Ich habe Smalltalk nie besonders geschätzt. Zuweilen habe ich es als Zumutung empfunden, wenn ich bachnass geschwitzt irgendwo Schlange stand und sich dann jemand zu mir gesellte: «Ist noch warm hier drin, hä?» Wenn mir an einem Anlass ein Namensschild ausgehändigt wurde, welches mein T-Shirt mit «Manuel J. Amstutz; Zürich / ZH» zierte, und mich dann jemand mit: «Hoi Manuel, und von wo bist du?» begrüsste, habe ich meist einfach Richtung «Zürich / ZH» gezeigt. Dies lässt die Vermutung laut werden, dass auch mit meinen eigenen Fähigkeiten bezüglich Smalltalk nicht alles zum Besten stand.

Ich habe mir mit fortschreitendem Alter und steigender Anzahl besuchter Stehparties zwar abgewöhnt, die Augen zu verdrehen und aufs Namensschild zu zeigen, aber einfacher ist es trotzdem nicht geworden für mich: Der gesunde Menschenverstand verlangt von uns, den Versuch zu unterlassen, Religion und Politik in den Smalltalk zu integrieren – auch Knigge zählt diese beiden Komplexe nicht zu den klassischen Eröffnungen. Allerdings kommt die Frage nach meiner Beschäftigung unweigerlich auf, welche ich dann wahrheitsgemäss mit: «Ich studiere Theologie und möchte Pfarrer werden.» beantworten muss. An diesem Punkt ist die Situation mehrheitlich schon hoffnungslos verloren. Folgendes kleines Florilegium möchte helfen, meine Lieblingsreaktionen des Gegenübers idealtypisch zu untermalen: «Ach, du bist auch Christ. Komm doch mal zu uns in die Freikirche XY. Wir reden immer am Sonntagabend in Zungen.» Oder «Aber der dialektische Materialismus besagt, dass das alles eine anthropomorphe Projektion ist.» Oder «Weisst du, ich mache Tofu und esse Yoga und bin unwahrscheinlich spirituell. Ich finde es hochspannend, Seelenverwandte zu treffen.» Oder «Oh, warum hast du das nicht früher gesagt … dann darfst du ja gar nicht … dann wird das wohl nichts mit uns heute Abend.» Diese und ähnliche Entgegnungen haben schon manche meiner KommilitonInnen dazu bewogen, im Smalltalk jeweils eine andere Beschäftigung vorzutäuschen, um müssigen Diskussionen auszuweichen oder auch einfach den One-Night-Stand unter Dach und Fach zu bringen.

Die meisten Menschen wissen nicht, was Theologie oder Kirche ist. Im Gegensatz zu den meisten Kirchenmenschen, die dies bedauern, ist mir das vollkommen egal. Ich habe weder den Anspruch noch den Wunsch, das Kirchenvolk zu mehren. Wie die obenstehenden Reaktionen zeigen, gibt es allerdings eine beachtliche Menge von Menschen, welche fälschlicherweise der Meinung sind, zu wissen, was Theologie oder Kirche zu heissen habe. Anders vermag ich die Identifikation von Glaube mit Fundamentalismus, metaphysischer Selbstlüge, Esoterik oder Prüderie nicht zu deuten.

Mit den folgenden Zeilen möchte ich einen Einblick in mein Denken geben. Unabdingbar ist dafür zuerst etwas Biographisches, dann aber auch ein Einblick in meine Theologie und die Gegenwart der reformierten Kirchen in der Schweiz. Selbstverständlich bleibt diese Erzählung nicht abgeschlossen und kann einzig die Selbstbeschreibung eines einzelnen Menschen bleiben und keine Gültigkeit für andere beanspruchen.

Ich bin sehr gewöhnlich reformiert aufgewachsen, will heissen, meine Eltern haben mich in den kirchlichen Unterricht geschickt und ich habe mich nie dafür interessiert. Als ich den Konfirmationsunterricht besuchen sollte, hatte ich gerade das Kommunistische Manifest gelesen (welches ursprünglich unter dem Titel «Der Kommunistische Katechismus» geplant war, wie ich später einmal nachgelesen habe), fand, Enteignungen seien ein probates Mittel der Umverteilung und drohte meinen MitschülerInnen, welche das Pech hatten, von vermögenden Eltern gezeugt geworden zu sein, nicht selten damit. Entsprechend war mein Interesse am Konfirmationsunterricht eher gering. Als ich mich dazu durchrang, meine Mutter zu überreden mich abzumelden, verkündete sie mir, dies sei nicht mehr möglich, da sie schon das Geld fürs Lager eingezahlt hätte und ich also mindestens bis zum Lager noch gehen müsse. Die süsse Hoffnung auf Konfirmationsgeschenke bewog mich dazu, das Ding also durchzuziehen und mich konfirmieren lassen (um im richtigen, linken Sinn materialistisch bleiben zu können, habe ich die Geschenke dann eher sophistisch auch als Umverteilung verstanden).

Gott interessierte mich lediglich als gedankliches Konzept, als unendliches Sein. Erst gegen Ende der Schulzeit hat sich das geändert. Der Gedanke an den Gott der Liebe, der Mensch wurde, liess mich nicht mehr los. Ich war darüber nicht besonders glücklich – er passte nicht in meinen Lebensentwurf, welcher sich eher in Richtung «linker Jurist» oder «linker Oekonom» bewegte. Ich erschrak, als ich merkte, dass die Bitte an diesen Gott, mich doch einfach in Ruhe zu lassen, ein Gebet war. Ich hatte das Gespenst, das in meinem Kopf umherging, nicht zu verscheuchen vermocht, stattdessen hatte ich gelernt zu beten. Es war eine Revolution: Während ich mir zuvor ein Leben mit Gott nicht vorstellen konnte, kann ich mir nun ein Leben ohne Gott nicht vorstellen. Diese Tatsache entspricht nicht einem Wunsch, ich empfinde den Glauben auch heute nicht immer als «Segen» – es ist mir einfach nicht mehr möglich Gott wegzudenken. Er wurde für mich vom Objekt zum Subjekt. Eine qualitative Differenz, die sich an mir vollzogen hat und deren Beeinflussung sich mir entzieht. Diese doch sehr nüchterne «Bekehrung» ist vermutlich mit Grund für meine nüchterne Theologie und meine Abneigung gegen phantastische Bekehrungserlebnisse, wie sie mir zuweilen erzählt werden. Um diesen Vorgang besser zu verstehen, habe ich davon abgesehen, Recht oder Wirtschaft zu studieren und mich für Theologie eingeschrieben.

Ich habe während meines Studiums viel gelernt. Für mich gehören zum Glauben das theologische Denken, welches ihn reflektiert und die evangelische Liebe, welche ihn im Leben ausleben möchte, integral dazu. Mit dem theologischen Denken meine ich ein spezifisches Denken, welches sich mit dem Gott, wie er in Jesus Christus erscheint, auseinandersetzt und diesen als einzige Norm anerkennt. Diese doch sehr strenge Orthodoxie wird bei mir von dem Wissen um die Unverfügbarkeit oder sogar Abwesenheit Gottes in dieser Welt wieder eingeholt. Das strenge Denken und das Wissen um die Unmöglichkeit dieses Denkens bilden eine Art Rahmen für meine Reflexion. Dieser Rahmen befördert mich aber in eine ausweglose Situation: Ich kann nicht anders als von Gott zu denken, kann aber gleichzeitig nicht von Gott denken! Das ist ein ähnliches Gefühl, wie wenn ein Kranker auf einem Bett liegt und sich von der einen Seite auf die andere dreht, um sich nicht wund zu liegen. Das geht zwar, aber gesund macht es diese Person nicht. Vielleicht ist der Glaube an Gott also eine unheilbare Krankheit, trotzdem kann ich nicht gänzlich an ihm verzweifeln, trotzdem höre ich nicht auf, mich von der einen Seite auf die andere zu drehen. Dieses «Trotzdem» als Antwort auf eine ausweglose Situation ist für mich eine wunderbare Nebenwirkung dieser Krankheit.

Evangelische Liebe meint die Liebe Gottes, die sich manifestiert an dem Gott, der am Kreuz stirbt. Wenn Gott den Menschen gebietet, ihre Nächsten, ja sogar ihre Feinde so zu lieben, wie Gott liebt, dann ist diese evangelische Liebe eine qualitativ andere Liebe, als wir sie kennen oder geben können – sie ist bedingungslos. Es ist die Liebe, welche keinen Anfang hat und nie aufhört. Es ist die Liebe, welche nicht abkühlt und keine Fragen stellt. Sie ist genau dadurch bedingungslos, dass sie nicht davon abhängt, was ein Mensch gemacht oder nicht gemacht hat. Sie möchte nicht wissen, welche Farbe ein Pass hat, denn sie entstammt einer Welt, welche keine Grenzen kennt. Dies alles kann natürlich als weltfremd abgetan werden. Das ist auch richtig so und zwar in beiden Sinnen des Wortes: Diese Liebe kommt von Gott, also nicht von dieser Welt und sie taucht auf dieser Welt bisweilen nicht auf.

Diesen Idealismus in der reformierten Kirche zu finden, ist schwierig. Zwar gibt es in den Gemeinden viele Menschen, die sich einsetzen und viele PfarrerInnen, welche ihre Arbeit gut machen. Wie überall gibt es aber auch Menschen, die ihre Arbeit schlecht machen. Es gibt viele, die weder denken noch lieben und momentan stellen diese leider die Mehrheit in den Kirchenleitungen. Ein grosses Problem der Kirche, nämlich, dass sie keine eigene kritische Öffentlichkeit hat, welche sich für ihre Politik interessiert, kommt diesen Menschen zugute: Sie können in absoluter Unangefochtenheit DilettantInnen sein, ohne dafür die Quittung zu erhalten. So verkommen die kirchlichen Zentralstellen zu geschützten Werkstätten und nicht selten kommt einem der Gedanke auf, dass viele TheologInnen auf diesen Stellen sich dadurch für dieselben qualifiziert haben, nämlich, dass sie zu wenig Intelligenz für die Akademie und zu wenig Sozialkompetenz für die Gemeinden vorweisen können.

Diese Unbrauchbarkeit grosser Teile der Kirche verträgt sich schlecht mit meinem Idealismus und den damit verbundenen Ansprüchen, welche ich an die Kirche stelle. Häufig führe ich lange und mühsame Diskussionen mit den kirchlichen EntscheidungsträgerInnen, um ihnen meine Position argumentativ darzulegen. Leider enden diese Gespräche meistens in einer Sackgasse und scheitern entweder an meiner wachsenden Ungehaltenheit oder der Verweigerung des folgerichtigen Denkens der Gegenüber.

Immer wieder verzweifle ich an der Borniertheit dieser FunktionärInnen und möchte nichts mehr mit der Institution zu tun haben und nicht mehr Pfarrer werden. Ich frage mich dann, woran es liegt, dass die geistlichen FührerInnen dieser Kirche weder intelligent, noch gebildet sind und auch keinen Anspruch auf diese beiden Dinge erheben. Oft stehe ich nach einem langen Tag zuhause am Fenster, rauche eine Zigarette, trinke ein Bier und frage mich, ob ich nun eigentlich das Problem bin oder nicht doch diese Leute. In diesen Situationen der unmittelbaren existentiellen Ausweglosigkeit kommt mir wieder das Bild von dem Kranken in den Sinn. Ich verstehe dann diese ausweglose Situation als allgemeinen Zustand des christlichen Lebens und kann mich doch nicht damit anfreunden. Ich träume dann davon, dieses Leben hinter mir zu lassen und ein Leben ohne diese Kirche zu führen. Ich rechne nach, wie lange es bis zum Anwaltspatent ginge und überlege mir, ob mich ein Jaguar E oder ein Eigenheim glücklich machen würde. Nach reichlichem, wenngleich erfolglosem Grübeln lege ich eine CD in die Stereoanlage, meistens Bachs h-moll Messe. Beim ersten «Kyrie eleison» kommt mir dieses «Trotzdem» in den Sinn. Dann kann ich mich wieder mit der Kirche und ihren inkompetenten RepräsentantInnen versöhnen. Dann verschwindet der Wunsch, vor dieser unheilbaren Krankheit zu fliehen und ich erkenne, dass diese Menschen, so schlecht sie ihre Arbeit auch machen mögen, diese Krankheit auch haben. Ich denke dann an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der sein Erbe zu Lebzeiten des Vaters einforderte und es dann in der schlimmsten damals vorstellbaren Weise ausgab. Trotzdem empfing ihn sein Vater mit offenen Armen, als er zerlumpt und erniedrigt nachhause zurückkehrte und organisierte ein grosses Fest. Dieses Gleichnis ist für mich ein gutes Beispiel der evangelischen Liebe. Es verdeutlicht mir meine Aufgabe als Christ und zukünftiger Pfarrer.

Der Glaube ist ein Ding, das mich nicht los lässt. Theologisch gesprochen lässt mich also Gott nicht mehr los. Die Kirche ist mehr ein gesunkenes Schiff als ein sinkendes. Trotzdem verlasse ich es nicht. Trotzdem hoffe ich auf eine Kirche, in der das theologische Denken und die evangelische Liebe ihren Platz bekommen. Trotzdem möchte ich Pfarrer werden und mein Leben lang auf diesem Beruf arbeiten.

Manuel J. Amstutz studiert in Zürich Theologie und ist Mitglied der reformierten Kirchensynode in Zürich.

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