In Zeiten der Pandemie wirkt die Einführung von Impfstoffen wie eine Heilsbotschaft: Die Erlösung ist nah. Gleichzeitig werden Rufe von Impfgegner*innen laut, die vom Pieks in den Arm alles erdenklich Böse
vermuten. Weltverbesserung oder Teufelsakt? Eine kleine Geschichte
der Impfung – und ihrer Gegnerschaft.

In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts machte der englische Landarzt Edward Jenner eine höchst interessante Beobachtung: Knechte und Mägde, die bei der Arbeit im Stall und insbesondere beim Melken Viren der Kuhpocken ausgesetzt waren, erkrankten später viel seltener am verwandten Erreger der Menschenpocken. Daraus schloss er, dass eine Infizierung der für den Menschen eher harmlosen Kuhpocken einen Schutz vor den äussert gefährlichen Menschenpocken geben könne. 1796 verabreichte Jenner einem 8-jährigen Jungen nach langen Beobachtungsstudien Viren aus einer Kuhpockenpustel. Als er ihm sechs Wochen später Eiter aus einer Menschenpocke inokulierte, zeigte sich der Junge immun gegen die Krankheit. Da der erste Stoff direkt von der Kuh stammte, nannte Jenner ihn «Vaccine» und die Technik der künstlichen Immunisierung «Vaccination».

Vorläufer der Impfung gibt es aber schon seit Jahrhunderten, vielleicht sogar Jahrtausenden. Bekannt ist, dass im heutigen China bereits im 10. Jahrhundert Material aus den Pusteln von mild an Pocken erkrankten Menschen von gesunden Personen durch die Nase geschnupft oder in die Haut eingeritzt wurden, um den Körper gegen die Krankheit zu immunisieren. Dieses Mensch-zu-Mensch-Vorgehen wird «Variolation» oder «Inokulation» genannt und fand in Europa ab dem frühen 18. Jahrhundert Anwendung. Was sich für einige prickelnd anhören mag, war stark umstritten und galt als gefährlich, da die eingeführten Viren durch eine Rückmutation krankheitsauslösend und somit auch tödlich sein konnten. Ausserdem konnten damit andere Krankheiten wie Syphilis oder Tuberkulose übertragen werden.

Jenners Vaccination erwies sich als erheblich sicherer als die Variolation und fand vorerst viel Anklang in der Gesellschaft, nicht zuletzt, weil er zugunsten der ärmeren Bevölkerung auf eine Patentierung verzichtete. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Erkenntnisse waren allein in Europa um die 100’000 Impfungen gegen die Pocken durchgeführt worden; einige Staaten führten sogar eine gesetzliche Impfpflicht ein. Trotz grossem Erfolg von Jenners Methode im Kampf gegen die Infektionskrankheit wurden schnell kritische Stimmen dagegen laut. Die Angst, durch die Entnahme der Kuhpocken auch andere Krankheitserreger vom Tier auf den Menschen zu übertragen, war weit verbreitet. Vergleichsweise selten auftretende, aber schwerwiegende Nebenwirkungen verstärkten diese Befürchtung. Ausserdem wusste man zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass für die Gewährleistung einer langanhaltenden Wirksamkeit bereits geimpfte Personen nach einer gewissen Zeit nachgeimpft hätten werden müssen.

Verschiedene religiöse Gruppen lehnten die Impfung zudem mit der schlichten Begründung ab, der Mensch solle nicht ins Werk Gottes eingreifen. Der einflussreiche Philosoph Immanuel Kant (*1724) vertrat zeitweise – er änderte seine Meinung zu Impfungen mehrfach – eine ähnliche, wenn auch nicht explizit religiös motivierte Ansicht. Pocken und Kriege seien dazu bestimmt, das Bevölkerungswachstum aufzuhalten: «Damit Staaten nicht mit Menschen überfüllt werden und man sie in ihrem Keim ersticke: zwey Übel als Gegenmittel in sie gelegt – die Pocken und den Krieg». Er lobte die Errungenschaft zwar als «heroische Mittel der Ärzte», vertrat aber gleichzeitig die Ansicht, man müsse sich auf eine sogenannte «Vorhersehung» – von wem auch immer – verlassen, welche Pocken absichtlich auf die überbevölkerte Erde geschickt habe. Darüber, ob Herr Kant seiner Argumentation folgend konsequenterweise ganz allgemein keine medizinische Hilfe in Anspruch nahm, kann nur spekuliert werden.

Mit der Grundlage, die Edward Jenner mit seiner Technik gelegt hatte, und dem stetig wachsenden Wissen zu bakteriellen Krankheitserregern konnten verschiedene Methoden der Immunisierung durch Vakzination erforscht und ausgebaut werden. Der Mediziner Robert Koch (1843) und der Chemiker Louis Pasteur (1822) läuteten das Zeitalter der Bakteriologie ein, welche eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von weiteren, sicheren Impfstoffen spielen würde. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden systematisch zahlreiche weitere Impfstoffe entwickelt, beispielsweise gegen Kinderlähmung, Geldfieber und Tollwut. Die Pocken wurden 1980 offiziell von der WHO als ausgerottet erklärt; Masern konnten in Nord- und Südamerika eliminiert werden und die Kinderlähmung wurde stark zurückgedrängt; in Europa gilt sie gar als besiegt.

Parallel zu den Impfungen entwickelte sich aber auch die Impfgegnerschaft. In England, Deutschland und in den USA bildeten sich schon im Laufe des 19. Jahrhunderts jeweils nationale Bewegungen gegen Impfungen; es wurden impfgegnerische Vereine gegründet, Zeitschriften und Monatsblätter widmeten sich den vermeintlichen Gefahren der künstlichen Immunisierung. Einige Impfgegnerinnen bestritten den Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Pockenfälle und der Impfung. Der deutsche Arzt Heinrich Oidtmann (1833) behauptete beispielsweise, dass der zurückgegangene Handel von Schafwolle, nicht aber die Einführung der Impfung für den Rückgang der Erkrankungen verantwortlich sei.

Die Fülle an und die Komplexität von wissenschaftlichen und medizinischen Entdeckungen des 19. und 20. Jahrhunderts konnten von grossen Teilen der Bevölkerung nicht nachvollzogen werden. Unsicherheit und Ängste nahmen – verständlicherweise – zu. Unfälle bei Impfungen waren zwar im Vergleich zu ihrem Erfolg selten, traten jedoch immer wieder auf und wogen teilweise schwer. Impfgegnerinnen nutzten diese als Abschreckung und veröffentlichten Bilder von erkrankten, entstellten oder sogar toten Kleinkindern. In der Folge sank die Anzahl der gegen Pocken geimpften Menschen erheblich. Auch sogenannte Verschwörungstheorien zum Thema Impfung kursierten schon früh: So behauptete beispielsweise Eugen Dührung (1833), ein Vordenker des Nationalsozialismus, in der Schrift «Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage», jüdische Ärzte hätten das Impfen aus Gründen der persönlichen Bereicherung und der Unterwerfung der Menschheit erfunden. Auch im 20. Jahrhundert wurde das Narrativ verbreitet, die Spanische Grippe und später AIDS seien absichtlich durch Impfungen verursacht worden.

Die Erzählung vom angeblichen Streben nach einer jüdischen Weltherrschaft gibt es seit Jahrhunderten, bis heute nährt sie zahlreiche antisemitische Verschwörungsideologien. Die Stereotype, mit denen die vermeintlichen Weltverschwörer beschrieben werden, bleiben dabei stets gleich: Gier, Manipulation, Kontrolle über Wirtschaft, etc. Verschwörungsideolog*innen benutzen also die gängigen Codes und Chiffren («Finanzeliten», «Neue Weltordnung»), um den Mythos einer «jüdischen Weltverschwörung» zu verbreiten.

Von Skepsis bis hin zu Verschwörungsideologien läuft die Impf-Debatte in diesen pandemischen Zeiten besonders heiss. Viele Impfgegner*innen im 21. Jahrhundert verbindet der Wunsch nach der Rückkehr in eine vormoderne, naturverbundene Gemeinschaft. Sie wollen die «Reinheit» ihrer Kinder und eine gewisse «Freiheit» wahren, indem sie auf Impfungen verzichten. Das mag sich erst einmal schön und gut anhören; dass gefährliche Krankheiten durch Impfungen stark zurückgedrängt oder sogar ausgerottet wurden, sowie die Tatsache, dass Ungeimpfte durch Geimpfte geschützt werden, gehen dabei gerne vergessen.

Die Argumente der Impfgegner*innen scheinen sich seit Edward Jenners Zeiten nicht gross verändert zu haben: Impfstoffe würden lebensbedrohliche Stoffe enthalten, zu Autismus und Unfruchtbarkeit führen, sowie das Erbgut verändern. Obwohl diese Befürchtungen klar widerlegt wurden und die Vermeidung oder Verzögerung von Impfungen von der WHO auf die Liste der globalen Bedrohungen für die Gesundheit gesetzt wurde, wird die impfgegnerische Haltung weiterhin vehement vertreten und lautstark verbreitet.

Die aktuell populärsten Verschwörungsideologien drehen sich meist um Bill Gates – die Nebenrollen besetzen etwa Angela Merkel, George Soros, Barack Obama oder Greta Thunberg (zusammen mit ihrem angeblichen Vater Leonardo diCaprio). Wahlweise einzeln oder gemeinsam würden sie das Ziel der totalen Kontrolle verfolgen. Ihr Weg führe dabei erst über die Krankheit, dann über den Impfstoff. Und wer sich, wie der brasilianische Staatspräsident Jair Bolsonaro jüngst verlautbaren liess, bei der Verabreichung in ein Krokodil verwandeln sollte, der müsse dann eben damit leben.

Leonor Diggelmann hat Geschichte und portugiesische Sprach- und Literaturwissenschaften studiert und macht derzeit einen Master in Zeitgeschichte an der Universität Fribourg. Sie lebt in Zürich und arbeitet seit vielen Jahren in der Gastronomie.

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