Hunderte Tausende

«Kommst du noch kurz in den Buchladen? Ich muss rasch ein Buch bestellen», frage ich meinen Bruder. Er zuckt mit den Schultern, wir gehen rein, ich stell mich an den Verkaufsschalter und er sich daneben. Es ist ungewohnt; wir treffen uns nicht oft, und wenn, stehen wir selten gemeinsam in Läden. Ich erkläre der Verkäuferin, welches Buch sie mir zusenden soll, und sie fragt mich, ob ich schon mal was bestellt hätte bei ihnen. «Ja, aber das ist ewig her.» – «Dann sollten wir Ihre Adresse noch in der Datenbank haben.» – «Wird schwierig. Ich bin in den letzten Jahren mehrmals umgezogen. Suchen Sie einfach mit meinem Namen.» Die Frau macht ein Gesicht, als hätte sie eine schlechte Botschaft zu überbringen.
«Nur mit dem Namen suchen ist immer schwierig.» Sie sagt das, während sie meinen Nachnamen schon kennt. Ich muss etwas schmunzeln. «Stimmt, der ist einfach zu häufig», schaltet mein Bruder sich ein, mit freundlicher Ironie. Die Verkäuferin sucht meinen Namen, findet ihn sofort, mein Bruder und ich verabschieden uns und verlassen den Laden.

«So schwierig!», kichere ich auf unserem Weg zum Parkhaus. «Davon haben sie sicher Tausende in der Datenbank!» Es tut gut, sich darüber zu amüsieren mit einer der wenigen Personen, die auch Rosenwasser heisst. Ich kenne keine mit diesem Namen, die nicht direkt mit uns verwandt sind. Ich begegne Rosenwasser häufiger auf Zutatenlisten als in Form eines Nachnamens.

«Ich bin letztens auf eine ganz andere Datenbank gestossen», sagt mein Bruder ohne die vorherige Ironie in seiner Stimme. «Im Jüdischen Museum in Wien.» Ich verschlucke mich fast an der Parkhausluft. «Da konnte man Namen eingeben und es erschienen Namen von Personen, die im Holocaust ermordet worden sind.» Er muss nicht weiterreden. Ich weiss, was dann kam. Ich weiss, dass er «Rosenwasser» eingab und plötzlich hunderte Einträge auftauchten. Auf einmal gab es ganz viele von uns. Unser Nachname ist nicht selten, er ist nur selten auf Datenbanken von Lebenden. Ich weiss das, weil ich vor wenigen Monaten selbst darauf gestossen bin. Sie heissen Chaja und Ester und Abraham, sie heissen wie unser Grossvater, wie meine Brüder, und sie heissen wie ich. Manchmal haben sie Geburtstage. Gelegentlich auch Todestage. Hie und da sind ihre Geburtsorte angegeben – , Polen; Nagyrákos, Ungarn – meistens aber nicht. Manchmal ist es eine Überlebensstrategie, die eigene Herkunft zu verbergen.

Es ist eine seltsame Angelegenheit mit seltenen jüdischen Nachnamen. Für nichts anderes erhalte ich so viele Komplimente. So viel genuine, freundliche Neugier. Ich liebe meinen Nachnamen, weil er mich verbindet – mit Fremden, die mich auf ihn ansprechen, und mit meinen Wurzeln, auf die er hinweist. Aber meine Wurzeln liegen nicht selten vergraben in traurigen Datenbanken. Jedes Mal, wenn jemand anerkennend sagt: «Oh, das ist aber selten!», heisst das ja eigentlich auch: Er wurde selten gemacht.

Ich ertappe mich selbst, wie ich immer wieder zu diesen Datenbanken zurückkehre. Nach Geistern suche oder nach dem Gefühl, eine Geschichte zu haben. Vielleicht danach, nicht alleine zu sein.



Wackelige Klettersteine

«Dein Nachname?», fragt mein Velomech. Er füllt gerade ein Formular aus, um mir mein neues Velo zu übergeben, ein weisser Renner. «Rosenwasser», sage ich, «Rosenwasser?», fragt er, «ja, wie die Blume und die Flüssigkeit.» Mit konzentrierter Miene notiert er. Fragt dann, ohne aufzusehen: «Bist du Jüdin?»

Ich glaube, jede Person hat eine Eigen­schaft, auf die sie am häufigsten angesprochen wird. Grosse Menschen sind gross, stark tätowierte Menschen sind stark tätowiert, und Menschen mit ungewöhnlichen Berufen erklären ihr ganzes Smalltalk-Leben lang, was sie arbeiten. Es ist die grösste anzunehmende Ungewöhnlichkeit, ein ganz individueller GAU.

Leute mit seltenem Nachnamen tragen ihren GAU in jedes Formular ein. Auf alle Vorstell-Kärtchen, die sie sich ans Hemd pinnen müssen. Und mindestens in jede Konversation, in der gesiezt wird. Ich glaube, ich wurde in meinem Leben öfters gefragt, ob ich jüdisch bin, als dass ich gefragt wurde, ob der Platz neben mir noch frei ist.

Ich habe Verständnis dafür. Gespräche – vor allem mit Fremden – sind anstrengend. Ich stelle es mir jeweils so vor: Wir bouldern an einer Wand, wo die Klettersteine einen Tick zu weit auseinanderliegen. (Keine Ahnung, wie
die Dinger heissen. Ich fahre lieber auf meinem neuen Rennvelo, als zu bouldern.) Wir hangeln uns von Anhaltspunkt zu Anhaltspunkt, schwer atmend und froh um jedes Steinchen, an dem wir uns festkrallen können. An Eigenschaften, die auffallen, damit wir nicht übers Wetter reden müssen. Worüber sich unser Gegenüber eigentlich am liebsten unterhalten würde, wissen wir in dem Moment ja noch nicht: Du siehst einer Person meistens nicht an, ob sie sich für Mischpulte oder Oktopusse begeistert. (Oder fürs Bouldern. Oder für Rennvelos.) Also nimmst du das, was du auf den ersten Blick kriegen kannst. Ihre GAU-Eigenschaft. Meistens ist das gut gemeint.

Aber je nach GAU gilt: Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht. Übers Judentum zu smalltalken, ist ein recht wackeliger Kletterstein. Manchmal in Form einer ungefragten Israel-Diskussion. Brudi, ich bin zufällig tatsächlich Israelin, und glaub mir, das macht mir noch weniger Bock auf das Thema.

Beliebte Klettersteine sind ausserdem antisemitische Verschwörungstheorien («Ah, ihr Juden habt ja eigentlich viel mehr Macht als man denkt, gäll?»), gelegentlich Diskriminierung über positive («Das sind ja alles sehr schlaue Menschen, diese Juden, und so gut mit Geld») oder zweifelhafte Zuschreibungen («Dachte ich mir schon, du siehst jüdisch aus»). 

Daran denke ich manchmal, wenn man mich fragt, ob mein Nachname jüdisch ist. Ich denke es auch jetzt, als mein Velomech danach fragt. «Ein bisschen», antworte ich leise und wahrheitsgetreu, in der Hoffnung, dass jetzt nichts Schlimmes folgt.

Mein Velomech sieht auf, sein Blick plötzlich weicher. Er gibt mir die Kopie des Formulars. Und sagt: «Mein Vater ist aus Tel Aviv-Yafo.» Er sagt es auf Hebräisch.



Menora im Bild

Letztens druckte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Strafantrag aus. Ich hätte ihn nur unterschreiben und absenden müssen. Aber ich liess ihn liegen. In meinem Büro liegt jetzt ein Blatt Papier, wo irgendwo zitiert steht, was mir per Mail geschrieben wurde: drecksjude.

Als ich letzten Herbst in eine neue Wohnung zog, schenkte mir meine Mutter zum Einzug eine Menora. Das sind die siebenarmigen Leuchter, die viele jüdische Menschen jeweils am Freitagabend anzünden. Als Kind einer Nicht-Jüdin und eines Juden war ich mit wenig jüdischen Traditionen aufgewachsen – aber die Menora mochte ich immer besonders gern. Schon den Davidstern, der noch immer um meinen Hals hängt, hatten meine Eltern mir geschenkt.

Dass der Stern um meinen Hals und das Zünden von Kerzen am Freitagabend für mich nicht religiös ist, sondern mit einer ambivalenten Zugehörigkeit zu tun hat, ist nicht leicht zu erklären. Viele Menschen hierzulande stellen sich das Judentum binär vor: Jüdisch und nicht-jüdisch. «Jüdisch» ist dann meistens eine wilde Mischung aus allen Ultraorthodoxen, die man je in irgendeiner Serie gesehen hat. Kombiniert mit einer Handvoll antisemitischer Vorurteile, von denen man ungern zugibt, dass man sie hat.
Ich passe nicht in diese Binarität. Weil Zugehörigkeit nicht einfach matrilinear verläuft (wie nach der Halacha). Weil Religion und Kultur nicht immer dasselbe und auch nicht immer trennscharf auseinanderzuhalten sind. Je mehr ich die jüdischen Symbole jedoch mit mir in Verbindung bringe, desto mehr werde ich zugeordnet – und kriege Antisemitismus zu spüren. Wie etwa jene E-Mail.

Irgendwann packte ich die Menora vom Stubentisch auf mein Büroregal. Ich wollte mich nicht noch angreifbarer machen, wollte mich nicht noch jüdischer erscheinen lassen. Nur: Dort, auf dem Büroregal, ist sie direkt im Hinter­grund meiner Webcam. Nun muss ich jedes Mal meinen Laptop etwas verschieben, wenn ich Videocalls führe, damit das Symbol meiner Jüdischkeit nicht über meinem Kopf prangt.

Letztens hatte ich einen Videocall, auf den ich mich besonders freute: Eine junge lesbische Frau, kaum volljährig, hatte mich um Unterstützung bei der Planung einer queeren Party gebeten. Ihr Gesicht erschien auf meinem Bildschirm – und daneben, im Hintergrund, eine Menora. Ich quietschte kurz. «Du hast eine Menora! Schau, ich auch!» Ich schob meinen Laptop an seine eigentliche Stelle. Nun waren da zwei Menora auf meinem Bildschirm. Es war ein seltsam schönes Gefühl. «Ah, die», sagte die junge Frau und lächelte, «also, normalerweise nehme ich die aus dem Bild, wenn ich mit jemandem zoome. Aber heute dachte ich mir: das bist ja du.» Dann strahlte sie.

An der letzten Pride passierte mir etwas Ähnliches. Eine junge Frau kam mir mit grossem Grinsen entgegen, sagte «Anna, dich wollte ich schon immer mal treffen! Schau!», und sie kramte unter ihrem Shirt einen kleinen Davidstern an einer Halskette hervor. Ich werde nie vergessen, wie stolz sie mich anblinzelte.

Heute lasse ich die Menora dort, wo sie im Bild ist und trage meinen Davidstern um den Hals, auch wenn er mal nicht unter dem Shirt verschwindet. Ich lasse nicht Antisemitismus bestimmen, wie jüdisch ich bin, sondern mein diffuses, nicht messbares Gefühl. Eines Tages schaffe ich es, den Strafantrag auszufüllen. Aber heute erfreue mich daran, dass es Dinge gibt, die mir nah sind.



Shabbat Shalom

Dafür, dass ich Rosenwasser heisse, einen Davidstern um den Hals trage und gefühlt jeden Freitagnachmittag mit «Shabbat Shalom!» nur so um mich schmeisse, habe ich ein erstaunlich distanziertes Verhältnis zu Synagogen, wo ich mich oft wie eine dezent deplatzierte Touristin fühle. Es gibt auch nur eine einzige bedeutende Erinnerung in meinem Leben, in der Synagogen eine Rolle spielen. Ich war anfangs 20, frisch getrennt von meiner ersten langjährigen Beziehung und hatte spontan beschlossen, ein paar Monate nach Israel zu gehen, wo mein Vater herkommt. Null Tage nach meiner Ankunft hatte die beste Freundin meines Vaters auch schon beschlossen, dass ich ihren Sohn kennenlernen musste, Eitan. Eitan wirkte lieb und zurückhaltend, als wir, arrangiert von unseren Eltern, gemeinsam in einem Einkaufszentrum rumhingen. Am nächsten Treffen würden wir zusammen ausgehen, sagte Eitans Mutter, mich freudig anzwinkernd. Es war offensichtlich, dass ihr Sohn und ich miteinander verkuppelt werden sollten.

Eitan führte mich daraufhin an meine allererste Gay Party, nur Männer weit und breit. Ich stand verloren und gleichzeitig bestens unterhalten rum und wusste: Das mit dem Verkuppeln wird wohl nichts. Unseren Eltern verrieten wir natürlich nicht, dass wir beide queer waren. Wir wurden einfach liebevolle Ver­bündete, die sich am Freitagabend gern trafen. «Du musst mal in die Synagoge mitkommen!», fand Eitan eine Weile später, und ich so, ja eh, whatever. Rückblickend hatte ich das nicht ganz durchgedacht. Ich erschien nämlich in einer Jeans. Ein No-Go in einem geschlechtergetrennten Gebet. Eitan fiel fast die frisch installierte Kippa vom Kopf vor Schreck. Ich weiss noch, wie er mir nervös einen in seinem Auto rumliegenden Schal um die Hüfte zu binden versuchte, in der Hoffnung, das ginge als Rock durch. Die Frauen, die mich daraufhin beim Gebet von der Seite musterten, bewiesen das Gegenteil.

Die Stimmung war weitaus lockerer am anschliessenden Abendessen, zu dem Eitan und ich geladen waren; eine Art Gebets-Jugendgruppe, mit der wir plaudernd Gefilte Fisch assen. Erst, als der Rabbi uns anleitete, zu zweit über unsere Zukunft zu reden, merkte ich: Das um uns herum, das waren alles Paare. Mann-Frau-Paare. Vor mir sass Eitan, ungeoutet, und lächelte mich etwas verlegen an. Wir können ja trotzdem darüber reden, wie wir uns unsere Zukunft vorstellen. Also erzählten wir uns unsere Wünsche. «Ich will die Welt sehen», sagte Eitan, «und ich will mich selbst sein». «Ich will ganz vielen verschiedenen Menschen nahekommen», sagte ich und lächelte. Wir fassten uns an der Hand, in dieser Jugendgruppe, in dieser Synagoge, an diesem Shabbat, und lächelten uns an. Wir mussten ausgesehen haben wie ein glückliches junges Paar, unsere Eltern wären stolz auf uns gewesen, der Rabbi war es wohl. Wir waren auch stolz auf uns. Darauf, dass wir uns auf die Zukunft freuten. Nicht obwohl, sondern weil sie anders werden würde als das, was von uns erwartet wurde. Wir behielten Recht.

Shabbat shalom.

Anna Rosenwasser ist freischaffende Autorin, LGBTQ-Expertin und, vor allem, Aktivistin.
Die vorliegenden Texte «Menora im Bild» und «Shabbat shalom» wurden ursprünglich im Ostschweizer Kulturmagazin «Saiten» und «Wackelige Klettersteine» in der Schaffhauser AZ veröffentlicht.

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