Der älteste Apfelbaum der Schweiz wurde 1870 im Pfarreigarten in Interlaken gepflanzt, zu einer Zeit also, als noch nicht einmal meine Grosseltern lebten.

Vor vier Jahren wurde er gestützt, weil ein Sturm ihm stark zugesetzt hatte. Er gedeiht immer noch. Davor überlebte er 150 Jahre lang ohne Hilfe, kräftig und vital – und das unter der ständigen Bedrohung von tausenden Generationen von Insekten, Bakterien, Viren, Tieren und Pilzen. Diese hatten sich im Laufe der Zeit auch fortlaufend verändert (mutiert), neu angepasst und neue Strategien entwickelt, um sich vom Baum zu ernähren oder ihn zu schädigen. Ohne Erfolg. Der Apfelbaum überlebte Stürme, Winde, Kälteeinbrüche, Hitzesommer, Überflutungen – am Ort. Er kann bei Gefahr nicht einfach fliehen, wie Tiere oder Menschen.

Um so erfolgreich zu überleben, meinen heute viele Wissenschaftlerinnen und Forscher, braucht der Baum vor allem ein ausgeprägtes Kommunikationsvermögen: zum Beispiel die Fähigkeit, unterschiedlichste Verbündete anzulocken.

Wird ein Apfelbaum etwa von gefrässigen Raupen des Kleinen Frostspanners (Operophthera brumata L.) heimgesucht, lockt er mit einem Duftstoffcocktail Kohlmeisen an. Diese riechen das SOS-Signal des befallenen Apfelbaums und finden so gezielt zu einer reichhaltigen Raupenbeute. Auf den Anblick von angefressenen Blättern reagieren die Kohlmeisen nicht – es ist ganz klar der vom Apfelbaum ausgesendete Duftstoffcocktail. Wird unser Apfelbaum hingegen von Obstbaumspinnmilben (Panonychus ulmi Koch) angegriffen, sendet er ein etwas anderes Duftstoffgemisch aus, mit dem er Raubmilben (Amblyseius andersoni Chant) – natürliche Feinde der Spinnmilben – anzieht. Doch wie merkt der Apfelbaum, wer gerade am ihm frisst? Die Antwort heisst: Am Speichel, der durch die Bisswunde ins Blattinnere tropft. Forschungen an anderen Pflanzen (an Tomaten, Limabohnen oder Tabakpflanzen) haben ergeben, dass die Gewächse an den chemischen Verbindungen des Insektenspeichels schmecken, um wen es sich handelt. Dann ruft der Baum mit Duftstoffen den geeigneten Bodyguard herbei – je nachdem, wer an ihm frisst. Ein grossartiges Kommunikationskunststück!

Alle Bäume, alle Pflanzen kommunizieren mit Duftstoffen. Sie senden SOS-Signale aus, locken so gezielt Nützlinge an, warnen sich aber auch gegenseitig vor einer kommenden Gefahr und koordinieren sogar ihr Verhalten. Bis heute konnten rund 2000 «Duftstoff- Vokabeln» identifiziert werden. Natürlich haben Pflanzen keine Nase, keine Augen; das wäre auch viel zu gefährlich, wenn zum Beispiel eine gefrässige Raupe sich gerade am Geruchszentrum zu schaffen machen würde. Die Sinneszellen – etwa Geruchsrezeptoren oder Photorezeptoren – sind über die ganze Pflanze verteilt. Eine Pflanze, und natürlich auch unser Apfelbaum, riecht, schmeckt, sieht also als ganzes Lebewesen.


Auch unter dem Boden kommunizieren Bäume

Ein Wald besteht oberirdisch gesehen aus einzelnen Bäumen – Buchen, Eichen, Fichten oder Erlen. Unterirdisch ist der Wald zu einem einzigen, hochdynamischen und komplexen Ganzen verbunden. Dieses Netzsystem aus Baumwurzeln und Pilzfäden nennt man Mykorrhiza, was auf Griechisch Pilzwurzel heisst. Fast alle Waldbäume und viele Pilze, zu denen auch Steinpilze, Pfifferlinge oder Röhrlinge gehören, sind Teil dessen. Das Netz von Pilzfäden ist viel grösser als die für uns sichtbaren Pilze über dem Boden. Ein Wald ist also ein einziger, grosser, vielschichtig vernetzter Organismus. In der wissenschaftlichen Literatur wird das unterirdische Netzwerk aus Pflanzenwurzeln und Pilzfäden WWW genannt: Das Wood Wide Web.

Die meisten Krautpflanzen, viele Sträucher und Bäume (auch unser Apfelbaum) bilden ebenfalls unterirdische Mykorrhizanetze mit einer anderen, stammesgeschichtlich sehr ursprünglichen Gruppe von Pilzen, die nicht über dem Boden erscheinen. Bei den Mykorrhizen profitieren im Allgemeinen beide Symbiosepartner, die Pflanze und der Pilz. Die Pilzfäden führen den Pflanzen Wasser und Nährstoffe zu. Die Pflanzen beliefern die Pilze mit Kohlenhydraten, zum Beispiel Zucker.

Interessant ist nun, dass Pflanzen gemeinsam gehegte Netze von Mykorrhizapilzen unter dem Boden darüber hinaus dazu nutzen, um Nährstoffe und sogar auch Informationen untereinander auszutauschen. Eine Pflanze unterhält über dieses Netz also rege Beziehungen zu ihren Nachbarinnen. Das zeigt auch ein Experiment einer Forschungsgruppe um Andres Wiemken an der Universität Basel: In zwei Töpfen wuchs je eine Flachspflanze neben einer Hirsepflanze, einmal mit und einmal ohne Zugabe von Mykorrhizapilzen. Die beiden Pflanzen waren durch ein feines Nylonnetz voneinander getrennt, das zwar von Pilzfäden, nicht aber von Wurzeln durchwachsen werden konnte. In Gegenwart der Mykorrhizapilze wuchs die Flachspflanze neben der Hirse mehr als doppelt so schnell und wurde doppelt so gross wie jene ohne Pilze, während die benachbarte Hirse nur wenig von den Pilzen profitierte. Das Team in Basel konnte nachweisen, dass rund achtzig Prozent des Kohlenstoffs, der in das unterirdische, die beiden Pflanzen verbindende Pilzgeflecht investiert wurde, von der Hirse stammten. Obwohl der Flachs also nur wenig Kohlenstoff zum Aufbau des Pilzgeflechts beitrug, erhielt er den Löwenanteil der Nährstoffe, die der Pilz aus dem Boden den beiden Pflanzen zuführte. Man kann also sagen: Die Hirse fütterte den Flachs – und dies, obwohl Hirse und Flachs gar nicht miteinander verwandt sind! Wieso sollte sie das tun?

In geeigneten Mischkulturen, wie sie früher in der Landwirtschaft gang und gäbe waren, bilden die Pflanzen mit dem Mykorrhizageflecht unter dem Boden eine Art dynamischen Marktplatz, wo jede Pflanze je nach ihren speziellen Fähigkeiten vorübergehend überschüssige Nährstoffe abgeben und gegen solche eintauschen kann, die sie gerade dringend benötigt. Klee zum Beispiel kann Stickstoff liefern, den er dank seiner Fähigkeit zur Knöllchensymbiose mit Bakterien aus der Luft holt und pflanzenverfügbar macht. Pflanzen mit langen Wurzeln wiederum, wie die Luzerne oder Sträucher und Bäume, können bei Trockenheit Wasser aus der Tiefe holen und an das gemeinsame Mykorrhizanetz im fruchtbaren, aber ausgetrockneten Oberboden abgeben. Andere Pflanzen und auch Pilze sind besonders gut im Mobilisieren von unlöslichem Phosphor. Dann gibt es Pflanzen, die bei viel Sonnenlicht und trotz Wassermangel besonders effizient Photosynthese betreiben und demzufolge massenhaft Kohlenhydrate ins gemeinsame Pilzgeflecht investieren können – wie die freigiebige Hirse. Jede Pflanzenart trägt mit ihren besonderen Fähigkeiten dazu bei, das «Gemeingut» Mykorrhizanetz aufzubauen und zu unterhalten, das vielen verschiedenen Pflanzen die Nährstoffaufnahme aus dem Boden erleichtert. Es handelt sich um eine grosse, unterirdisch verbundene Lebensgemeinschaft.


Der verhinderte Gartensalat

Doch können sich Pflanzen über das Mykorrhizanetz auch konkurrenzieren, wie folgendes Beispiel zeigt: Eine Forschergruppe der Freien Universität Berlin setzte eine Tagetes neben einen Gartensalat. Die Pflanzen waren nur durch Mykorrhizanetze miteinander verbunden; ihre Wurzeln berührten sich nicht, und auch über der Erde war der Austausch von Duftstoffen unterbunden. Trotzdem gedieh der Gartensalat neben der Tagetes deutlich schlechter, als wenn er alleine aufwuchs. Die Gruppe wies nach, dass Tagetes pflanzentoxische Stoffe, sogenannte Thiophene, aus den Wurzeln ausschied und über das gemeinsame Mykorrhizanetz in ihrer Umgebung aussandte. Das hinderte den benachbarten Gartensalat am Wachsen.

Eine Pflanze ist also kein isoliertes, passives, «stummes» Wesen. Ganz im Gegenteil: Man könnte sagen, eine Pflanze ist Kommunikation, eine Pflanze ist Beziehung.

Das stellt unser Pflanzenbild vom Kopf auf die Füsse. Für eine Landwirtschaft von morgen tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf. Wir müssten nur die Fähigkeiten der Pflanzen mehr zur Hilfe nehmen: zum Beispiel mit Mischkulturen oder mit Pflanzendüften, die vor einer Raupeninvasion warnen.

Galten Bäume und Pflanzen bisher in der Wissenschaft als mehr oder weniger isolierte «Objekte», die einfach Wasser und Nährstoffe aufnehmen, Photosynthese betreiben und Früchte produzieren; also eine Art fein tarierter «Bio-Automaten», die ihrem genetischen Programm folgten und auf den gleichen Reiz immer gleich reagierten, also als Objekte, die beliebig manipuliert und patentiert werden können, so erscheinen sie heute als kommunikative, differenzierte und stark vernetzte Lebewesen.
Müssten wir da nicht auch unser Verhältnis zu den Pflanzen ganz allgemein neu überdenken? Ihnen mehr Respekt – oder gar Rechte – zukommen lassen? Gibt es auch ihnen gegenüber Verpflichtungen wie bei Tieren? Doch wo liegen diese?

Zusammen mit einer Gruppe engagierter Expert­Innen – Bauern, Philosophinnen, Botaniker, Zell­biologen, Gärtnerinnen – haben wir die «Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen» erarbeitet. Darin versuchten wir, uns der Pflanze behutsam von verschiedenen Seiten her anzunähern und daraus Rechte abzuleiten. Zum Beispiel das Recht, nicht patentiert zu werden wie eine Maschine oder Chemikalie. Wir sind ganz am Anfang dieser provozierenden Diskussion. Erste Annäherungen, erste Metaphern, erste Denkanstösse sind formuliert – das Gespräch um einen respektvolleren Umgang mit Pflanzen ist eröffnet.

Florianne Koechlin ist Biologin, Autorin und Geschäftsführerin des Blauen-Institut. Dieses befasst sich mit neuen Erkenntnissen zu Pflanzen und anderen Lebewesen (insbesondere Pflanzenkommunikation und Beziehungsnetze) und mit zukunftsfähigen Konzepten in der Landwirtschaft. Am 31. März erscheint ihr neues Buch «Von Böden die klingen und Pflanzen die tanzen» im Lenos Verlag.

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