Was bisher geschah: Ein Ich und ein Er leben zusammen. Eine Spannung, eine Trennung. Eine Krankheit. Ein Fortgehen. Das Ich schreibt, heimlich. Schreibt Er auch? Auf jeden Fall verschimmeln seine Pflanzen. Das Ich lauscht an der Tür: Was er wohl in seinem Zimmer gerade tut?

Am nächsten Morgen verschwand er. Wir standen in der Küche, er verabschiedete sich, in Anzug und mit Hut auf dem Kopf, er gehe eine Runde spazieren. Er kam nicht zurück.

Am Abend klopfte ich an seine Zimmertür, keine Antwort. Die Tür war nicht verschlossen, nur angelehnt. Ich stellte mir vor, wie er tot im Bett liegen würde. Aber er war fort. Schon längst. Die Leere, die mir vertraut war, die mich umgab, die ich immer mehr zu fühlen begonnen hatte, diese Leere war sein Fortsein. Ich hatte sie in jeder Umarmung mit ihm gefühlt. Eine Höhle ohne Berg, in den sie führt. Ich klopfte noch einmal, sagte: «Ich komme jetzt rein.» – und schob langsam die Tür auf.

Der bekannte Gestank schlug mir entgegen, den er uns kürzlich als Folge von verkipptem Kaffee hatte erklären wollen. Erst vor ein paar Tagen hat seine Mutter entdeckt, dass wohl das Abwasserrohr, das durch die Mauer zwischen den Fenstern führt, ein Loch haben muss. Die Bettdecke lag zerknüllt in der Ecke. Auf dem Boden lagen ausgekippte Schubladen, Kleiderberge, stand Geschirr herum. Zuerst hielt ich die vielen schwarzen Punkte, die alles bedeckten, für Schimmel. Ich holte die anderen und erst sie bemerkten, dass es Asche war, die sich über jede Oberfläche im Zimmer gelegt hatte. Im Ofen fanden wir einen halbverkohlten Personalausweis. Bevor er aus der Tür getreten war, hatte er zu mir gemeint, er habe den Entschluss gefasst, ein neuer Mensch zu werden. Eine Sache nehme er mit, die Zigarette.

Warum hat er uns verlassen? Ist er geflohen vor unserer Aufmersamkeit? Und was geschah, während er fort war? War er irgendwann satt von seiner Flucht? Wenn man bis an den Punkt geflohen ist, an dem die Kraft, die einen antreibt, umschwingt, was ist dann? Flieht man dann vor der Flucht? Würde er irgendwo nicht weiterkommen? Und dann? Er war ein Fass, das fast voll war, das war mir klar. Ich fürchtete mich davor, dass er zurückkommen könnte, und ich würde abkriegen, wenn etwas überschwappte. Und gleichermassen erwartete ich diesen Moment sehnsüchtig, war neugierig, wie es aussehen würde, wenn das Fass überläuft, und suchte deshalb nach ihm. Ich rief Agenturen an und bat, meine Nummer an Schauspieler weiterzugeben, bei denen ich ihn vermutete – bis mich irgendwann einer zurückrief, mich anschrie, wer ich sei, was ich wolle und mir, nachdem er sich beruhigt und ich mich ihm stotternd erklärt hatte, befahl, er möge sich bei ihm unverzüglich melden, sobald er wieder aufgetaucht sei. Ich solle ja nicht mehr anrufen, vor allem nicht seine Agentur. Wer ich denn glaube, dass ich sei. Er habe ständig Ärger mit einem Stalker. Er werde sich melden.
Ich versprach es und entschuldigte mich.
Warum entschuldigte ich mich?

Dass er Schauspieler hatte werden wollen, war nur Oberfläche. Er sei ein Mann, der sich einen Krieg wünsche, das hat er immer wieder gesagt. Das, beispielsweise, fand ich unendlich ehrlich. «Ich bin ein Krieger ohne Krieg. Ich wünsche mir einen Krieg. Dann könnte ich mit jemandem kämpfen. Seite an Seite und Auge in Auge.» Jetzt hatte er seinen Krieg. Und ich hatte meinen. Immer auf dem Heimweg überkam er mich. Diese so friedliche Welt endete an unserer Wohnungstür. Dahinter begannen er und dieses, aus dem etwas werden könnte, aus dem aber noch nichts entstanden war und das, weil daraus noch nichts entstanden war, spannend blieb. Reality-Soap.

Ein paar Tage später stand er einfach wieder vor der Tür. Um die Mittagszeit. Ich kam gerade heim, sah schon von weitem jemanden mit aufgezogener Kapuze an der Haustür herummachen. Es war nicht besonders kalt. Er trug nur diesen grauen Pullover. An der Kreuzung gerade eine Baustelle, deshalb wenig Verkehr.
Ich bat ihn herein, sass ihm mit Herzklopfen gegenüber am Tisch, die Tür im Rücken. Wir tranken Tee, Apfeltee, und er stellte Fragen. Das war geschickt. Mit ganz sanfter Stimme. Und sanft fragte er, ob man ihn noch leiden könne. Dann erklärte er sich. Er sei sensibel. Das sei ja wohl zu spüren. Er habe da so einen Drang in sich, einen Drang sich zu öffnen. Da sei nur etwas, was ihn hemme, deshalb frage er.

Ich glaubte ihm. Ich glaubte, dass etwas geschehen war. Mir kam es vor, als sei in ihm etwas geschrumpft. Sein Inneres. Ich brauchte Jahre, bis ich verstand, dass das hässliche Stück Seele, auf das ich einen raschen Blick hatte werfen können, in Wahrheit nicht in ihm sondern in mir aufgeschienen hatte. Hässlich hatte ich es nur gefunden, weil ich geglaubt hatte, es sei in ihm. In einem Vakuum etwas Zusammengerolltes. Der Raum darum herum im Chaos.

Nachdem er einmal mehr in seinem Zimmer verschwunden war, verwandelte sich in mir das Mitleid in Wut und die Angst in Hass und Hilflosigkeit. Meine Hilflosigkeit, die dehnte sich aus. Das ging nur, weil sich da etwas in mir zusammengezogen hatte, sich klein machte, als wolle es sich verstecken und von niemandem bemerkt werden.
Dass ich schreibe, darfst du nicht wissen.

Dass ich mich gleich hinsetze, und was du gesagt hast, aufschreibe, darfst du keine Sekunde vermuten.

Ich nickte. Mir gelang das, was er nicht geschafft hatte. Ich verlor das Ziel nicht aus den Augen. Das Ziel nicht und auch nicht den Anfang und vor allem nicht ihn. Bei allem verlor ich ihn niemals aus den Augen. Jeder seiner Sinne versuchte, das Fernste zu fassen, aber glitt davon, wurde abgelenkt. Es gibt tausend Wege, die von hier fortführen, sagte ich mir, und nur der erfolgreich Suchende verdient den Honig.

Er ist das aber nicht, dachte ich. Er hat es noch nicht einmal versucht, dachte ich. Er verdient auf keinen Fall eine Belohnung. Er ist immer noch der, den ein Weiser erst auf die Suche schicken würde. In die Natur. Die Angst finden.
Dabei war ich es, der keinen Schritt vor und zurück kam. Als würde ich ihm immerzu meine Hand hinhalten. Mein ausgestreckter Arm wird schwer. Allein ihn so in der Position zu halten, braucht mit der Zeit ungeheur viel Kraft. Und wozu? Hätte er meine Hand genommen, ich hätte ihn doch nicht begleiten können. Das war unsere Hilflosigkeit. Dass wir ihn anflehten, wie einst seine Mutter ihn anflehte: «Liebling, bleib hier, wohin gehst du?»

War das Panik? Zumindest der Zugang zur Panik? Die Lust daran und die Angst davor?
Es war sein Spiel. Es steckte alle an. Und am Ende sassen wir da, unsicher, ein unselbständiger Haufen, aus dem er – da bin ich mir sicher – heraustreten wollte, denn er kannte die Unsicherheit am besten.
Sein Spiel, genoss er es?

Unsere Angst bezog sich nicht auf das, was tatsächlich der Fall war, sondern auf das, was wir befürchteten, dass noch kommen könnte. Die Zukunft würde, befürchteten wir, viel geschickter auftreten, als Phantasie sie auszumalen vermag. Sie würde poetisch sein und zwangsläufig. Sie würde besonders sein, aber wirklich. Sie würde uns überraschen und sie würde, ja würde – und wir würden gleich bei ihr sein.

Der erste Teil dieser Fortsetzungsgeschichte ist in der Oktoberausgabe der Fabrikzeitung oder auf fabrikzeitung.ch zu finden. Der dritte und letzte Teil erscheint Anfang Dezember.

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