Alice Schwarzers «Kleiner Unterschied» hat mein Leben vor rund 50 Jahren auf den Kopf gestellt. Ein Paukenschlag. Die neue Frauenbewegung schenkte mir den Glauben an mich selbst. Aber es dauerte noch eine Weile, bis ich Emanzipation umfassend verstand: als Befreiung von möglichst allen törichten Zwängen und das Ertragen von damit verbundenen Missbilligungen. Sich zu akzeptieren, wie frau ist, um stärker zu werden und ihre Grenzen zu sprengen, brauchte seine Zeit. Für mich endete Emanzipation nicht beim Geschlecht. Alle Formen von Diskriminierung verletzen Selbstbestimmungsrechte. Es sind nach wie vor die Diskriminierenden, die die Definitionsmacht ausüben, welche Emanzipationsbestrebungen zulässig sind und welche nicht. Auch wir weissen Frauen gehören dazu. Ich entdeckte in den 80er Jahren die Menschenrechte, die für mich fortan eine zentrale Bedeutung annahmen: Jeder Mensch hat aufgrund seines Menschseins Anspruch auf Menschwürde, das heisst darauf, in seiner Einzigartigkeit geachtet zu werden. Was wir für uns einfordern, haben wir auch anderen gegenüber einzuhalten – selbst wenn wir mit ihnen nicht einverstanden sind oder sie unsympathisch finden. Etwas viel Moral gleich zu Beginn? Sie ist die Grundlage der Selbstbefreiung, zu der wir uns heute auf die Schulter klopfen. Haben 50 Jahre Frauenstimmrecht mehr Selbstbestimmung gebracht? Die Art, wie das Jubiläum gefeiert wird, berührt mich unangenehm.

Ich habe nicht ein Leben lang dafür gekämpft, dass sie nun auf der Chefetage eine menschenverachtende Politik betreiben und erst noch dafür gefeiert werden.

Erlebte ich die neue Frauenbewegung in den 70er Jahren als Weckruf, so waren das Frauentribunal 1993 an der UNO-Menschenrechtskonferenz und das NGO-Forum 1995 an der UNO-Frauenkonferenz die Schlüsselerlebnisse meines Lebens. Die Frauen aus allen Ländern der Welt zeigten mir, dass Frauen ihre Menschenrechte erst hart erkämpfen mussten, auch wenn sie das Wahlrecht schon vor den Schweizerinnen besassen. Besonders die Frauen aus dem globalen Süden nahmen die Menschenrechte in die eigene Hand und führten uns vor Augen, dass sich ihre Interessen nicht immer mit den Ansprüchen der Feministinnen des Nordens deckten.

Das anarchische Moment von Umbrüchen

An der 4. Uno-Frauenkonferenz 1995 in Beijing haben Frauen gemeinsam für die Rechte der Hausangestellten, der Sans-Papiers und der weiblichen Geflüchteten gekämpft, als diese hierzulande noch kaum ein Thema waren. Aber die Kraft dieser Konferenz steckte auch weite Kreise der weiblichen Bevölkerung in der Schweiz an. So beschlossen die Teilnehmerinnen des bürgerlichen Schweizerischen Frauenbundes, die Anerkennung frauenspezifischer Gewalt als Asylgrund auf Gesetzesebene zu bringen. Weibliche Geflüchtete sollten auch durch Frauen befragt und begleitet und ihre Scham im Asylverfahren berücksichtigt werden.

Heute erlebe ich das Gegenteil: Opfer von Vergewaltigungen, ehelicher Gewalt und Menschenhandel werden von den Migrationsbehörden bedenkenlos ihren zurückgeschickt. Die Forderung nach Sachbearbeiterinnen wird schnöde zurückgewiesen, die Berücksichtigung des Schutzes und der Bedürfnisse von Frauen und Kindern in den Bundeszentren ignoriert. Andere Frauen tragen oft als Chefinnen dafür Verantwortung mit. Das macht mich wütend und unzufrieden über die Form des Frauenstimmrechtsjubiläums. Das Erreichte wird kaum kritisch hinterfragt. Nein, Frauen sind nicht die besseren Menschen. Aber ich habe nicht ein Leben lang dafür gekämpft, dass sie nun auf der Chefetage eine menschenverachtende Politik betreiben und erst noch dafür gefeiert werden.

Thematisiert werden lieber Frauen in Führungspositionen von Konzernen als die sich gegenseitig bestärkenden Bewegungsaktivistinnen.

Nicht nur, dass der grosse Bevölkerungsteil, der vom Wahl- und Stimmrecht noch immer ausgeschlossen ist, kein öffentliches Thema beim Frauenwahlrecht Schulterklopfen ist, macht mich grantig. Es ist auch das Unverständnis der Medien, was für eine Bewegung wie die Frauenbewegung war und was die Klimabewegung heute ist. ModeratorInnen befragen prominente Profiteurinnen der Bewegungen und suchen nach den führenden Köpfen. Bewegungen sind aber basisdemokratisch, in ihnen zählt die Kreativität jeder und jedes Beteiligten, um die Welt zu verändern. Das anarchische Moment der politischen Umbrüche ist sowohl den meisten Medien wie PolitikerInnen fremd. Thematisiert werden lieber Frauen in Führungspositionen von Konzernen als die sich gegenseitig bestärkenden Bewegungsaktivistinnen. Mainstreaming statt Empowerment. Es ist jedoch das Letztere, das meinem Leben einen Sinn gibt und mich immer wieder von Neuem beglückt.

Anni Lanz ist Menschenrechts-Aktivistin und aktiv im Basler Solinetz und im Zusammenschluss Solinetze.ch.

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