Der Schnee wollte nicht aufhören runterzubröseln. «Wir werden uns den Weg wohl freischaufeln müssen», stellte Jürgen «Jay» fest. Derweil fantasierte Carl, was Lenin wohl im plombierten Eisenbahnwaggon, in dem er in einer siebentägigen Reise nach St. Petersburg geschickt wurde, mit seiner Reisegruppe angestellt hatte (32 Personen). «Darüber möchte ich einen Roman lesen. Aber die deutsche Literatur leidet doch durchs Band an Ladehemmung…» «…‹Die Reise Lenins: Rudelbums in sieben Tagen› mit einem Vorwort von Egon Krenz…», warf ich ein. «Da flattert den Klugscheissern von der FAZ der Frack…» Wir hockten in einem Spunten in Güllen, den noch der Almöhi persönlich eingerichtet haben könnte. Es gab Fleisch. Roh auf Toast mit Calvados und Kapern.

Was mir bei den deutschen Beat-Autoren als erstes auffiel: dieser reaktionäre (damals, aus meiner Sicht) Proamerikanismus. Heute sehe ich, es gab da mal Zukunft zwischen den Sternen und den Streifen.

Literatur ist Krieg, wie auch Black Metal Krieg ist. Da geschieht erstmal lange nichts, dann schnell viel und wieder lange nichts. Die Verbindung mit der Aussenwelt war seit Stunden abgebrochen, der Strom drohte jeden Moment auszufallen, bloss das Holz im Kamin knisterte froh in der stillen Nacht. Jay versuchte die Serviertochter aus Chemnitz auf den Heuboden zu bekommen, die sich vorerst aus blosser Freude zierte.

Sie kommen aus der Vergangenheit und schreiben die Zukunft. Der Realitätscode ist hart zu knacken und umzuschreiben. Man glaubt, man hätte es geschafft, dann ein Flackern und alles wie immer. Es erinnert an das Schreiben auf den ersten Personalcomputern. Word stürzt unvermittelt ab, nichts gespeichert, zurück auf weisses Blatt. Nach einer halben Stunde wieder. Maschine überhitzt, Sanduhr, weisses Blatt.

Die Brigaden der Replikantinnen hatten uns fast freigeschaufelt, als ein heftiger Wind einsetzte. Schneedünen. Eine Wüste so weiss und kalt wie die Seele Richard Nixons. Im Kamin bei uns drinnen glimmten die Kohlen wie kleine schwarze Schädel.

Die Zukunft flackert im 60er-Jahre-Design. Die Replikantinnen sind nackt mit buschiger Scham. Aus den Lautsprechern, aus denen früher die Reden des ehemaligen Oberjuhee krosten, dröhnt auf Endlosschlaufe «My Boy Lollipop».

Das Weiss wollte nicht aufhören runterzubröseln. Ein biomechanischer Möchtegernwilhelmtell startete einen Angriff auf die schneeschorenden Replikantinnen. Unter die Stümpfe seiner Beine hatte er zwei Armbrüste geschraubt, sein Arm mündete in etwas, was man als überdimensioniertes Schweizer Sackmesser auffassen könnte. Die Ladys schlugen ihn mit ihren Schaufeln tot wie einen Köter und schmissen uns seinen Körper vor die Füsse. Der Geist von Fritz Dürrenmatt machte den Grill an und sang beschwingt: «You make my heart go giddy up / You are as sweet as candy». Carl der Fleischer bereitete den käsig bleichen Attentäter fachmännisch für den Ofen vor.

Lenins Bluestfahrt. Menschen, die nur noch Fleisch und Löcher sind. Der Speisewagen mit den getrockneten Sperma-, Sekret- und Sektflecken wurde später im Lenin-Museum in Chemnitz einer interessierten Öffentlichkeit zur Schau gestellt. «You’re my sugar dandy / Ho, ho, my boy lollipop.»

Carl war bei seiner Zeit als Regieassistent bei Warhols «Dracula»angelangt. «Du musst dein Leben ändern», erzählte er zwischen zwei Bissen mit dunklem Timbre, «hiess in der Erstfassung: Du musst dir die Kugel geben.»

Lenin griff sich an die Arschbacken und spreizte sie auseinander. Ihm wurde schwarz. Staubfontänen durchzuckten sein Hirn. Die Revolution sackte ins Nichts. Weisse Nächte bei Schwarzbrot und Tee. Er spürte diesen Kitzel in der Wirbelsäule. Ein weisses Licht, das hinter einem aufreissenden Fleischvorhang hervorschoss. «Never ever leave me / Because it would grieve me».

Sie kommen aus der Vergangenheit und schreiben die Zukunft. Der Realitätscode ist hart zu knacken und umzuschreiben. Man glaubt, man hätte es, dann ein Flackern und alles wie immer. Burroughs verliess nach dem Schreibakt jeweils seine Londoner Wohnung an der Duke Street No. 8, um nachzusehen, ob sich die Realität bereits verändert hatte.

Unterwegssein ist alles. Maul halten und den Mond über sich ergehen lassen. Die Werwölfe in New York City, die Raben, die um die verrotteten Reste Europas keifen.

Der Tell ist aussen bereits verkohlt, aber Dürris Geist schwört darauf, dass er innen köstlich sei, wenn man ihn aufbreche.

Wir schlugen ihm mit einer Axt den Brustkorb auf und kratzten das saftige dampfende Fleisch und die Organe heraus. Den Darm hängten wir quer durch den Raum, wie eine lustige Girlande. Es war ein regelrechtes Gaudi, bis Dürri die zerhackte Leber auf karamellisierten Apfelschnitzen servierte. Nach diesem Mitternachtssnack verschwand Jay mit der Kellnerin und Carl halluzinierte weiter von Lenin. Florian zog einen durch, während ich unter einer gelangweilten Wintersonne in den Schnee hinauswankte, an den kahlgeschorenen, nur an der Scham behaarten Replikantinnen vorbei.

Der Realitätscode schien auf Random geschaltet, die Umgebung veränderte sich unablässig. Tropisch, arktisch, bergig, flach. Es war ein einziges Schnittgewitter – wie ein Film, der doch lieber als Strobo gelesen werden will. Einmal schaukelte ich sogar kurz in gemütlich warmen Wellen. Das System spreizte seine Arschbacken und daraus erschien die Sonne. Ich schwöre, sie hatte dieselbe Fresse wie bei den Telletubbies.

Ein Bauernschwank auf dem Ballenberg: Burroughs als Ostdeutsche Serviertochter, Willy Tell in Stützstrümpfen, eine unfassbar dicke Frau wird in einer Badewanne aus dem Zug getragen und ausgekippt. Dazu unablässig: «You make my heart go giddy up».

Wortsturz. Bildsturz. Die Wüste reizt mit ihren Sekreten, die Revolution glimmt wie ein roter Schädel, Lenin zieht sich eine Calvadosflasche aus dem Arsch. Ein Fischer zieht die Alkoholvorräte, den Marlboro-Mann, die Opioide aus den Sternen und Streifen – und übrig bleibt nichts. Zeit, die Fleischvorhänge freizuschaufeln. Zeit, den nekrophilen Wärter dieses Erinnerungsfriedhofs in den Ruhestand zu schicken.

«Pablito! Alles klar bei dir?!»

Florian hämmert an die Tür des Klos der Pilo-Bar in Tanger (oder ist es nur ein Vorhang und er ruft von der Bar her?). Aziz, der Kellner, eleganter als jeder Wiener Servierboy, kippt mir kaltes Wasser ins Gesicht.

«Jaja, brauche bloss noch ’n Stork. Harte Scheisse, die ihr da raucht.»

Zwei junge Typen kommen in die Bar und setzen sich zu uns. Florian kennt sie von einem Beat-Kongress in Paris.

«Das sind Jay und Carl, Pablito. Von denen werden wir noch lesen.» Der Screen, der bis eben die futuristische Bassistin von Cheb Khaled zeigte (Kopf rasiert und Space-Anzug), flackert zwischen weissen Blitzen und gibt den Blick auf eine Schwarzweiss-Aufnahme frei. Eine junge Frau mit Käppi singt zwischen zappelnden Stewardessen «My Boy Lollipop».

Pablo Haller (*1989), Autor und Co-Verleger des Verlags Der Kollaboratör (Luzern), Musiker (Ron y Ruido), Performer und Reisender. Haller interessiert sich für die Ränder des Zeitgeschehens und schreibt momentan an seinem ersten Roman ‹Die Rückkehr›.

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