnachrichten. Zürich ist die Stadt, wo die Banken sind, und alle Wirtschaftskreise wurden deswegen nervös. Die vorherrschende Meinung aber war, dass die jungen Leute plötzlich verrückt geworden seien, dass sie grundlos auf die Strasse gegangen waren. Ich war damals erfahren genug, um zu wissen, dass solche Dinge nicht ohne Grund passieren.» Kurz darauf, Ende Juli 1980, war Jim Page für einen Auftritt am Folk Festival in Nyon, dem Vorläufer des heutigen Paléo Festivals, wieder in der Schweiz. «Ich habe dann Anna und ihre Freunde angerufen und gesagt: Ich will für ein paar Tage nach Zürich kommen und mehr über diese Bewegung erfahren.» Anna und ihre Freundinnen hätten ihm in Zürich die Bahnhofstrasse gezeigt – «sie nannten diese ironisch ‹the most beautiful street in the world›, was ich im Song aufgriff» –, aber auch die anderen, alternativen Orte. «In Erinnerung geblieben ist mir eine Versammlung in einem grossen Saal (wohl das Volkshaus, Anm. d. Autors). Da sassen Politiker­innen und Politiker auf der Bühne und erklärten den dicht gedrängten Jugendlichen, dass sie eigentlich kein Verständnis für ihre Anliegen hatten. Es war ein Paradeschauspiel einer verlogenen Politik. Irgendwann haben die neben mir dann kleine Sachen auf die Bühne geschmissen, ich glaube, das war Katzenstreu.»

Dieser Aufenthalt und die Ereignisse des Sommers 1980 und danach inspirierten Page zum Song «Zurich». «Ich habe die Leute in Zürich gefragt, ob es okay sei, wenn ich darüber singen würde. Und sie haben sofort Ja gesagt.» Sie hätten ihm später dann auch ein Buch über die Bewegung geschickt, voll mit handschriftlichen Notizen und Übersetzungen. «Auf dem Cover war eine Uhr, die mit einem Pflasterstein zerstört worden war – ein eindrückliches Bild.» («Zürcher Bewegung», Verlag ohne Zukunft, Anm. d. Autors.)


«Zurich» paart die aufwühlenden Ereignisse im Text mit sanften Akkorden auf der akustischen Gitarre. «Ich wollte bewusst eine Ballade schreiben», sagt Page, «eine Melodie wie für ein Liebeslied, die im Kontrast zur Schärfe des Textes steht.» Beim Schreiben habe er daran gedacht, «dass das, was die Menschen in Zürich und auch anderswo wollten und brauchten, eine Realität war, die nicht geleugnet werden konnte». Etwa sechs Jahre lang habe er «Zurich» regelmässig an Konzerten gespielt, aber nie auf Platte aufgenommen. Doch der Song nahm auch noch einen zweiten Weg…

Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre war Page oft in Irland auf Tour und freundete sich dort mit dem Sänger Christy Moore an, der mit der Band Planxty und als Solo-Künstler zu einem der Grossen der irischen Musik wurde. Als Moores kurzeitiges Bandprojekt Moving Hearts 1981 ihre erste Single veröffentlichten, war dies «Hiroshima Nagasaki Russian Roulette», ein Anti-Atomkrieg-Stück, das Page 1976 geschrieben hatte. «Christy gefiel auch ‹Zurich›, vor allem sprach ihn die letzte Zeile ‹that’s the way it was explained to me in Zurich› an. Er lud mich nach Belfast ein, um dort Lieder mit ähnlichem Inhalt über die Proteste und die Troubles zu schreiben.»

Moore spielte auch Pages Song. Bei ihm heisst er «In Zurich», hat einen leicht geänderten Text und eine angriffigere Tonalität. Zu finden ist er auf der Anthologie «The Box Set 1964–2004», wo er lange die einzige verfügbare Aufnahme blieb. Bis jetzt. «Ich wollte das Lied schon lange noch einmal machen», sagt Page, «aber ich geriet immer wieder in dieselben Sackgassen, was das Arrangement betraf. Dann habe ich die Anfrage für unser Gespräch bekommen und dachte, okay, jemand ausser mir mag den Song immer noch, also werde ich das in Ordnung bringen. Ich habe mich hingesetzt und daran herumgespielt, die Akkordstimmen geändert und einen Instrumentalabschnitt eingefügt. Meine Frau Katy hat spontan Backing-Vocals dazu gesungen. Das war sehr befriedigend.»

«Zurich» in der Version von Jim Page ist deshalb nach 40 Jahren erstmals als Aufnahme hörbar: auf seiner Soundcloud-Seite (/folkpunch/zurich) oder in der Internet-Ausgabe der Fabrikzeitung. Zu Zürich habe er leider den Kontakt verloren, sagt Page. «Aber ich würde diese Menschen sehr gerne einmal wiedersehen. Für mich war es eine wunderbare Zeit. Überall, wo man hinging, war viel los. Es schien, als stünden grosse Veränderungen vor der Tür.»


Lyrics «Zurich»

you meet out on the midnight street
underneath the lamplight bright
outside the diamond jewelry windows
dazzling your sight tonight
and something in the blood that pounds
echoes in the hollow sound
and it all comes tumbling down
in Zurich

it’s taught among the rules of school
that all that glitters must be gold
and those who would not play the fool
must follow in the social mold
oh but the well to do
beautiful people in public view
ain’t got time for the likes of you
in Zurich

it all begins one morning fine
when the government money comes to town
a fortune goes to the opera
but not a penny trickles down
to the youth center in the middle of town
gonna have to close it down
can’t afford to have you hangin’ ‘round
in Zurich

all in a shattering instant then
upon that well remembered night
in a sudden clash with bricks and bottles
comes a most surprising sight
as fired with a smoldering heat
five thousand angry rebels meet
and break every window on that most beautiful street
in Zurich

anarchy on streets of gold
lights a-flashing, sirens wail
frightened eyes behind the windows
watch the young ones off to jail
soldiers in their shouldered ranks
armed with water canon tanks
and rubber bullets to protect the banks
of Zurich

battle lines are clearly drawn
to show which side you’re standing on
those who sympathize in kind
wake up to find their jobs are gone
speaking up and speaking out
depends on what you talk about
the real right is coming out
in Zurich

how can such a trouble be
is this the writing on the wall
the pillars of society
give a very anxious call
and orderly they call for peace
discipline to say the least
what we need is more police
in Zurich

from the gardens of Geneva
to the flowered streets of Amsterdam
inside the walls of West Berlin
trouble passes hand to hand
in among these times that be
no future do they see
that’s the way it was explained to me
in Zurich

Philipp Anz ist Journalist in Zürich. Er war Mitherausgeber des Buchs «Schmieren/Kleben» und gehört zum Redaktionsteam der anstehenden Buch-Veröffentlichung zum 40. Geburtstag der Roten Fabrik.
Jim Page gibt heute noch regelmässig Konzerte in Seattle und überträgt diese auch auf Facebook unter «Seattle Jim Page». Weitere Infos: www.jimpage.net

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