Ich hatte lange Zeit keinen Bezug zum Walensee. Und das, obwohl ich am östlichen Ufer in Walenstadt SG zur Welt kam. Meine damaligen Schulfreundinnen und Schulfreunde hatten es anders: Jeder und jede von ihnen wusste, wer besser den Dialekt des verfeindeten Nachbardorfes Flums nachmachen kann. Sie waren schon früh im Fussballverein, kannten vom Wandern mit den Eltern die Namen aller Churfirsten-Gipfel und jene der Kleinstseen und Flüsschen, die um den Walensees vor sich hin flossen. Sie waren auch in der Damen- oder Jugendriege, die ich lange Zeit wegen der Abkürzung «TV» für einen Fernsehsender statt für einen Turnverein hielt.

Meine Identitätsfindung in der Jugend gestaltete sich komplizierter: Meine Eltern hatten jugoslawische Wurzeln, ein bisschen kroatisch, ein bisschen bosnisch. Der Nachname ist serbisch. Die Grosseltern schwärmten vom verstorbenen kommunistischen Tito («unser Tito»), zelebrierten Gastfreundschaft, luden Unbekannte – selbst die entferntest verwandten Cousins und Grosstanten – zum Spanferkel ein. Ganz im Kontrast zum Sarganserland. Hier lebte man Geselligkeit auf eine andere Art und Weise. Man ging zum Grosi nach Arosa GR, ging mit dem Götti auf die Lüsis ins Bergrestaurant. Im Sommer war man auf dem Camping-Platz. Im Herbst wimmelte man Weintrauben und freute sich auf die Viehschau («Veh» ausgeprochen), wo die «Miss Walenstadt» gewählt wurde. Im Winter holte man sich am Flumserberg den Einheimischen-Rabatt. Alles Dinge, die man nicht kennen konnte, wenn man nicht «en Iheimische» war. Nachfragen war aber nicht erlaubt, man wollte als Nicht-Einheimischer ja nicht auffallen.

Das Sarganserland machte mir Angst, ich spürte die Enge der Berge, die Unruhe des Walensees. Die Lösung kam durch die Politik.

Der Aufstieg einer konservativen Partei brachte mich über Umwege in die Politik und zu einem Jahrzehnt der intensiven pubertären Selbstsuche. So fand ich im Sarganserland und im Walensee eine Heimat und eine Identität, indem ich mich erstmal von meinem Tal, meinem Zuhause entfremdete.

Parolen, Forderungen, Initiativen: Das ideologische Konstrukt einer Partei gab mir sowas wie ein «Identitätsbecken». Ich hatte das Gefühl, Teil von etwas zu sein. Die manipulative Wirkung solcher Bewegungen zog mich fast schon wöchentlich weg vom Walensee-Ufer, in Richtung St. Gallen, wo man in Innenhöfen Transparente malte, sich beim Bier im «Schwarzen Engel» verliebte. Oder in Richtung Zürich und Bern, wo man mit Einsatz und Aktivismus beeindrucken konnte und seine sexuelle Neigung ausleben durfte, ohne diskriminiert zu werden. Ich war jemand dort draussen, vergass jedoch, dass ich Politiker sein wollte und eigentlich kein Volk hatte. Ich hatte Bekannte in der ganzen Schweiz, tausende Freunde auf Facebook – zuhause war ich aber ein niemand: Wie konnte ich die erlernten Parolen umsetzen, wenn mich dann niemand wählen wollte?

Der verstorbene Autor Fritz René Allemann beschrieb in seinem 1965 erschienenen Werk «25 mal die Schweiz» den Kanton St. Gallen als «Haus der vielen Häuser». Ich wusste, wie die Leute im Rheintal schwätzen, wie offen die Agglomeration rund um die Kantonshauptstadt war, wie farbig die volkstümliche Kultur im Toggenburg war. Von meinem eigenen Zuhause hatte ich aber nicht einmal mehr eine Ahnung.

Ich kannte den Kanton St. Gallen wie kaum jemand in meinem Alter. Ich kannte sämtliche Bahnstationen auf den beiden Strecken in die Hauptstadt, sei es durch den Rickentunnel oder durchs Rheintal. Ich spürte, dass der Walensee sowas wie ein Gegenstück, ein Antipod, zu all den Städten war, wo ich mich lange Zeit wohlfühlte. Ich spürte, wie lächerlich ich wirken würde, wenn ich in Walenstadt irgendetwas fordern wollte – aber keinen Blassen hatte, wie die historischen Strukturen hier waren. Und von denen gab es viele.

So lernte ich etwa, dass das Sarganserland eine grosse Abneigung gegen alles hatte, was aus St. Gallen kam. Jahrhundertelang waren die Bewohner der Gemeinden zwischen dem Walensee und Sargans Untertanen. Die Befreiung durch die Schaffung der Helvetischen Republik, in der wir zum Kanton Linth gehörten, galt nur kurz. Umso grösser war der Frust, als das Sarganserland ab 1803 zum Kanton St. Gallen gezwungen wurde: «Wir» fühlten uns ausgebeutet von denen in der Hauptstadt, die sich mit unseren Steuern teure und moderne Infrastruktur leisteten. Die Abgaben waren so riesig, dass das verarmte Volk bald nicht mehr bereit war, die Schulden zu begleichen.
Die Kantonsregierung in der Hauptstadt hatte keinen blassen Schimmer, wie wir tickten: Die Bürokraten forderten 1812, dass sich das Städtchen Sargans nach einem verheerenden Brand woanders ansiedeln sollte. Und in Walenstadt, wo Waren aus Graubünden, Italien oder Österreich auf Schiffe für den Transport in Richtung Norden verladen wurden, provozierte die Kantonsregierung, als sie das Transportwesen drei Privatpersonen übergab. «Jetzt nimmt uns die Kantonshauptstadt noch die Arbeit weg!», würde ein moderner Wutbürger wohl sagen. Die Wut war gross, der Revolutionswille riesig. Im Mai 1814 war das Fass voll: Die Gemeinden entschieden über einen Antrag, dass man sich vom Kanton St. Gallen trennt und den Anschluss an Glarus wünscht. Man versprach sich «lauter Wohlstand, Freiheit und Segen!» Das passte selbst-verständlich nicht allen, sogar die Glarner fragten sich, ob sie die Revolutionäre vom Walensee wirklich wollen.
Es kam, was kommen musste: Chaos. Das Sarganserland wurde gar militärisch besetzt. Der Anführer der Trennungsbewegung scheiterte.

Historiker bewerten die damaligen Geschehnisse mit Blick auf die jahrhundertelange Ordnung, die in den Gemeinden am Walensee herrschte. Sie vermuten, dass der «selbstherrliche Geist» am Walensee dazu führte, dass viele sich vom weit entfernten St. Gallen abspalten wollten. Dieser Geist sei ausgerechnet in der Zeit entstanden, als das Sarganserland und die Gemeinden am Walensee Untertanen waren: Sie galten zwar als Unterdrückte, doch hatten sie viele Freiheiten und Möglichkeiten, demokratisch mitbestimmen zu dürfen.

Dieser selbstherrliche Geist blieb den Bürgern am Walensee
erhalten. Er kam wieder auf 1847, als sich die neue Schweiz als Bundesstaat formen wollte. Die Gründung der modernen Schweiz stand auf der Kippe, weil sich Katholisch-Konservative zum «Sonderbund» zusammengeschlossen hatten. Ihre Gegner waren die liberalen Kräfte: Sie wollten den Sonderbund als illegal erklären und ihn notfalls mit Gewalt auflösen. In der Tagsatzung, wo sich alle Kantone schweizweit trafen, fehlte den Liberalen jedoch eine Stimme. Der Kanton St. Gallen spielte damals eine hochdelikate Rolle: Er hatte sich zunächst nicht entschieden, ob er mit den Liberalen gehen oder dem Sonderbund beitreten wolle. Man vermutete, dass sich St. Gallen den Katholisch-Konservativen anschliessen werde. Doch
zur grossen Überraschung aller, entschied eine Versammlung in Schänis SG, unweit vom Walensee, dass man auf die liberalen Kräfte setzen wolle.

Ohne diesen Entscheid gäbe es die moderne Schweiz nicht. Der Entscheid war jedoch umstritten, die Gegner schimpften gar, dass man die Kirchenuhr verstellt hätte, damit die Katholisch-Konservativen aus der Gemeinde Amden SG oberhalb des Walensees zu spät an die Versammlung kommen würden.

Als ich diese Geschichten las, fing mir mein Zuhause an zu gefallen. Meine Heimat – ein Tal von Kämpferinnen und Kämpfern!

Diese rote Linie des «Kampfes», der nicht unbedingt eine bestimmte Marsch-Richtung hatte, fällt mir seither immer wieder auf: Das völlig verarmte Sarganserland baute sich rasch eine grosse Textilindustrie auf. 300 bis 500 Stellen wurden in den Gemeinden Mels, Flums, Walenstadt, Murg geschaffen – nicht insgesamt, sondern in jeder Gemeinde. Und als sie Jahrzehnte später gestrichen wurden, reagierte man mit Streik.
Auch politisch war man kämpferisch: In der Kriegszeit gab es zwar auch im Sarganserland Fremdenfeinde, in Walenstadt wurde gar eine Faschisten-Vereinigung von italienischen Migranten zunächst toleriert. Geschichtsschreiben berichteten aber von mehreren Schlägereien: Die Einheimischen verprügelten die italienischen Faschisten in Walenstadt und Flums «wegen Meinungsverschiedenheiten».

Es sind die kleinen Dinge, die bis heute an den Kämpfergeist erinnern: Der Dialekt, der eher zentralschweizerisch und bündnerisch daher kommt und sich völlig vom schweizweit bekannten St. Gallerdeutsch unterscheidet, blieb bis heute bestehen, weil man nicht viel von den Städten im Norden des Kantons hielt.
Oder die alten Spinnereien, die grossen Wohlstand brachten: Sie gingen zwar ein, doch junge kreative Macherinnen und Macher entwickelten sie weiter zu Kulturzentren, Wohnungen und gar Schulräumen. Sie blieben bestehen, weil man sich fast schon «selbstherrlich» nicht damit abfinden wollte, dass sich etwas auch in eine schlechte Richtung entwickeln kann. Der Kämpfergeist besteht auch im Tourismus, der mutig Neues entwickeln wollte: So kämpfte man lange für die eigentlich wahnwitzig anmutende Verlängerung einer S-Bahnlinie vom Zürcher Flughafen nach Unterterzen. Ein abgelegenes Quinten wäre schliesslich an einem anderen Ort auf der Welt längst ausgestorben, wenn man die Bedeutung eines solch geografischen Schatzes nicht erkannt und sich für seinen Fortbestand eingesetzt hätte.

Petar Marjanovic ist Journalist und schreibt derzeit für den Blick. Und die Fabrikzeitung.

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