https://mikrotext.de/book/rasha-abbas-die-erfindung-der-deutschen-grammatik-geschichten/

«Schreib auf: Protokoll der von Seiner Durchlaucht Herzog Karl und Seiner Durchlaucht Herzog Ludwig abgehaltenen Tagung zur Erfindung der deutschen Sprache.»

«Und in welcher Sprache soll ich das jetzt aufschreiben? Die Sprache ist doch noch gar nicht erfunden worden, oder?»

«Schreib in einem etwas verkorksten Englisch.»

«Okay. Aber Herzogtümer dürften doch eigentlich auch noch nicht existieren, wenn wir in einer Zeit sind, in der wir noch gar keine Sprache hatten.»

«Du glaubst doch jetzt nicht wirklich, dass du ein Herzog bist? Mein Gedanke war einfach, dass die Leute uns mit Adelstiteln ernster nehmen.»

«Na gut. Wir haben ja bereits ein paar Wörter ins Lexikon geschrieben, von daher wird sich unsere heutige Tagung eher mit der Grammatik der neuen Sprache befassen.»

«Ich schlage vor, dass das Genus jedes Substantivs strengstens festgelegt ist, dass ihm eine entscheidende Rolle im Satz zukommt und dass es sowohl Verben als auch Pronomen und Artikel beeinflusst.»

«Was den letzten Teil angeht, bin ich einverstanden, aber könnten wir die Wörter vielleicht wenigstens so gestalten, dass sie auf ihr jeweiliges Genus hinweisen? Damit es für Ausländer einfacher ist, die Sprache zu lernen?» «Wie? Wörter, die auf ihr Genus hinweisen? Wie soll denn das gehen?»

«Na ja, eben Nomen, deren Geschlecht man von alleine erraten kann. Wie zum Beispiel Apfel. Ein Apfel ist ja wohl ganz eindeutig weiblich. Oder Mond. Ist auch weiblich.»

«Och, du bist aber auch zartfühlend, Eure Durchlaucht Herzog Karl! Ich hätte hier, offen gestanden, gleich wieder einiges gegen deine Vorschläge einzuwenden. Erstens stehen wir gerade noch knapp vor der Erfindung des Genus, das heisst, du kannst gar kein Bewusstsein dafür haben, ausser vielleicht durch Hexerei und Zauberwerk, Stichwort: Häresie. Dein Verhalten macht unsere gesamte Tagung zu einem einzigen dramaturgischen Flop. Zweitens sehe ich keinen Grund, warum wir es uns ausgerechnet zur Aufgabe machen sollten, ausländischen Lernenden die Sache einfacher zu machen. Sehe ich etwa aus wie ein Reisebüro? … Nein, ernsthaft, schau mich bitte mal an. Sag: Sehe ich in deinen Augen aus wie ein Reisebüro? Liegt das vielleicht an meiner koketten Perücke? Wie dem auch sei, ich finde, ehrlich gesagt, dass wir das genaue Gegenteil machen sollten. Ich finde, wir sollten die Wörter absichtlich irreführend in Bezug auf ihr Genus gestalten. Und nur um dich zu ärgern, mache ich den Apfel jetzt maskulin.»

«Ich verstehe das nicht. Wozu diese Verbissenheit? Ist Seine Durchlaucht womöglich ein klein bisschen frauenfeindlich?»

«Wie kommst du denn darauf, Durchlaucht! Aber wir befinden uns nun einmal in einer Zeit, in der das feministische Bewusstsein noch nicht so ausgeprägt ist. Deshalb muss ich mich so verhalten. Lass mich noch eins draufsetzen, das verwirrt die Lernenden noch mehr: Das Wort Mädchen machen wir jetzt neutral und nicht weiblich.»

«Neutral? Werden wir hier jetzt etwa ein drittes Geschlecht einführen? Ich
kann mich nicht daran erinnern, dass wir so etwas ausgemacht hätten. Wozu soll das gut sein?»

«Willst du etwa, dass wir am Ende wie Englisch werden? Wo man, grammatikalisch gesehen, mit einem Tisch genauso umgeht wie mit einem Kind oder einem Hund, ohne den geringsten Unterschied zu
machen? Deswegen habe ich doch die Sache mit dem Genus überhaupt vor-
geschlagen: damit die deutsche Sprache so sensibel wie möglich gegenüber
jedem einzelnen Substantiv ist.»

«Apropos Englisch. Ich wollte dich nur mal darauf aufmerksam machen, dass das Lexikon, das wir gemacht haben, voller Wörter ist, die wie eine lachhafte Verunstaltung des Englischen wirken.»

«Moment … wie war das nochmal: War jetzt historisch betrachtet das Deutsche der Ursprung des Englischen oder umgekehrt?»

«Ich weiss nicht. Wir befinden uns ja auch in einer nicht näher bestimmten Epoche.»

«Das können wir unmöglich so stehen lassen. Von jetzt an werden wir die
Wörter einfach noch irrwitziger vom Englischen ableiten, damit es so aussieht, als machten wir uns über die Briten lustig. Zum Beispiel milk. Wie könnten wir das abwandeln?»

«Keine Ahnung. Vielleicht molk?»

«Nein. So: MILCH. Gott, ich mach mir gleich in die Hose vor Lachen. Stell dir das mal vor: Milch! Wie absurd!»

«Das ist überhaupt nicht lustig.»

«Doch, doch, du hast nur keinen Sinn für Humor. Du hast kein Gefühl für das Groteske an der Sache. Was steht heute sonst noch auf der Tagesordnung?»

«Wir müssen die Tiere noch benennen.»

«Die Nachmittagspause rückt aber langsam näher. Wir werden nicht genug
Zeit haben, für jedes einzelne Tier einen Namen zu finden. Machen wir es mit der Tierbenennung einfach wie bei den Farben.»

«Wie meinst du das?»

«Wie man es eben bei den Farben macht. Es gibt drei Grundfarben, und indem man sie unterschiedlich mischt, erhält man alle restlichen Farben. Und so werden wir es jetzt auch mit den Tieren handhaben. Wir wählen ein paar primäre Tierarten aus und die restlichen Tiere montieren wir einfach daraus zusammen. Für den Hund beispielsweise haben wir doch schon ein Wort, oder? So. Und irgendwann demnächst wirst du bei der Robbe ankommen und dir fällt wieder kein Name ein und dann kommst du bei mir angetanzt und vergeudest meine wertvolle Zeit mit
solchen Lappalien. Stattdessen wirst du das Tier jetzt einfach Seehund nennen und gut ist’s. Das wendest du ab jetzt bei jedem Tier an, das dich überfordert.»

«Na ja, es gibt aber trotzdem noch
eine ganze Reihe Wörter, die komplett neu
erfunden werden müssten.»

«Nein, nein, das ist nicht nötig. Nimm einfach Wortgruppen, die wir bereits erfunden haben, und dann packst du zwei, drei oder sogar vier Wörter in einem Wort zusammen.»

«Gut, einverstanden. Bleiben wir einmal bei diesen zusammengesetzten Wörtern: Woran machen wir denn ihr Geschlecht fest? Am ersten Wort?»

«Nein, das wäre zu billig. Nie die erste Wahl nehmen … Machen wir’s am letzten Wort fest.»

«Okay … Sag mal, noch etwas: Die Konjugationen, die wir letztes Mal erfunden haben, die gelten doch jetzt für alle Verben, oder?»

«Um Himmels Willen, natürlich nicht! Los, erfinde schnell noch ein paar Dutzend unregelmässige Verben, die keinerlei Regelwerk unterstehen, und füge sie unserer Liste hinzu. Und vergiss nicht zu betonen, dass zusammengesetzte Verben meistens geteilt werden müssen, wobei man die beiden Teile dann über den Satz verstreut findet: beispielsweise einen in der Mitte des Satzes und den anderen am Satzende.»

«In Ordnung. Sag mal, haben wir noch ein bisschen Zeit? Es gäbe da noch eine letzte Sache, die wir angehen müssten.»

«Worum geht’s? Und warum wedelst du so mit diesem Zettel herum?»

«Ich habe mir hier drei Artikel notiert. Als Vorschlag für die drei Geschlechter, die wir doch erschaffen wollten.»

«Drei? Wie einfach gestrickt du doch bist, Eure Durchlaucht Herzog Karl. Geh, hol mir einen ordentlichen Stapel Papier aus meinem Büro und folge mir ins Wohn-zimmer. Gerade an diesem Teil werden wir nach der Pause sehr, sehr ausführlich arbeiten. Und diesen kleinen albernen Zettel da kannst du gleich wegwerfen. Wir werden die Artikel so gestalten, dass sie jeden Lernenden restlos entmutigen … Denkst du das, was ich gerade denke?»

«Du meinst, dass wir die Artikel so konstruieren, dass sie, wenn man sie rückwärts liest, den Satz: Träum nicht einmal davon, diese Sprache zu lernen, du bescheuerter Ausländer ergeben?»

«Oh, là, là, wie es scheint, habe ich inzwischen einen wahren Satan aus dir gemacht! Und mir war nichts Fieseres eingefallen, als den weiblichen Artikel je nach Fall zu einem männlichen werden zu lassen. Weißt du, langsam bekomme ich das Gefühl, wir werden ein sehr gutes Team, Eure Durchlaucht Herzog Karl.»


Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl

Rasha Abbas (*1984 in Latakia, Syrien) schreibt Kurzgeschichten und lebt in Berlin. Bisher sind von ihr drei Erzählbände erschienen: ‹Adam hates television› (Generalsekretariat von «Damaskus Kulturhauptstadt der Arabischen Welt», Damaskus, 2008), ‹Die Erfindung der deutschen Grammatik› (Mikrotext Verlag, Berlin, 2016) und ‹Eine Zusammenfassung von allem, was war› (Mikrotext Verlag, Berlin, 2018).
Diese Kurzgeschichte ist dem Band Die Erfindung der deutschen Grammatik von Rasha Abbas in der Übersetzung von Sandra Hetzl, erschienen bei mikrotext, entnommen. Bestellbar als E-Book oder Taschenbuch im Buchhandel oder auf mikrotext.de.

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