«Ist das noch unsere Welt? – Ist das noch unsere Schweiz?», fragte kürzlich Ueli Maurer mit beachtlichem Pathos und lieferte die Antwort gleich mit. Nein, da laufe etwas schief, wenn man nicht einmal mehr laut sagen dürfe, was man denke, wenn Kritik nicht mehr gestattet sei, ja dass man den Leuten das Denken verbiete, man komme sich vor wie in einer Sekte – «und das in unserer Schweiz, unserer direkten Demokratie!» Vor Corona gab es Greta, meinte er, und die ganze Welt sei dieser jungen Frau aus Schweden nachgerannt, und nun Corona, wo man nichts mehr gegen den Zentral- und Fürsorgestaat sagen könne, dabei müsse doch jeder seine Probleme selber lösen.

Jawohl, Herr Maurer, selber lösen, vielleicht wäre es angebracht, die Kastrationsangst, ausgelöst durch eine junge Frau aus Schweden, in einer Therapie anzugehen, als Selbstzahler selbstredend, wir wollen doch keinen Fürsorgestaat!

Es ist beachtlich, wie sehr sich gewisse Leute bedroht fühlen durch die «Klimajugend», die «Genderrevolution», den «Seuchensozialismus», und mit welch affektivem Gestus sie ihre Angst vor gesellschaftlichem Wandel medial kundtun.

Herr Liebrand, Koordinator des Referendumskomitees gegen die «Ehe für alle» etwa, stand blass im Regen vor der SRF-Kamera, empört angesichts dieser «sehr aggressiven Vertreter der LGBT-Lobby». Vertreter*innen, Herr Liebrand, bitte sehr!

Auch die NZZ fürchtet die «Gender-Revolution». Mit der Tilgung der beiden biologischen Geschlechter durch «gefühlte Identitäten», meint Schuler, sei nicht nur die «klassische Familie als elementare Zelle der bürgerlichen Gesellschaft» und Garant für «gelingendes Leben» bedroht, sondern gar die Reproduktion selbst. Wenn Heteronormativität nicht mehr «gelebte Realität» sei, sterben wir aus, prophezeit der Autor.

Lieber Herr Schuler, wir sterben sowieso bald alle aus, oder glauben Sie etwa Greta nicht?

Folgerichtig besinnt sich die NZZ auf die guten alten fordistischen Zeiten und feiert das zeitlose Pamphlet «der dressierte Mann», in dem der Mann schon vor 50 Jahren zum unterdrückten Geschlecht erklärt wurde. Nur dass Frauen die Männer heute mit «subtileren Erziehungsmethoden» manipulierten: «Die Frauen haben die Hoheit über das Wissen, wie lange gelüftet werden muss und wann das Besteck eine Politur verträgt.» Woher die Autorin dieses Wissen nimmt? «Beobachtung und Erfahrung». Soviel also zu den «gefühlten Realitäten».

Zum Schluss noch ein Fauxpas aus der Kategorie «Gut gemeint, auch daneben.» Das Naturhistorische Museum Bern wirbt für ihre Sonderausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur» mit dem Satz: «Eine Expedition ins bunte Tier- und Queerreich». Auch von da ist es nicht weit zu den Fünfzigerjahren, zum Wanderzirkus, zur Menschenschau. Positive Verklärung des «exotischen» Anderen ist eben auch eine. Aber genug für heute, es grüsst Sie herzlich: Ihre Begriffspolizei.

Anja Nora Schulthess schreibt kulturwissenschaftliche Beiträge, Essays und Lyrik. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». Im Sommer 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag.

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