«Grandezza am Zürichsee» verspricht das Inserat der Makler «Engels & Völkers». Die angebotene «Villa in Zürich mit Seeanstoss befindet sich auf einem parkähnlichen Grundstück und ist mit ihren 2’300 qm Fläche das grösste von gerade vier privaten Grundstücken im Stadtgebiet von Zürich, die über einen eigenen Seeanstoss verfügen. Keine 20 Gehminuten von der Bahnhofstrasse entfernt, geniessen Sie einen spektakulären Blick auf den See, das Zürcher Seebecken, die gegenüberliegende Goldküste und die Voralpen.» Die Liegenschaft liegt knapp hundert Meter stadtauswärts neben der Roten Fabrik und wurde zuletzt 2020 ausgeschrieben. Tatsächlich ist Wohnraum mit Seeanstoss auf dem Gemeindegebiet der Stadt Zürich eine absolute Seltenheit. Nebst der erwähnten Villa und den Villen in ihrer Nachbarschaft ist es nur im Casino Zürichhorn möglich, mit eigenem Seeanstoss zu wohnen.
Zumindest bis jetzt. Stadteinwärts, direkt neben der Roten Fabrik, könnte bald auch Luxuswohnraum am Ufer entstehen. Heute befindet sich dort das Kibag-Areal, auf dem die Kibag Holding AG noch bis im Jahr 2030 eines ihrer Kies- und Betonwerke betreibt. Was danach dort geschehen soll, darum ringen Anwohnerinnen, Eigentümerinnen und Politik derzeit intensiv. Die bevorstehende Umwandlung von einer Gewerbe- und Industrienutzung zu einer Wohnnutzung birgt grosses Konfliktpotenzial.

Grundsätzlich werden in der Schweiz alle Gewässer als öffentlich bezeichnet; alle Menschen sollten Zugang zu deren Ufer haben. Das wird aber in vielen Seegemeinden nicht konsequent durchgesetzt. In der Stadt Zürich hingegen schon: Hier geniessen Menschen, die sich am Seeufer bewegen, ein Recht, das ihnen andernorts oft verwehrt bleibt. Auch das 2018 veröffentlichte «Leitbild Seebecken» der Stadt Zürich hält dies so fest: «Eine Stadt am See. Ein See in der Stadt. Ein Geschenk der Natur für alle, die in Zürich wohnen, arbeiten und zu Gast sind.»
Genau genommen ist das Seeufer allerdings kein Geschenk der Natur, die Stadt hat es sich vielmehr genommen. Nahezu das gesamte heutige Ufer mit seinen weitläufigen Park- und Quaianlagen basiert auf Auffüllungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Rote Fabrik, der Bahnhof Wollishofen, die Rentenanstalt, das Baur au Lac, das Opernhaus, das Casino Zürichhorn sowie der Bahnhof Tiefenbrunnen – sie alle stehen auf ehemaligem Seegrund.

Auch das Areal der Kibag befindet sich mehrheitlich auf Auffüllungen, die die Gemeinde Wollishofen zwischen 1875 und 1885 vorgenommen hatte, um das Bachdelta bei der ehemaligen Ziegelhütte zu erweitern und zu befestigen. Mit dem Zweck, eine stadtnahe Produktion von Beton zu ermöglichen, wurde das Land später an die Kibag übergeben. Mit der Abtretung verknüpft war auch die Bedingung, dass das Grundstück im Sinne einer sogenannten «Eigentumsbeschränkung zugunsten der Allgemeinheit» im Interesse der Allgemeinheit genutzt wird.
Die Kibag hält sich bisher an diese Auflagen – und hat keinerlei Absicht, das Areal an die Stadt zurückzugeben. Das zeigte sich auch im Jahr 2008. Damals verabschiedete der Zürcher Gemeinderat eine Sonderbauvorschrift, die heute für Streit sorgt. Nachdem die Kibag gegen die geplante Bau- und Zonenordnung (BZO 1999) Rekurs erhoben hatte, erlaubte ihr der Gemeinderat mit der Sonderbauvorschrift, einen Teil des Areals (gegen den See hin) ausschliesslich für Wohnungen zu nutzen. Das darin beschriebene Nutzungskonzept sieht vor, dass am See eine «der Lage entsprechende Überbauung im oberen Wohnsegment erstellt» wird, die dank «zwei im Areal zu erstellenden Bootshäfen» direkt mit dem See verbunden sein soll.
Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, was das für die Rote Fabrik, für das GZ Wollishofen und für das Zürcher Seeufer im Allgemeinen bedeutet: Der Ruheanspruch einer Wohnnutzung lässt sich schlecht mit der aktuellen Freiraum- und Gewerbenutzung der umgebenden Areale vereinbaren. Lärmklagen sind vorprogrammiert. Zudem würde durch die Umnutzung eine gewaltige Wertsteigerung eines mit öffentlichen Investitionen geschaffenen Grundstückes erfolgen. Dann hätte die Kibag aus Kies Gold gemacht.

Ein Beispiel für eine solche Aufwertung findet in nächster Nähe bereits statt: Auf dem Gebiet der ehemaligen Franz AG entsteht eine siebenstöckige Areal-Überbauung, die direkt an die Savera-Wiese beim GZ Wollishofen grenzt. Das Bauprojekt stand im vergangenen Herbst im Zentrum der «Besonnungsinitiative», die den Schutz des öffentlichen Grünraums am Seeufer zum Ziel hatte. Die Initiative wurde deutlich abgelehnt. Inzwischen ist der Bau weit fortgeschritten und die Interessengruppen aus dem Quartier und der Stadt konzentrieren ihre Bemühungen auf das benachbarte Kibag-Areal.
Laut einem Bericht der «Neuen Zürcher Zeitung» will die Kibag zwar keine Villen bauen. In einem Beitrag vom vergangenen September verlässt sich die Zeitung dabei auf das Wort des Kibag-CEOs Ulrich Widmer. Manchen Politiker*innen ist das nicht genug: So haben Gabriele Kisker (ehemalige Gemeinderätin Grüne Partei) und Luca Maggi (Gemeinderat Grüne Partei) im Jahr 2019 eine Motion eingereicht, die eine neue Gebietsplanung für das Areal verlangt. Die Antwort des Stadtrates ist jedoch noch immer hängig und die Sonderbauvorschrift somit nach wie vor in Kraft. Die Beschwichtigungen der Kibag lassen darum eher vermuten, dass eine öffentliche Diskussion um das Areal mit exklusivem Seeanstoss nicht erwünscht ist.

Für manche ist die Stelle bei der Kibag am See – mit ihrem engen Kiesweg, dem Geländer zum See hin, den mit Graffiti übersäten Mauern – ein Schandfleck. Wer sich dagegen bei den Menschen zwischen GZ Wollishofen und Roter Fabrik umhört, erfährt, dass genau diese Eigenschaften des «Unortes» Freiheiten garantieren, die anderswo in Zürich nicht mehr zu finden sind. Während noch vor wenigen Jahren eine hitzige Debatte über den kulturellen oder finanziellen Sinn oder Unsinn des Hafenkrans lief, wurde in Wollishofen beim Kibag-Kran bereits flaniert, gesprayt oder gesprungen – Industrieromantik ohne Budgetdebatte. Solche öffentlichen Räume gegen private Interessen einzutauschen kann nicht das Ziel einer demokratischen Stadtentwicklung sein.
Mit der Entscheidung über die Zukunft des Areals ist somit auch eine grössere Frage verbunden: Will die Stadt die Entwicklung und Nutzung des wertvollen Seezugangs privaten Eigentümern überlassen? Da es sich bei dem Areal um ehemaliges Seegebiet handelt, würde faktisch ein Gemeingut privatisiert. Auch wenn das Land heute rechtlich der Kibag gehört, wäre es falsch, dieses wie normales Grundeigentum zu betrachten. Es ist im Gegenteil angebracht, die künftige Nutzung massgeblich an den Bevölkerungsinteressen der Stadt Zürich auszurichten. Die Politik sollte dafür alle erdenklichen Mittel nutzen, wenn sie nicht plötzlich als Beihelferin einer privaten Bereicherung dastehen will. Nur mit politischem und öffentlichem Druck kann es den Menschen in der Stadt Zürich gelingen, dafür zu sorgen, dass ein adäquater Rückfluss ans Gemeinwohl erfolgt. Dass dies möglich ist, zeigen die Areale der Roten Fabrik und des GZ Wollishofen. Ersteres wurde 1972 durch die Stadt mit dem Ziel gekauft, eine Verbreiterung der Seestrasse zu ermöglichen und einen Seepark zu errichten, letzteres wurde ebenfalls zur Errichtung eines des damaligen Freizeitzentrums erworben. Sinnvolle und am gemeinschaftlichen Wohl orientierte Nutzungen sollten auch auf dem Areal der Kibag denkbar sein.
Aktuell tauschen sich die verschiedenen beteiligten Parteien – die Kibag als Be-sitzerin und diverse Quartier- und Interessensvereine – in einem von der Stadt Zürich initiierten Format aus über ihre Sorgen und Bedürfnisse. Die Ergebnisse und Erkenntnisse sollen in die Testplanung für das Areal einfliessen, an der ab kommendem Sommer verschiedene Planungsbüros arbeiten werden.

Auf dem Kibag-Areal wird sich entscheiden, ob die Stadt ihrem eigenen Leitbild auch in Zukunft gerecht wird. In dieser Ausgabe der Fabrikzeitung werfen wir deshalb einen Blick auf die Entstehung der Stadtzürcher Uferanlagen, besuchen die Bürgerinnenbewegung «Linkes Seeufer für Alle», sinnieren über bessere Nutzungsmöglichkeiten des Areals, stellen uns vor, mit welchen Einsprachen sich die Villenbesitzerinnen wehren würden und sehen in einer ausführlichen Bildstrecke, welche Seeprojekte uns bisher erspart geblieben sind. Viel Vergnügen am See!

Ivan Sterzinger ist ein ehemaliges Redaktionsmitglied der Fabrikzeitung.

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