I’m hurt inside, but that don’t help my case
Cause I can’t hide what is on my face
How will it end? Ain’t got a friend
My only sin is in my skin
What did I do to be so black and blue?
— Duke Ellington Jungle Band

Nil ibi per ludum simulabitur, omnia fient ad verum
(Nichts wird in diesem Spiel vorgetäuscht, alles geschieht tatsächlich.)
— Juvenal, Satura, VI, 324

Geringe Ambitionen zu haben, ist etwas, was man dem Comic-Texter, Romancier, Pornographen und paganistischen Propheten Alan Moore noch nie unterstellen konnte. Als Schöpfer der Comic-Serie «Watchmen» wollte er in seinen eigenen Worten nichts geringeres als den «Superhelden-Moby Dick» in die Welt setzen. Etwas Dickes und Mächtiges, das so viele Zitate, Anspielungen, Ablenkungen enthält, dass man dahinter kaum noch so etwas eine Geschichte erkennen kann. Knapp zwanzig Jahre nach dem ersten Erscheinen der zwölf Watch­men-Hefte in den Jahren 1986 und 87 fand sich der Comic denn auch in der Liste der «100 besten Romane aller Zeiten» des Wochenmagazins «Time».

Es geht bei «Watchmen» also um ein grosses Ding, um die letzten Dinge; den Atomkrieg, Massenvernichtung. Es spielt in einer Welt, in der Richard Nixon noch 1985 POTUS war, weil die USA dank des Eingreifens eines grossen blauen Gottes – Doctor Manhattan – den Vietnamkrieg gewonnen hatten. Die Watchmen sind zwei Generationen von Weggefährten des Blauen Gottes. Maskierte, kostümierte Rächer, die in dieser Welt allerdings mit dem sogenannten Keene Act für illegal erklärt worden sind. «Watchmen» ist keine Geschichte, die mit ihren Superhelden freundlich umgeht.

Wiederholt findet sich auf Hauswänden des New York in der Watchmen-Welt das Graffitto: «Who watches the Watchmen?» Auf einer unmittelbaren Ebene scheint die Bedeutung klar: Eine Warnung vor der Übermacht und Ungesetzlichkeit der schwer zu kontrollierenden Handlungen und Entscheidungen der maskierten Rächer. Ein Thema, das historisch mit dem ambivalenten Status der Polizei in der Gesellschaft verbunden ist: Die Polizei führt nicht einfach das Gesetz aus, sie steht gleichsam neben dem Gesetz bzw. vermittelt (nicht immer reibungslos) zwischen der legalen und der sozialen Sphäre. Dieses Problem verschärft sich natürlich, wenn man es, anstelle einer wenigstens noch halbwegs regulierten Polizeigewalt, mit einer willkürlich selbstermächtigen Gruppe geheimniskrämerischer maskierter Halbirrer zu tun hat, die zudem mit übernatürlichen Kräften, übergrossem Reichtum, wissenschaftlichem Genie usw. ausgestattet ist. So sind die Graffiti gewisssermassen eine Hegelsche Warnung: Böse sind vielleicht genau diejenigen, die vorgeben, das Böse zu bekämpfen, nur weil sie es überall zu sehen behaupten. Andererseits ist die Frage – «Wer wacht über die Wächter?» (Quis custodiet ipsos custodes?) ein wortwörtliches literarisches Zitat aus den Satiren Juvenals:

audio, quid veteres olim moneatis amici: «pone seram, cohibe!» sed quis custodiet ipsos custodes? cauta est et ab illis incipit uxor.

Ich kenne die Ratschläge und all die Mahnungen, die ihr alten Freunde an mich richtet: «Leg‘ den Riegel vor, sperr‘ sie ein!» Aber wer soll die Wächter selbst bewachen, die jetzt die heimlichen Fehltritte der geilen jungen Frau um eben diesen Preis verschweigen? (Übersetzung Joachim Adamietz)

Im Original sind es also untreue Ehefrauen, die überwacht werden sollen, während die wahre Gefahr (des Ehebruchs) in Gestalt des vorgeblichen Wächters liegt. Schliesslich ist Juvenals sechste Satire eine misogyne Diatribe gegen die blasphemischen Ausschweifungen ausser Kontrolle geratener reicher römischer Ehefrauen, die religiöse Feste als Anlass zu ausgiebigen Orgien missbrauchen. Die untreuen Frauen maskieren sich in den Kostümen (ohnehin recht ambivalenter) religiöser Rituale, um darin ungeschminkte Unzucht zu treiben, die wiederum von dem Satiriker in Versen en Detail beschrieben werden. «Nicht wird vorgetäuscht; alles geschieht wirklich.»

Die Graffiti, die wiederholt in den Panels des Watchmen-Comics auftauchen, können durchaus auch ein Beispiel für das gelesen werden, was der afroamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler Henry Gates Jr. in seinem theoretischen Hauptwerk «The Signifying Monkey» (Oxford UP 1988) «linguistic masking» nennt: ein freies Spiel zwischen zwei Diskursuniversen («to move freely between two discursive universes»). Eine berechtigte politische Mahnung kommt als gelehrtes klassisches Zitat daher und ist tatsächlich eine versteckte Obszönität. Zugleich öffnet das versteckte Zitat den Blick auf ein anderes, halb vergessenes, wildes Universum, das wiederum auch auf zentrale Motive des eigenen Universums verweist – in diesem Fall Verkleidungen und Beleidigungen.

Der Begriff des «linguistic masking» bei Gates Jr. hat aber zunächst einen engeren Kontext. Er bezieht sich auf das Verhältnis zwischen einer weissen und einer schwarzen Sprache, die durch ein bestimmten Zeichen voneinander abgegrenzt sind, das selbst wiederum Verstellung, List, Ambivalenz markiert: «the verbal sign of the mask of blackness that demarcates the boundary between the white linguistic realm and the black».

Die «Blackness» ist selbst nur eine Maske, ein Spracheffekt, der sich durch spielerische Verstellung selbst herstellt. Das «Signifiyng» (sehr grob übersetzt mit «Angeben», «uneigentliches Sprechen») hat viele Gestalten. Es ist eine Technik rhetorischen Wettbewerbs, eine Geheimsprache der Doppelbedeutungen, die Verstellung der Tricksterfigur, eine Folge ritualisierter Beleidigungen oder auch nur exzessive Wortverliebtheit um ihrer selbst willen. Eines aber ist sicher: Es ist eine Unterabteilung der guten alten Rhetorik (deren semantische Figuren bekanntlich gemeinhin Tropen genannt werden: «Signifyin(g) is one significant mode of verbal masking or troping.» – Etwas sagen und etwas anderes meinen, das womöglich nur die eigenen Leute, die die Maske mit einem teilen, mitbekommen.

Überraschenderweise taucht Henry Louis Gates Jr., ehrenwerter Professor in Yale, Cornell, Duke und Harvard, guter Bekannter von Barack Obama und Theoretiker der linguistischen Maskierung plötzlich in der zweiten Episode der Watchmen-HBO-Serie als er selbst oder vielmehr als eine Simulation seiner Selbst auf. Er redet dabei über reale his­torische Ereignisse. Die Szene spielt in einer Gedenkstätte des Tulsa Race Massacre im Jahre 1921, das für die TV Serie die Rolle spielt, die in der ursprünglichen Comic-Serie der Vietnam-Krieg hatte – ein traumatischer historischer Hintergrund, der in diversen Verschwörungslinien den Schlüssel zu den Verheerungen der Gegenwart liefert.

Eine der Hauptfiguren der neuen Watchmen-Generation ist eine in Vietnam aufgewachsene (in der Watchmen-Welt ist Vietnam der 51. Staat der USA) schwarze Polizistin des Tulsa Police Departments. Sie trägt ein an eine Nonne erinnern­des schwarzes Lederkostüm, da sie eine Geheimidentität als Sister Night pflegt. So betritt sie das Museum und befragt das Orakel: Wer bin ich? Was ist meine Geschichte?

Das Orakel ist eine Art Infokasten mit der Computersimulation eines Experten. Das Orakel stellt sich vor: «Hello, I am the United states treasury secretary. My name is Henry Louis Gates Jr. If you like you can call me Skip…» Die Simulation des Finanzministers kann der Polizistin die Orakelfrage nach ihrer Identität natürlich nicht beantworten. Was das Orakel möglicherweise beantworten kann, ist aber, ob sie Anspruch auf Entschädigung hat. Es fährt damit fort, ein auf historisches Bildmaterial gestütztes Kurzreferat über das Tulsa Race Masscacre zu halten.

Die wohlhabende, afroamerikanische Gemeinde von Greenwood (das «schwarze» Viertel von Tulsa), die auch als Black Wall Street bekannt war, so führt er aus, wurde am 31.5. und 1.6. 1921 von rassistischen Mobs angegriffen. Mehrere hundert Menschen wurden getötet, Tausende verletzt und oder festgenommen. Das Viertel wurde niedergebrannt.

In den USA der Watchmen-Welt in der TV-Version, die gut 35 Jahre nach den Ereignissen der Comics aus dem Jahre 1985 spielt, hat Robert Redford Richard Nixon als POTUS abgelöst. Er befindet sich in seiner vierten Amtsperiode und hat ein Regime der «wokeness» errichtet. Anders als in der wirklichen Welt sind Entschädigungen für die Nachfahren der Opfer der Massaker von 1921 selbstverständlich. Unter anderem steht die Autorität von Henry Gates Jr. dafür ein. Im Watch­men-Tulsa hat dies indirekt zur Verarmung eines weissen Unterschichtsmobs geführt, der in einem Nixonville getauften Trailerpark lebt.

Die Rassisten tragen als Erkennungsmarke nicht mehr die weisse Maske des KKK, sondern die gesetzlich verbotene Maske des Rächers Rorschach. Es wird also eine historische Linie von den weissen Kapuzen des KKK zur Maske von Rorschach gezogen.

Dem Tulsa Race Massacre ist auch die Eröffnung der Pilotfolge der Serie gewidmet. Nicht ohne parallel eine kleine Kulturgeschichte der Maske des Superhelden und ihrem Zusammenhang mit der Frage nach dem Gesetz und der Polizeigewalt zu erzählen.

In der Eröffnungssequenz sieht man die mit Klaviermusik begleitete Nachstellung eines Stummfilm-Westerns, in dem ein in eine schwarze Kapuze gehüllter Rächer einen weiss gekleideten Reiter mit dem Lasso jagt. Er stellt ihn direkt vor einer Kirche, aus der die dort versammelte (weisse) Gemeinde stürmt, um sich empört zu erkundigen, was der Vermummte mit dem Sheriff der Gemeinde vorhabe. Der Vermummte entlarvt den Reiter als den von der Gemeinde gesuchten Viehdieb (und somit korrupten Polizisten). Der Vermummte nimmt die Maske ab und gibt sich als «Bass Reeves – The Black Marshall of Oklahoma» zu erkennen. Die weisse Gemeinde beschliesst, den korrupten Sheriff nicht wie gewohnt, sofort aufzuhängen, sondern ihn dem Gesetz und dem afroamerikanischen Westernhelden zu überlassen. «Trust the law», liest sich die Schrifteinblendung des Stummfilms. Die Kamera fährt zurück von der Leinwand, auf die der Film projiziert wurde, zu den leeren Sitzreihen eines Kinosaals, in der ein von dem Film hypnotisierter afroamerikanischer Junge sitzt. Seine Mutter spielt die Klavierbegleitung. Der Junge wiederholt die Worte, die er auf der Leinwand sieht. «No mob justice today. Trust in the law.» Die Klavierbegleitung geht von standardisierter Dramatik in Dissonanzen über. Die Klavierspielerin weint. Man hört Sirenen, Lärm, eine Explosion. Das Kino wird gestürmt. Es ist Tulsa Oklahoma am 31.5.1921.

Watchman, die TV-Serie verwendet die Masken der Superhelden als Instrumente der Geschichtsschreibung. Sie historisiert – wie die Comic-Vorlage mit ihrer exzessiven Liter­arizität – nicht nur die Geschichte des Genres, sondern eben auch die Geschichte von Polizei, Gewalt und Rassismus.

In der Tulsa-Gegenwart der Watchmen-Serie sind die Superhelden – nach dem Keene Act von 1977 – weiterhin verboten, aber die Polizei ist befugt, Masken zu tragen. Es sind gelbe Tücher, die an die US Kavallerieuniformen aus den John Ford-Western erinnern. Ihr Gegenbild ist die Rorschach-Maske der Rassistenmiliz. So sind die Geschichten der jeweiligen Pro­tagonisten die Geschichten bestimmter Masken. Die historischen Maskierungen sind mit der Geschichte der Masken in den Watchmen-Comics natürlich nicht unverbunden.

Der kleine Junge am Anfang des Pilotfilms erweist sich in Episode 6 als der Grossvater von Sister Night, der im Jahre 1938, dem Goldenen Zeitalter des Superhelden-Comics, nicht zuletzt wegen seiner Kindheitserfahrungen in Tulsa dem New York Police Department beitritt. Als Polizist verfolgt er eine Verschwörung des KKK und wird von rassistischen Kollegen beinahe gelyncht. Er behält die Insignien des Mordversuchs – die dunkle Kappe und den Strick um den Hals – und verwandelt sie in ein Superheldenkostüm. Er wird «Hooded Justice», einer der Vorläufer der Watchmen, dessen Geschichte gegenüber dem Comic allerdings empfindlich korrigiert wird. Die Serie erzählt nun eine «schwarze» Version der schwarzen Maske. Ihr Leitmotiv: «People who wear masks are driven by trauma.»

Die Maske der Masken jedoch ist – zunächst – nicht schwarz. Doctor Manhattan, der grosse blaue Gott der Watchmen ist stets so nackt wie blau. Über die Jahrzehnte hat er sich – nicht zuletzt aus Liebeskummer – von einem Kalten Krieger zu einem stoischen Weisen gewandelt. In Episode 8 erinnert er sich an die Einsicht von Jacques Lacan, dass man nur nackt sein kann, weil es Masken und Verkleidungen gibt. Zum Soundtrack von Gershwins «Rhapsody in Blue» schlüpft er in einen Anzug und setzt sich konsequenterweise ausgerechnet am Doctor Manhattan Memorial Day, der den seiner Intervention zu verdankenden Anschluss Vietnams an die USA feiert, eine Doctor Manhattan-Maske auf und betritt eine Bar. Er setzt sich zur Sister Night-Figur an einen Tisch, die zu diesem Zeitpunkt noch als Polizistin in Vietnam lebt. Er gibt seine Tarnung auf und behauptet, Doctor Manhattan in einer Doctor Manhattan-Maske zu sein. Ausserdem sei er in die Polizistin verliebt und möchte sie heiraten.

Wie gesagt ist Doctor Manhattan ein allmächtiger Gott, für den demnach Zeit, Raum und Kausalität keinen Sinn ergeben können. Ohne lineare Zeit hat er auch keine Chance, eine konventionell endliche Liebesgeschichte zu erleben, was aber zugleich seine grösste Ambition zu sein scheint. Er gibt daher sein totales «Gedächtnis» zugunsten eines regulär endlichen Gedächtnisses auf und legt die radikale Maske eines normal menschlichen Körpers an. Er verwandelt sich in einen afroamerkanischen Polizistenehemann in Tulsa, Oklahoma. Blueness wird blackness, an nicht zufällig diesem Ort.

Peer Schmitt ist Filmkritiker und Tenniskolumnist der Tageszeitung junge Welt. Er lebt und arbeitet in Berlin.

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