Was bisher geschah: Ein Ich und ein Er leben zusammen. Eine enge Beziehung, eine einzige Unsicherheit. Während das Er zunehmen kränker wird, steigert sich das Ich in eine Bessessenheit hinein. Er verschwindet, hinterlässt Wut und Sorge, taucht wieder auf.

Vor dem Haus lag sein Handy, zertreten. Teile der Zukunft. Dass er, der solche Angst davor hatte, was draussen im Schatten lauert, jetzt gerade der geworden ist, der draussen im Schatten lauert.

Dann kam Besuch. Er blieb in seinem Zimmer, verzichtete das Wochenende über auf Essen. Als der Besuch wieder abgereist war, erklärte er, wie nett die Gäste gewesen seien, und dass er gern mehr Zeit mit ihnen verbracht hätte. Er sah uns dabei nicht in die Augen.

Er war ruhig geworden, leise, ja, leise war er geworden. Im Morgengrauen stahl er sich in die Küche. Wenn ich klopfte, war noch weniger mit Reaktion zu rechnen. Wenn ich dann dennoch die Tür aufschob, sass er inmitten des Gestanks, die Kapuze aufgezogen, schwarze Locken fielen heraus. Seine Zigarette zog er in wenigen Zügen weg, hielt den Filter zwischen Daumen und Zeigefinger – butterweich musste der sein – und lächelte nur einmal, nämlich als ich sagte, mir gehe es schlecht.

Oder er kauerte über ein Heft gebeugt, den Stift in der Hand, fragte: «Festhalten woran?» – sah auf, senkte den Blick aber gleich wieder und murmelte: «Ich werde gerade richtig müde.» Dann begann er – als habe er meine Entschuldigung nicht gehört – sich zu rechtfertigen: «Aber ich habe eben gemerkt, dass ich das alles aufschreiben muss.» Seine Stimme wurde brüchig. «Ich muss einfach mein Herz ausschütten.» Ihm klappten die Augenlider zu. Sein Kopf wankte. Dann kippte er um, ein Schlag auf den Dielen. Ich tat nichts, sah nur zu.

Denke ich jetzt darüber nach, weiss ich nicht mehr, ob es wirklich so aussah, wie ich es in Erinnerung habe. Zufrieden. Vielleicht sah ich ihn zufrieden an? Jedenfalls fiel mir, als er da wie tot, den Stift noch in der Hand, inmitten von Papieren vor mir lag, ein, wie wir einmal – kurz bevor er zum ersten Mal verschwunden war – ein Gespräch geführt hatten, während dem ich eine Frage gestellt und dabei das Wort «aufgehängt» benutzt hatte. Es war wohl um etwas wie die Wäsche, ein Hemd, einen Schal oder ein Bild an der Wand gegangen. Das weiss ich nicht mehr. Er hatte auf meine Antwort genickt, mich aber verbessert: «aufgehangen». Mich hatte das sprachlos gemacht, zumal seine Verbesserung nicht richtig war. Man sagt: «Ich habe das Bild aufgehängt.» Nur umgekehrt heisst es, die Wäsche hat gehangen. Es ist interessant, zu welchen Konstruktionen man neigt in der Sprache. Ich benutzte «hängen» irgendwie aktiver als er. Ich hatte mich damals nicht verteidigt; und erst nun verstand ich, weshalb ich doch immer an den Schal hatte denken müssen, wo es doch bedeutungslos war, von was wir gesprochen hatten. Aber nur der Schal konnte zu einem Strick werden. Der eine hat den anderen aufgehängt, du aber, du hast gehangen.

Ich liess die anderen den Krankenwagen holen. Seine Mutter anrufen. Seine Entschuldigung, als er (wieder) wieder da war – «Ich esse eben nicht, rauche nur und schreibe ganz viel» – war mir zuwider. Aber ich strengte mich an, es ihm gleich zu tun, versuchte mehr zu rauchen, mehr, und schrieb ebenfalls die ganze Zeit.

Seine Probleme hielt ich dabei dennoch (heimlich) für erhabener, als meine. Ich traute mich nicht, mir das einzugestehen, traute mich aber auch nicht, ihm abzusprechen, wie sehr er zu leiden habe. Stattdessen machte ich ihn mit langen Argumentationsketten um die Gerechtigkeit und um die Verhältnismässigkeit zunichte. Damit ging eine Veränderung einher – freilich nicht bei ihm, bei ihm tat sich nichts mehr. Diesbezüglich hatten wir aufgegeben, waren desillusioniert. Allerdings die Veränderung an mir: Ich glaubte auch mir nun nicht mehr.

Ich habe bereits davon geschrieben, wie sich in mir etwas zusammengezogen hat. Sicherlich bin auch ich bei diesem Mechanismus nur ihm gefolgt. Er hatte bestimmt schon viel früher alles zusammengedrängt zu einem letzten Punkt und verschlossen. Eine fugenlose Oberfläche, nichts, was sie zu öffnen vermag. Unzugänglich, wie er war; und ich war es geworden. Umgeben von jenem Chaos.

Und wegen des Chaos herrschte ein grässliches Verlangen nach Ordnung. Der Wunsch, die eigenen Angelegenheiten zu regeln. Verschwinden, um als Neuer zu erscheinen. Auch sein Gerede von einem reinigenden Krieg. Aber wozu eigentlich eine Erlösung, wenn man sich einfach im Bett vergraben kann?

Ein Mann betritt den Raum. Das Weiss in seinen Augen vergilbt. Er schlägt den Blick nieder und geht ohne ein Wort zum andern Bett, zieht die Schuhe aus und schiebt sie unters Kopfende, legt sich ohne aus den Kleidern zu schlüpfen hin. Ich rieche ihn. Bin ich also wach? Dann – eben in dem Augenblick, da ich ihn liegen lassen will – beginnt er zu flüstern. Sind das Gebete? Leise, hastig. Er wälzt sich hin und her. Im Morgengrauen frage ich: «Was sind das für Worte» – er verstummt, entschuldigt sich und schweigt von da an.

Als ich erwachte, war er verschwunden. Ich hörte etwas an der Tür und stand auf. Es macht keinen Sinn, ich weiss, der Wechsel aus dieser Gegenwart in die Vergangenheit: Der Versuch einen Traum zu schildern, einen, den ich damals immer wieder träumte.

Einmal lag er schon im Bett an der anderen Wand, als ich erst einschlief. Ich trete ein und die Luft ist stickig und heiss. Wie kann das sein, frage ich mich, wir haben doch Winter. Ich bemerke, dass aus dem Mülleimer der Geruch von Sperma steigt. Er atmet ruhig. Schläft schon, denke ich, und will das Fenster öffnen. Da widerspricht er. Im Morgengrauen beginnt wieder sein Geflüster. Dabei klickt er durch sein Handy, vielleicht das Adressbuch – da es ja mein Traum gewesen ist, kann ich schon sicher sein, dass es sich um das Adressbuch handelte – und sagte immer lauter: «Paris, Paris, Paris, Paris».

Wie sieht der Punkt aus, an dem eine Nachvollziehbarkeit aufhört? Früher ist man in die Wüste gejagt worden: Soll sich doch die Natur drum kümmern, die bringt einen wieder ins Lot.

Dann die Geräusche aus dem Bad.

Er übergibt sich, dachte ich zunächst, konnte das Platschen aber nicht wirklich zuordnen. Kloschüssel oder Badewanne. Erbrochenes oder Wasser.

Einen Augenblick Wasserfall.

Das war so ein Thema von ihm.

«Waschen ist wichtig.» Hat er es nicht so gesagt? Rauch und Wasser. Haben wir uns nicht einmal darüber unterhalten, ob und wie man beim Waschen rauchen könnte? Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, es würde an den unterschiedlichen Zeitdauern scheitern? Sekunden, Minuten, das sind doch leere Begriffe. Leer – bis auf den Rauch in sich – er. Begriffe sind verständlich, aber sinnlos. Er ist ebenfalls sinnlos. Was Zeit ausmacht, ist Takt. Die Zeiträume dazwischen, zwischen dem Waschen, zwischen den Zigaretten, zwischen Verschwinden und Auftauchen. Zwischen uns.

Jetzt sitze ich am Fenster, es beginnt zu schneien.

Vielleicht kommt er ja gleich und alles wiederholt sich. Mit einem federnden Gang, bleibt stehen und neigt den Kopf, um sich die Zigarette anzuzünden. Wir trinken Tee und er spricht von «Aufmerksamkeiten pro Zeiteinheiten» und der «Schreibreise»; es gruselt mich. Irgendwann schlage ich ihm den Kopf ein. Denn ich verstehe, was er tut, was er eigentlich tat mit seinen Aufmerksamkeiten.

Monatelang kam er jeden Tag mit einer kleinen Aufmerksamkeit, etwas ganz Kleinem, das er zum Objekt gemacht hatte. Kleinigkeiten, die er quicklebendig werden liess und aus denen heraus er mir die Welt erklärte. Irgendwann hatte er auf diese Weise mich zu so einem Objekt gemacht. Er besass mich – was sich nicht zuletzt darin zeigt, wie sehr ich von ihm besessen bin.

Schliesslich meine Enttäuschung, als seine Mutter dann doch kam.

Ein Taxi hielt vor dem Haus, sie stieg aus, eine Tasche, dieselben Locken – um ihn zu holen. Wohin? Wohin wollte sie ihn denn bringen?

Seine arme Mutter.

Die neben ihm schläft, in seinem Schatten lebt.

Vor dem Fenster ein Hundekampf: Der Grosse packt den Kleinen, hat ihn im Maul. Am Oberschenkel eines Hinterbeins hängt er, wird hin und her geschleudert, keift – das Herrchen des Grossen schlägt ihm auf die Schnauze. Der Kleine fällt aus dem Maul, hinkt davon. Das Siegergespann steht da und gafft hinterher, aus dem Maul tropft Blut.

Sie war schockiert. Im Haus gegenüber (eine Bauruine) brenne nachts Licht, manchmal im Zweiten, manchmal im Dritten. Stimmen, Gesänge und Maschinen seien zu hören.

Was ist sonst da draussen?

Und als sei es ein letzter Versuch sich zu entziehen, begann er in diesen Tagen durchs Treppenhaus zu geistern. Die Nachbarin sammelte ihn jedes Mal ein, sicher acht Mal, nahm ihn mit zu sich, setzte ihn in die Küche und machte ihm Kaffee.

«Ich hab nebenher den Abwasch gemacht, hab ihm eine Tasse hingestellt. Da sass er dann, halbe Stunde, der Kaffee ist kalt geworden. Da hab ich ihn gefragt, und deine Mutter weg? – Ja – Gestern? – Ja – Aber die hab ich doch heute früh erst noch gesehen – Nene, die ist gestern gefahren – Aber das da unten, ich denk doch, das ist deine Mutter – Ja – Na, dann gehen wir mal runter.» – Und sie brachte ihn uns.

«Wär schad um ihn.»

«Ja.»

«Er kann ja so ein Lieber sein.»

Ja. Das konnte er.

Vielleicht hat er irgendwann entschieden, dass ich sehr sehr freundlich zu ihm gewesen bin. Und er stand deshalb heute morgen plötzlich in meinem Zimmer – ich war gerade aufgewacht – trat zu mir ans Bett, gab mir einen Kuss auf die Wange und ging wieder.

Das Letzte von ihm, wie er sich auf der Türschwelle noch einmal umdreht und fragt: «Willst du frühstücken?»

Teil eins und zwei dieser Fortsetzungsgeschichte sind in der Oktober- und Novemberausgabe der Fabrikzeitung zu finden oder auf fabrikzeitung.ch

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