Wenn die Literaturkritik nicht längst tot ist, wie oft behauptet, so geht sie doch zuverlässig vor die Hunde. Und selten geschieht dies in der Schweiz auf unterhaltsamere und anschaulichere Weise als im Literaturclub des SRF. Über Literatur wird, wenn überhaupt, am Rande gesprochen.

Stattdessen geht es um Befindlichkeiten («Wie ging es Ihnen persönlich mit dem Buch?»), die ganz grossen philosophischen Fragen («Können Maschinen die besseren Menschen sein?»), die dann meist in einen Relativitäts-Pleonasmus münden («Es gibt keine gewisse Wahrheit darüber»). Das alles wird mit grossen Floskeln («Ein wichtiges Buch – ein Buch mit einem wahnsinnig tollen Gespür für unsere Zeit») in einer Art Pseudostreitkultur ausgetragen, die schliesslich freundlich durch die Feststellung aufgelöst wird, «dass wir uns einig sind, dass wir uns uneinig sind.»

«Sind wir noch Primaten oder schon auf dem Weg in eine künstliche Intelligenz?», fragt Moderatorin Nicola Steiner. Sie kneift dabei die Augen leicht zusammen, um ihrer Aussage mit mimischer Hilfe die nötige Tiefe zu verleihen. Sie habe den Roman über diesen Affen ganz ungern gelesen, meint Kritikerin Nr.1 Elke Heidenreich, darauf Steiner: «Ach, das ist aber schade!» Um ihr Argument zu verdeutlichen, erklärt Heidenreich: Sie liebe Boyle, aber sie habe das Buch nicht gemocht, denn sie könne Affen auf den Tod nicht leiden – sie sei schon als Kind von Affen schreiend weggelaufen. Nach Ausführungen über die jeweiligen Vorlieben zu verschiedenen Tieren dann Steiners dezidiert literarisches Argument: «Also mich hat das schon angesprochen!»

Kritiker Nr. 2 Philipp Tingler will gar ein Paradoxon erkannt haben: Der Autor kritisiere die Vermenschlichung von Tieren dadurch, dass er den Bewusstseinsstrom des Affen sprachlich vermittle. Heidenreich pflichtet bei: «Ich will nicht, dass dem Affen eine Gefühlswelt übergestülpt wird, die eigentlich nur ich kenne.» Das muss man natürlich so stehen lassen, denn was wissen wir schon über Heidenreichs Gefühlswelt.

Also zum nächsten Buch, das sich erneut einer der ganz grossen Fragen widmet: «Wo verläuft die Grenze zwischen Mensch und Maschine?» Heidenreich: «Ein Buch, das ich wirklich gehasst habe. Ich fand das etwas dystopisch und missglückt.» Steiner: «Ich hatte am Anfang auch etwas Mühe, es waren sehr viel technische Begriffe, aber je weiter das Buch fortschreitet – ich fands grossartig!» Tingler findet: «Kitsch.» Steiner: «Nein.» Tingler: «Doch.» Aber sprachlich sei das gut, findet Steiner. «Nein», findet Tingler. «Doch» findet Steiner. Und so geht das weiter, bis man sich darauf einigt, dass man sich uneinig ist, ob man die gleichen Kriterien für gute Literatur auf jedes Buch gleich anwenden könne.

Liebe Leser:inn-en: Haben Sie Ihre ganz persönliche Meinung dazu? Schreiben Sie, posten Sie, kommentieren Sie auf Instagram. Und zum Abschluss, wie in jeder Sendung, ein Gedicht:

totgesagte
leben
länger.

Anja Nora Schulthess schreibt kulturwissenschaftliche Beiträge, Essays und Lyrik. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». Im Sommer 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag.

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